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Full text of "Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen mit besonderer Berücksichtigung der Homosexualität. II. Jahrgang."

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Jahrbuch 

für sexuelle Zwischenstufen. 

II. Jahrgang. 



I 



Rosa Bonheur (nach der letzten Photographie), 
berühmte französische Tiermalerin, verstorben im Mai 
1899, seelisch und körperlich ausgesprochener Typus 
einer sexuellen Zwischenstufe. 



Jahrbuch 

für 

sexuelle Zwischenstufen 

mit besonderer Berücksichtigung der 

Homosexualität. 

Herausgegeben 

unter Mitwirkung namhafter Autoren 

im Namen des 
wissenschaftlich-humanitären Comitöes 

von 

Dr. med. Magnus Hirschfeld, 

prakt. Arzt in Charlottenburg 

II. Jahrgang. 



Leipzig 

Verlag von Max Spohr, 
1900. 



Inhalts- Verzeichnis. 



Die Behandlung der Homosexualität von Dr. Albert 

Moll-Berlin 1 

Schlitzt § 175 RechtsgilterV 30 

Ein bisher ungedrucktes Kapitel Uber Homosexualität aus 
der Entdeckung der Seele von Prot Dr. Gustav 

Jäger-Stuttgart 53 

Päderastie und Tribadie bei den Tieren auf Grund der 

Literatur von Prof. Dr. Karsch-Ber lin . . . 126 

Säugetiere (Mammalia) 127 

Vögel (Aves) 130 

Lurche (Amphibia) 136 

Insekten (Hexapoda) 136 

Spinnentiere (Arachnoidea) 149 

Literatur 155 

Urteile römisch-katholischer Priester über die Stellung des 
Christentums zur staatlichen Bestrafung der gleich- 
geschlechtlichen Liebe. Erklärungen römisch- 
katholischer Priester 161 

Welche Stellung hat die christliche Kirche zu der gleich- 
geschlechtlichen Liebe und ihrer staatlichen Be- 
strafung einzunehmen? Von einem evange- 
lischen Theologen 204 

Die Frauenfrage und die sexuellen Zwischenstufen von 

Dr. phiL Arduin-Berlin 211 

17 Fälle von Koinoidenz von Geistesanomalien mit Pseudo- 
hermaphroditismus von Dr. Franz v. Neugebauer- 

Warschau 224 

Michel Angelo's Urningtum von Dr. jur. N. Prätorius . 254 
Georges Eekhoud. (Vorwort.) 268 



- ti - 

Ün illustre uraniste du XVHe. sieole J6rdme Duquesnoy 

par G. Eeckhoud-Brtissel 27? 

David und der heilige Angnstin, zwei Bisexuelle . 288 

Aus dem Leben eines Homosexuellen, Selbstbiographie . . 295 

Ein Fall von Effemination mit Fetischismus .... 324 
Die Bibliographie der Homosexualität .für das Jahr 1899, 
sowie Nachtrag zu der Bibliographie des ersten 

Jahrbuchs von Dr. jur. N. Prätorius . 845 

Zeitungsausschnitte 446 

Aufruf 475 

Abrechnung 479 



Die Behandlung der Homosexualität 



von 

Dr. Albert Moll (Berlin). 

Die Frage einer ärztlichen Behandlung des gleich- 
geschlechtlichen Triebes ist im Laufe der letzten Jahre 
oft erörtert worden. Die frühere Meinung, dass man von 
jeder Behandlung absehen solle, hat dabei immer mehr 
Anhänger verloren, ohne dass aber hinsichtlich aller ein- 
schlägigen Fragen eine Uebereinstimmung erzielt worden 
wäre. Die früher vielfach angenommene Unmöglichkeit^ 
den homosexuellen Trieb in einen heterosexuellen zu ver- 
wandeln, hat jedenfalls angesichts einer ganzen Reihe 
von Erfahrungen der letzten Jahre ihre Berechtigung 
verloren. Am meisten Abneigung gegen eine Behand- 
lung findet man wohl bei den Homosexuellen selbst. 
Wollte man eine Abstimmung in den Kreisen der Homo- 
sexuellen — sowohl der Männer als der Frauen — ver- 
anstalten, so würde sich eine überwiegende Majorität 
gegen die Behandlung aussprechen. Die meisten Homo- 
sexuellen sind weder geneigt, ihren Trieb als einen krimi- 
nellen oder unsittlichen noch als einen krankhaften hin- 
zustellen, und eine gewisse Anerkennung der pathologischen 
Natur ihres Triebes würde anscheinend in der Forderung 
ärztlicher Behandlung liegen. Vergessen wir aber nicht, 
dass bei den Homosexuellen dieselbe Erscheinung be- 
obachtet werden kann, die man so oft im Leben findet, 
dass nämlich jeder sich nach seinem individuellen Stand- 

Jahrbuch IT. 1 



punkt die Welt zurecht legt. Eine wirkliche Objektivi- 
tät ist eine seltene Erscheinung. Objektivität ist aber 
notwendig, um möglichst vielen gerecht zu werden. Selten 
ist jemand dazu geneigt, seine eigenen Handlungen für 
krankhaft oder verwerflich zu halten und ihre moralische 
oder gerichtliche Verurteilung als berechtigt anzusehen. 
Man sucht allerlei Gründe heraus, um zu beweisen, dass 
der eigene Standpunkt der richtige sei, und dies ist auch 
mit den Homosexuellen der Fall. 

Es werden von Homosexuellen Analogien hervor- 
gesucht, um zu beweisen, dass ihr Zustand nichts Krank- 
haftes sei. Man weist darauf hin, dass es auch bei den 
Thieren solche gebe, die unfruchtbar und doch nicht 
krank sind, beispielsweise unter den Bienen. Die Natur 
habe, so schliessen diese Leute, vielleicht einen bestimmten 
Zweck im Auge gehabt, indem sie den Homosexuellen 
ihren Trieb gab, ebenso, wie sie eine Absicht gehabt 
habe bei den sich nicht fortpflanzenden Bienen. Indessen 
darf man mit solchen Analogien nicht zu weit gehen. 
Was für die Tiere gilt, braucht nicht für den Menschen 
zu gelten. Der Umstand, dass die Natur eine bestimmte 
Absicht gehabt habe bei der Schaffung der Homosexuellen 
spräche an sich auch gar nicht gegen den Begriff der 
Krankhaftigkeit. Es ist gerade in der neueren Zeit viel- 
fach die Meinung geäussert worden, dass die Unfrucht- 
barkeit mitunter für einen bestimmten Zweck recht vor- 
teilhaft sei, trotzdem aber als krankhaft angesehen werden 
müsse. Das Studium der Entartung hat ergeben, dass 
sich bei den Nachkommen von Nervenkranken mitunter 
die Störungen der Vorfahren in erhöhtem Grade bemerk- 
bar machen, und dass schliesslich in der zweiten oder 
dritten Generation die Entartungserscheinungen so sehr 
zunehmen, dass damit auch eine Zeugungsunfähigkeit 
einhergeht. Eis stammt etwa von einer hysterischen 
Mutter eine Tochter, die in späteren Jahren geisteskrank 



— 3 — 



wird, und diese Tochter zeugt ein idiotisches Kind, bei 
dem eine Fortpflanzungsmögliehkeit überhaupt nicht be- 
steht. Es wird angenommen, dass die Natur in solchen 
Fällen gewissermaßen eine Selbstkorrektur vornimmt, 
um pathologische Individuen an der Fortpflanzung und 
Weitervererbung ihrer für die Menschheit schädlichen 
Eigenschaften zu verhindern. Daraus geht schon hervor, 
dass etwas für die Allgemeinheit zweckmässig, trotzdem 
aber beim Individuum krankhaft sein kann. Wenn also 
auch die Natur bei den Homosexuellen ebenso eine Ab- 
sicht gehabt hat, wie bei der Schaffung nicht fortpflanzungs- 
fähiger Bienen, so folgt daraus noch gar nichts gegen 
die Krankhaftigkeit dieser Affektion. 

Auch der von psychiatrischer Seite gemachte Ein- 
wurf, dass die Homosexualität an sich gar nichts Krank- 
haftes sei, da sie sich bei vielen durchaus normalen 
Schülern fände, entspringt einer irrtümlichen Auffassung. 
Eine Erscheinung, die im Alter von IG, 17 Jahren nicht 
krankhaft zu sein braucht, kann bei einem dreissigjührigen 
Manne krankhaft; sein. Ein geistiges Niveau, das bei 
einem dreijährigen Kinde normal ist, werden wir als 
krankhaft ansehen müssen, wenn wir es bei einem zehn- 
jährigen finden, und ähnlich liegt es mit homosexuellen 
Erscheinungen. In der Zeit der frühen Jugend, d. h. der 
des nicht differenzierten Geschlechtstriebes, über die ich 
noch sprechen werde, kann es in der That vorkommen, 
dass homosexuelle Erscheinungen auftreten, die man nicht 
als etwas Krankhaftes anzusehen braucht. Ich betrachte 
aber die ausgesprochene Homosexualität des erwachsenen 
Individuums als eine durchaus pathologische Erscheinung. 

In neuerer Zeit ist vielfach versucht worden, die 
Homosexualität mit der Hermaphrodisie in Verbindung 
zu bringen, indem man darauf hinwies, dass die Rudi- 
mente weiblicher Geschlechtsorgane auch beim Manne, 
die Rudimente männlicher Geschlechtsorgane auch beim 

1* 



Weibe uuter normalen Verhältnissen vorhanden sind. 
Man hat nun, auf die Keimanlage zurückgehend, hieraus 
weitere Schlüsse auch für die Homosexualität zu ziehen 
gesucht, indem man sie auf die abnorme Entwicklung 
einer Keimanlage zurückführte, die 'sonst latent bliebe. 
Nach dieser Theorie, wird angenommen, dass jeder Mann 
nicht nur die Keimanlage für weibliche und männliche 
Geschlechtsorgane habe, sondern auch für beide Arten 
des Triebes, das heisst für den zum Manne und den 
zum Weibe. Bei dem normalen Manne blieben aber die 
weiblichen Geschlechtsorgane nur rudimentär und ebenso 
entsprechend der auf den Mann gerichtete Trieb , bei dem 
homosexuellen Manne hingegen entwickele sich im 
Widerspruch mit der peripheren Ausbildung der Ge- 
schlechtsorgane der Trieb zum Manne, der normaliter 
nur latent sei. Umgekehrt läge die Sache beim Weibe, 
wo die männlichen Geschlechtsorgane als Rudiment vor- 
handen sind, während sich beim homosexuellen Weibe 
der Trieb zum Weibe abnormer Weise ausbilde. 

Wenn wir uns auf diesen Standpunkt stellen, 
werden wir die grosse Verwandtschaft, die die Homo- 
sexualität mit gewissen Missbildunge n bietet, aner- 
kennen müssen. Ein Mensch, der an den Geschlechts- 
teilen äusserlich wie ein Weib gestaltet ist, aber dabei 
männliche Hoden hat, wird von uns nicht in dem 
gewöhnlichen Sinne als krank bezeichnet werden. 
Wohl aber fassen wir derartige Missbildungen unter 
dem viel weiteren Begriff des Krankhaften oder 
Pathologischen zusammeu, und wir werden gerade solchen 
Missbildungen die Homosexualität an die Seite stellen 
müssen. Die Disharmonie des Geschlechtstriebes und der 
Geschlechtsorgane bietet die grösste Verwandtschaft mit 
den Missbildungen dar. Es ist auch bereits die Homo- 
sexualität aus diesem Grunde mit der Zwitterbildung 
verglichen worden, ja von Eduard von Hartmann 



ist sogar der Name Leibseelenzwitter für diese Erscheinung 
gebraucht worden. 

Der Begriff der Krankhaftigkeit wird mitunter da- 
von abhängig gemacht, ob etwas angeboren oder erworben 
ist, und gerade für das Geschlechtsleben wird hierauf 
besonderes Gewicht gelegt. Man will offenbar Zustände, 
die durch grobe Unsittlichkeit und Ausschweifungen ent- 
standen sind, nicht mit jenen, die auf einer angeborenen 
Disposition beruhen, auf eine Stufe stellen. Nehmen wir 
an, dass ein Mann nur Neigung zu unreifen Kindern hat, 
und dass ihn allerlei Ausschweifungen zu dieser Neigung 
gef ührt haben. Man ist in solchen Fällen nur zu leicht 
geneigt, den Betreffenden, wenn er sich an einem Kinde 
vergreift, als einen Lüstling, nicht aber als einen patho- 
logischen Menschen anzusehen. Indessen kann ich diese 
Auffassung nicht für ganz richtig halten. Wenn eine 
bestimmte Erscheinung da ist, so kann der Begriff der 
Krankhaftigkeit nicht davon abhängen, wie sie entstanden 
ist. AVenn ich einen Menschen habe, der blödsinnig ist, 
so ist es für die Zurechnung zum Krankhaften gl eichgiltig, 
ob bei dem Betreffenden der Blödsinn angeboren oder 
sonstwie entstanden ist. Der Begriff des Erworbenen 
wird gern mit dem Begriff der Verschuldung zusammen- 
gebracht, und damit w T ird ein Moment in die ärztliche 
Wissenschaft hineingetragen, das eine moralische, vielleicht 
auch eine forensische, jedenfalls aber keine ärztliche Be- 
deutung hat. Es mag mir jemand, der eine angeborene 
Krankheit hat, sympathischer sein als ein mit einer er- 
worbenen Krankheit behafteter, weil er sie nicht selbst 
verschuldet hat. Die Krankhaftigkeit des Zustandes darf 
aber nicht nach einer derartigen Sympathie oder Anti- 
pathie beurteilt werden. Die Differenzen über die Frage 
ob die Homosexualität eine angeborene oder erworbene 
Erscheinung ist, haben also für die Frage ob sie krank- 
haft ist oder nicht, keine Bedeutung. 



Ich sprach bereits früher von den Beziehungen der 
Homosexualität zu den Missbildungcn. Diese Erörterungen 
sind auch für die Frage der ärztlichen Behandlung von 
grosser Bedeutung. Denn selbst diejenigen Homosexuellen, 
die sich nicht als krank betrachten, werden dann in der 
Notwendigkeit einer ärztlichen Behandlung keineswegs 
etwas zu sehen brauchen, was ihre Krankheit bewiese. 
Man braucht sich dann darüber nicht erst langen Dis- 
kussionen hinzugeben, da ja auch Menschen, die nicht in 
dem gewöhnlichen Sinne des Wortes krank sind, oft 
genug einer ärzlichen Behandlung bedürfen. Jemand, der 
eine angeborene Hasenscharte hat, ist nicht krank; aber 
die Hasenscharte ist als etwas Krankhaftes anzusehen, 
und jedenfalls sind die sozialen Schädigungen durch eine 
solche Missbildung derartig grosse, dass der Betreffende 
gern von seiner Missbildung befreit sein möchte. Wir 
können bei der Homosexualität etwas Aehnliches fest- 
stellen. Der Betreffende ist durch die Homosexualität 
oft ganz erheblich sozial geschädigt; ob mit Recht oder 
mit Unrecht, soll hier nicht untersucht werden, ebenso- 
wenig, wie es untersucht werden soll, ob jemand, der 
eine Hasenscharte hat, deshalb die Schädigung mit Recht 
erfährt. Jedenfalls besteht diese, ohne dass der Betreffende 
sie irgendwie verschuldet hätte. 

Wenn wir dies berücksichtigen, werden wir auch aus 
rein ausser! ichen Gründen die Frage einer Behandlung 
der Homosexualität in Erwägung ziehen müssen, und 
zwar zunächst ganz unabhängig davon, ob diese krank- 
haft ist oder nicht. Thatsächlich ist der Homosexuelle 
heute zahlreichen Gefahren ausgesetzt. In den meisten 
Kreisen der Heterosexuellen wird schliesslich die Homo- 
sexualität oder vielmehr der homosexuelle Geschlechts- 
verkehr als etwas besonders Unsittliches angesehen. Der 
Betreffende ist in den meisten Kreisen, wenn sein Ver- 
kehr bekannt wird, sozial geächtet. Auch Männer, die 



im heterosexuellen Verkehr die perversesten Handlungen 
für erlaubt halten und selbst ausführen, erblicken in dem 
homosexuellen Verkehr von Männern oder auch von 
Frauen etwas Verdammenswertes. Sogar in den Kreisen 
der prostituirten Frauen, wo die Homosexualität stark 
blüht, wird der homosexuelle Verkehr geächtet, und manche 
Prostituirte sucht ihn Anderen gegenüber zu verschweigen, 
bloss aus Furcht, sonst besonders vei achtet zu werden. 
Teilweise hat sich zwar in den Ki eisen gebildeter Männer 
der Abscheu gegen den homosexuellen Verkehr im Laufe 
dor letzten Jahre, und zwar auf Grund der wissenshaft- 
lichen Forschungen, etwas gemindert, aber bei der Masse 
des Volkes besteht er zweifellos nach wie vor. 

Wir haben ferner mit der Thatsache zu rechnen, 
dass mancher homosexuelle Verkehr immer noch unter 
Strafe gestellt ist, so dass hieraus für den Homosexuellen 
besondere Schwierigkeiten hervorgehen. Von dieser 
Furcht vor Strafe oder gesellschaftlicher Aechtung leben 
eine ganze Anzahl Menschen, die die Angst der Homo- 
sexuellen zu allerlei Erpressungen benutzen. Mehrfach 
ist bereits ein vollständiger Vermögensverlust Homo- 
sexueller dadurch herbeigeführt worden. Diese fort- 
währenden Aufregungen, die die Furcht vor Erpressungen 
Strafen u. s. w. mit sich bringt, sind natürlich auch in 
gesundheitlicher Beziehung nicht gleichgültig. Manche 
neurasthenische Erscheinung, die sich bei Homosexuellen 
findet, darf auf diese beständigen Erregungen zurückge- 
führt werden. Zwar gehen viele nervöse Symptome aus 
der allgemeinen neuropathischen und psychopathischen 
Konstitution einer grossen Zahl Homosexueller hervor; 
es ist aber nicht mit Unrecht darauf hingewiesen worden, 
dass diese fortwährende Angst vor Entdeckung auch 
einen Teil der Ursachen bildet. Endlich werden wir fest- 
stellen müssen, dass, selbst wenn die Vorurteilslosigkeit 
noch so gross wird, gewisse Formen der Homosexualität 



doch stets unter Strafe gestellt bleiben werden, nämlich 
der Verkehr mit Knaben. Es giebt aber eine Anzahl 
Homosexueller, die allerdings die Minorität bilden, bei 
denen die Neigung auf derartige uureife Individuen ge- 
richtet ist, ähnlich wie es Männer mit Neigung zu un- 
reifen Mädchen giebt 

Alle die.se Momente lassen dem Homosexuellen oft 
eine ärztliche Beeinflussung seines Triebes wünschens- 
wert erscheinen. 

Auch das Unvermögen zahlreicher Homosexueller, 
den Koitus mit dem Weibe auszuüben und der Wunsch, 
sich einen eigenen Hausstand zu gründen und Nach- 
kommenschaft zu zeugen, spielen weiter als Beweggründe 
zur ärztlichen Behandlung eine grosse Rolle. In einzelnen 
altadeligen Familien kann besonders das letztere Moment 
eine hohe Bedeutung gewinnen. Der Wunsch der Ange- 
hörigen des Homosexuellen oder der des letzteren selbst, 
den Stamm nicht erlöschen zu lassen, bringt das Ver- 
langen zur Ehe und zur Fortpflanzung hervor. Nun ist 
aber die Homosexualität oft mit einer Impotenz gegen- 
über dem weiblichen Geschlecht verbunden, und ganz 
besonders ist dies in den schwersten Fällen, wo eine voll- 
ständige Umkehrung des Geschlechtstriebes vorliegt, ge- 
wöhnlich der Fall. Ein homosexueller Mann, der nur 
gegenüber dem erwachsenen reifen Manne sexuelle Em- 
pfindungen hat, zeigt häufig grossen Abscheu gegenüber 
der körperlichen Berührung durch das Weib. Die Ekel- 
gefühle wiegen dann so stark vor, dass selbst unter Zu- 
hilfenahme von allerlei Phantasievorstellungen und künst- 
lichen Erregungsmitteln eine Erektion, die Vorbedingung 
zum Koitus, nicht zu Stande kommt. Jedenfalls giebt 
es Fälle, wo die Impotenz gegenüber dem Weibe den 
Homosexuellen zum Arzt führt. 

Was übrigens den letzteren Fall betrifft, wo sich der 
Homosexuelle an den Arzt wendet, um Kinder zeugen zu 



— 9 - 



können, so muss hier eine besondere Erwägung stattfinden. 
Soll der Arzt sein Möglichstes thun, den Homosexuellen 
zur Fortpflanzung fähig zu machen oder nicht? Wir 
haben zu bedenken, dass die Homosexualität vielfach als 
ein Degenerationszeichen, und zwar als ein schweres an- 
gesehen wird. Freilich bestreiten viele Homosexuelle 
die Berechtigung zu dieser Annahme, und man kann auch 
mitunter selbst bei eifrigem Nachforschen in der Familie 
keine erblich belastenden Momente finden. Andererseits 
aber bin ich auf Grund zahlreicher Erfahrungen zu der 
Ueberzeugung gekommen, dass in der Mehrzahl von Fällen, 
insbesondere bei einer Umkehrung des Geschlechtstriebes, 
schwere belastende Affektionen in der Familie festgestellt 
werden können: Geisteskrankheit der Eltern oder eines 
derselben, Geisteskrankheit der Geschwister, Selbstmorde? 
Zwangsvorstellungen, Hysterie, Epilepsie und das ganze 
Heer der übrigen erblichen belastenden Momente finden 
sich in mehr oder weniger grosser Zahl. Und wenn wir 
bedenken, dass durch die Fortpflanzung des Homosexuellen 
die weitere Vererbung, ja die Vermehrung der Belastung 
für die Nachkommenschaft zu befürchten ist, so werden 
wir uns immerhin die Frage vorzulegen haben, ob wir 
Aerzte dazu unsere Hilfe gewähren sollen. Eine kleine 
Abschweifung über den Beruf des Arztes mag hier ein- 
geschaltet werden. 

Hat der Arzt überhaupt die Aufgabe, für das Wohl 
der nächsten Generation, die noch gar nicht vorhanden 
ist, zu sorgen? Die Stellung des Arztes kann man im 
Grossen und Ganzen als ein rein persönliches Vertrags- 
verhältniss zwischen ihm und seinem Klienten betrachten. 
Der Arzt hat auf Grund dieser Beziehungen für die Ge- 
sundheit eines Patienten zu sorgen. Die praktischen Ver- 
hältnisse haben allerdings längst zu einer Erweiterung 
dieser Aufgabe geführt. Der Geburtshelfer hat die Pflicht, 
nicht nur für die Gesundheit der Gebärenden, sondern 



— 10 — 



auch für die des Kindes nach Möglichkeit Sorge zu tragen. 
Hier konnte man aber annehmen, dass die Pflicht, für 
das zu gebärende Kind zu sorgen, aus dem Vertragsver- 
hältniss hervorgeht, das zwischen dem Arzt und der Ge- 
bärenden besteht. Wenn aber das Kind überhaupt noch 
nicht gezeugt ist, so liegt die Sache anscheinend anders. 
Wir haben aber zu berücksichtigen, dass der Arzt ausser 
seiner unmittelbaren Berufspflicht gegenüber seinen Klienten 
auch andere Pflichten hat, und zwar hat er besondere 
Pflichten gegen den Staat, als Mensch auch allgemeine 
moralische Pflichten gegenüber der Gesellschaft. Die An- 
zeigepflicht bei Seuchen ist z. B. eine Pflicht, die dem Staate 
gegenüber erfüllt wird. Als Mensch hat er für die 
Brauchbarkeit der kommenden Generation mit zu sorgen. 

Setzen wir einmal folgenden Fall, ohne zunächst zu 
berücksichtigen, ob er thatsächlich vorkommt oder nur 
theoretisch konstruirbar ist. Es ist bei einer Ehe mit 
Sicherheit die Zeugung idiotischer Kinder vorauszu- 
sehen; der Ehemann hat den ausgesprochenen Wunsch, 
Kinder zu zeugen, die Anwendung von Präservativmitteln 
13t also nicht zu erwarten. Es wird unter diesen Um- 
ständen gewiss niemand verlangen, dass der Arzt durch 
seine Ratschläge die Zeugung noch erleichtert. Minde- 
stens wird man den Arzt, der in solchem Falle die Be- 
handlung einer Impotenz ablehnt, einen Vorwurf kaum 
machen dürfen. Der Arzt sorgt dann allerdings nicht 
für die Gesundheit seines Klienten, weil er durch eine 
höhere Pflicht davon abgehalten wird. Er erfüllt eine 
allgemein menschliche Pflicht, wenn er in einem solchen 
Falle die Behandlung verweigert. Er lehnt es gewisser- 
maßen ab, den gewünschten Vertrag mit seinem Klienten 
einzugehen. 

Nehmen wir nun den Fall an, dass ein Homo- 
sexueller die Behandlung wünscht, um Kinder zeugen zu 
können, der Arzt aber fest überzeugt ist, dass nur schwer 



— 11 — 



degenerierte Nachkommen gezeugt werden würden. Hat 
in diesem Falle der Arzt das Recht, die Behandlung ab- 
zulehnen, oder muss er dem Wunsche des Patienten nach- 
kommen? Ich habe keinen Zweifel, dass der Arzt sehr 
wohl berechtigt ist, die Behandlung abzulehnen; denn er 
hat sich weder durch seine Niederlassung, noch auch 
sonst irgendwie verpflichtet, Jeden bedingungslos zu be- 
handeln ; er wird vielmehr stets seine allgemeinen Beding- 
ungen für die Behandlung aufstellen dürfen, und wenn 
dies der Fall ist, ist der Arzt auch berechtigt, aus all- 
gemein menschlichen Motiven, z. B. wenn er glaubt, dass 
aus der Behandlung Unheil hervorgehen muss, diese ab- 
zulehnen. In Wirklichkeit wird natürlich kaum jemals 
mit Sicherheit vorausgesagt werden können, dass schwere 
Degeneration bei den Kindern auftreten wird. Es giebt 
aber Fälle, wo dies mit einer grossen Wahrscheinlichkeit 
vorausgesehen werden kann: wenn nämlich viele und 
schwere belastende Krankheiten in der Familie vorge- 
kommen sind und der betreffende Homosexuelle selbst 
schwere Degenerationszeichen darbietet. In solchen Fällen 
halte ich den Arzt für berechtigt, ja unter Umständen 
für verpflichtet, den W r unsch des Patienten abzuschlagen. 
Im Grossen und Ganzen wird dies aber kaum oft der 
Fall sein. Meistens sind diese oder jene Degenerations- 
zeichen in der Familie vorgekommen; aber nur selten 
kann mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eine Degene- 
ration der Nachkommen vorausgesagt werden. Daher wird 
der Arzt, wenn wir von den oben angedeuteten seltenen 
Ausnahmefällen absehen, vom ärztlichen und vom rein 
menschlichen Standpunkt aus, durchaus berechtigt sein, 
die Homosexualität des Patienten in Behandlung zu neh- 
men und den Versuch zu machen, ihn in einen Hetero- 
sexuellen zu verwandeln. 



* * 
* 



— 12 — 



Mehrfach wurde vorgeschlagen, prophylaktische 
Maassregeln zu ergreifen, die die Entwickelung der Homo- 
sexualität hindern sollen. Sie lassen sich aber praktisch 
nicht so einfach durchführen, abgesehen davon, dass ihr 
Wert selbst teilweise noch recht problematisch ist. Es 
wird besonders auf eine gute psychische und moralische 
Erziehung, auf Vermeidung der Masturbation, auf Ver- 
hinderung eines zu ze : tigen Erwachens des Geschlechts- 
triebes hingewiesen. Auch der Verkehr mit Mädchen 
und besonders die gemeinsame Erziehung mit ihnen wird 
angeraten. 

Vorbeugungsmassregeln kann man nun gegen die 
Homosexualität in zweifacher Weise anwenden; erstens 
indem man alle Kinder prophylaktisch erzieht, damit sich 
eine Homosexualität nicht entwickelt, und zweitens indem 
man bei Kindern, die zur Homosexualität disponiert sind, 
in der angedeuteten Weise Massregeln ergreift. Was aber 
den letzteren Punkt betrifft, so ist gerade die Feststellung 
der Disposition zur Homosexualität nicht ganz leicht. 
Dies wird klarer werden, wenn wir uns über die ange- 
borene und erworbene Homosexualität aussprechen. Es 
werden gewöhnlich diese beiden Formen unterschieden, 
doch ist diese strenge Scheidung nicht ganz gerechtfertigt. 
Um uns aber zu verständigen, bemerke ich, dass das Wort 
„angeboren" nicht ganz genau ist und besser durch das 
Wort „ eingeboren* ersetzt wird; auch der normale Ge- 
schlechtstrieb ist nicht etwas Angeborenes, sondern höch- 
stens kann man sagen, dass die Disposition, die Anlage 
dazu angeboren ist. Angeboren kann nur das sein, was 
im Augenblicke der Geburt vorhanden ist, nicht aber 
das, was sich später entwickelt. So ist auch der Bart 
nicht angeboren, die Zähne sind nicht angeboren, sondern 
nur die Keime dazu. Diese Scheidung von Angeborenem 
und Eingeborenem ist nicht ganz gleichgiltig, weil sonst 
nur zu leicht Miss Verständnisse eintreten. Ich erwähnte 



— 13 — 

eben schon, dass auch der normale Geschlechtstrieb nicht 
etwas Angeborenes, sondern etwas Eingeborenes ist, da 
er sich ja erst Jahre nach der Geburt entwickelt. 

Wir haben zunächst zu untersuchen, ob sich nicht 
auch hei angeborener Disposition zum normalen Geschlechts- 
trieb ein homosexueller entwickeln kann. Zur Entwicke- 
lung des normalen Triebes sind auch bei angeborener An- 
lage zu demselben günstige Bedingungen notwendig, ebenso 
wie zur Entwickelung der normalen Zähne. Zähne, die 
die Neigung haben, gerade zu wachsen, können sich unter 
Umständen schief entwickeln, wenn man künstliche Wider- 
stände schafft, das heisst die normale Anlage kommt nur 
dann zur Entwickelung, wenn auch normale Bedingungen 
vorhanden sind, und ebenso können wir annehmen, dass 
auch der normale eingeborene Geschlechtstrieb nur dann 
zur Entwickelung kommt, wenn günstige Bedingungen 
vorhanden sind. Ist dies nicht der Fall, so könnte sehr 
wohl durch Einflüsse intra vitam eine Abänderung des 
Triebes eintreten. Ein dauerndes Zusammensein mit dem 
männlichen Geschlecht könnte bei solcher Disposition 
vielleicht dazu führen, dass sich die Heterosexualität nicht 
entwickelt. Würde aber nun hieraus etwa jemand den 
Schluss ziehen, dass mithin der homosexuelle Trieb etwas 
Erworbenes sei, so ist darauf zu erwidern, dass dieser 
Schluss gerade verkehrt ist. Denn beim normalen Knaben 
führt ein lange dauerndes Zusammensein mit männlichen 
Personen durchaus nicht zur Homosexualität. Wenn sich 
diese also doch entwickelt, darf eine angeborene Anlage 
zu ihr vermutet werden. 

Ausserdem sprechen zahlreiche Analogien dafür, dass 
man wenigstens in einer grossen Anzahl von Fällen eine 
angeborene Anlage für die Homosexualität annehmen 
muss. Die Richtung des Geschlechtstriebes gehört zu 
den sogenannten sekundären Geschlechtscharakteren, ähn- 
lich wie der Bart des Mannes, die Brustdrüse des Weibes, 



— 14 — 



die spezifisch männliche und spezifisch weibliche Kehl- 
kopfbildung usw. usw. Ebenso aber, wie wir finden, dass 
auch von diesen körperlichen Geschlechtscharakteren oft 
genug der eine oder der andere auf das falsche Geschlecht 
übergeht, das heisst sich konträr entwickelt, ebenso können 
wir dies auf Grund der Analogie von dem Geschlechts- 
triebe a priori vermuten. 

Erkennen wir aber auch an, dass die Anlage zu der 
Homosexualität angeboren ist, so folgt daraus nicht, dass 
sich die Homosexualität entwickeln muss. Aehnlich 
vielmehr, wie wir beim normalen Triebe sahen, dass ausser 
der angeborenen Anlage günstige Bedingungen im Leben 
notwendig sind, um ihn zur Entwickelung kommen zu 
lassen, ebenso ist es denkbar, dass auch der homosexuelle 
Trieb durch günstige Massnahmen intra vitam an der 
Entwickelung gehemmt werden kann, selbst wenn die An- 
lage zu ihm vorhanden ist. Dasselbe folgt auch aus der 
ärztlichen Umwandlung des homosexuellen Triebes in den 
heterosexuellen. Es ist in neuerer Zeit mehrfach von 
Erfolgen in dieser Beziehung berichtet worden. Wenn 
aber hieraus bedingungslos auf das Erworbene des homo- 
sexuellen Triebes geschlossen wird, so ist dies insofern 
falsch, als auch eingeborene Eigenschaften zuweilen um- 
gewandelt werden können. Man wird daraus ersehen, wie 
schwierig es ist, die scharfe Trennung in eingeborene und 
erworbene Homosexualität aufrecht zu erhalten. Ohne 
eine angeborene Anlage wird sich schwerlich eine Homo- 
sexualität entwickeln. 

Es ist nun behauptet worden, dass sich durch ge- 
eignete prophylaktische Massregeln bei dem Individuum 
die Entwickelung der „erworbenen* Homosexualität ver- 
hindern lasse. Wir haben aber eben gesehen, dass man 
den Wert der prophylaktischen Massregeln für die er- 
worbene Form schon deshalb nicht überschätzen darf, 
weil die scharfe Trennung in erworbene und angeborene 



— 15 — 



Homosexualität nicht berechtigt ist. Daraus folgt natür- 
lich nicht, dass man keine prophylaktischen Massregeln 
ergreifen soll. Denn wie ich bereits erwähnte, können 
angeborene Dispositionen durch geeignete Massregeln mit- 
unter beeinflusst werden, und in dieser Beziehung ist auch 
von anderer Seite vorgeschlagen worden, prophylaktische 
Massregeln bei Kindern zu ergreifen, die Neigung zur 
Homosexualität zeigen. Aber auch in dieser Hinsicht 
müssen wir deshalb vorsichtig sein, weil sich die ange- 
borene Disposition zur Homosexualität keineswegs so leicht 
feststellen lässt. 

Viele Männer und Frauen, die sich später homo- 
sexuell entwickelt haben, geben an, dass sie stets in ihrer 
Kindheit nur für das gleiche Geschlecht Neigung hatten, 
dass sie bereits lange vor der Mannbarkeit derartige 
Neigungen gehabt hätten. Man könnte anscheinend hier- 
aus schliessen, dass alle Kinder, bei denen sich Neigung 
zum gleichen Gechlecht zeigt, als zur Homosexualität 
disponierte angesehen werden müssen. Ebenso geben viele 
später homosexuell gewordene Männer an, dass sie schon 
in der Kindheit das Wesen kleiner Mädchen hatten, sie 
hätten mit Puppen gespielt, die wilden Knabenspiele ver- 
abscheut, Handarbeiten und dergleichen seien ihre Lieb- 
lingsbeschäftigung gewesen. Man hat also hierin an- 
scheinend gewisse Anhaltepunkte, die homosexuellen Dis- 
positionen fest zu stellen. Was aber die gleichgeschlecht- 
lichen homosexuellen Neigungen in der Kindheit betrifft, 
so wollen wir nicht vergessen, dass die Kinder sie auf 
jede Weise zu verheimlichen suchen, und es wird jeden- 
falls in zahlreichen Fallen gar nicht leicht sein, bei den 
leidenschaftlichen Freundschaften zwischen Knaben oder 
auch den leidenschaftlichen Neigungen eines Knaben zu 
seinem Lehrer den sexuellen Hintergrund fest zu stellen. 
Hierzu kommt aber noch ganz besonders der Umstand, 
dass homosexuelle Neigungen in der Kindheit und mädchen- 



— 16 — 



hafte Neigungen von Knaben, knabenhafte von Mädchen 
keine homosexuelle Disposition für später verraten. Es 
wurde in neuerer Zeit, besonders von Max Dessoir, darauf 
hingewiesen, dass der Geschlechtstrieb zwei Perioden dar- 
bietet, eine, wo er undifferenziert ist, und eine andere, wo 
er differenziert ist. Vor der Pubertät, manchmal auch 
während der ersten Jahre derselben, zeigt sich der un- 
differenzierte Geschlechtstrieb. Die sexuelle Neigung des 
Betreffenden richtet sich dann auf irgend ein beliebiges 
Objekt, mag es ein Mann oder ein Weib, ein Knabe oder 
ein Mädchen sein; ja selbst Thiere sind nicht ausge- 
schlossen. Nur vom Zufall soll es abhängen, wohin sich 
der Trieb wendet Aus diesem undifferenzierten Ge- 
schlechtsgefühl entwickelt sich später das differenzierte, 
indem um die Zeit der Pubertät herum beim normalen 
Menschen die Neigung zum anderen Geschlecht mächtig 
hervorbricht Die früheren gleichgeschlechtlichen Neig- 
ungen des betreffenden Knaben haben also keine Be- 
deutung für die spätere Homosexualität; sie waren viel- 
leicht nur dem Zufalle zuzuschreiben. Würde man nun 
bei irgend welchen Knaben solche homosexuellen Leiden- 
schaften im Alter von 12, 13, 14, 15 Jahren finden, so 
geht daraus noch nicht hervor, dass der Betreffende zur 
Homosexualität disponiert ist Wir haben fest zu halten, 
dass nicht der heterosexuelle Trieb als solcher, sondern 
nur die Anlage dazu angeboren ist, und die heterosexuelle 
Anlage zeigt sich gerade darin, dass zur Zeit der Pubertät 
der heterosexuelle Trieb mächtig durchbricht. Jedenfalls 
ersieht man daraus die grossen Schwierigkeiten, die eine 
Erkennung der homosexuellen Disposition bietet Hinzu- 
kommt mit Rücksicht auf die Häufigkeit, mit der Homo- 
sexuelle angeben, dass sie immer, auch vor der Pubertät 
homosexuell gefühlt hätten, ein anderes Moment, worauf 
gleichfalls hingewiesen werden muss. Jeder Mensch er- 
innert sich mit Vorliebe dessen, was ein besonderes In- 



— 17 — 



teresse für ihn bietet. Homosexuelle Leidenschaften des 
Knaben bieten dem homosexuellen Jüngling und dem Manne 
viel mehr Interesse dar als die heterosexuellen Neigungen 
in der Kindheit; daher werden die letzteren viel leichter 
vergessen als die ersteren, und der Betreffende, der immer 
davon spricht, er habe in der Kindheit homosexuell ge- 
fühlt, hat in Wirklichkeit oft das heterosexuelle Fühlen 
nur vergessen. Es ist eben zu betonen, dass auch bei 
angeborener Homosexualität der Geschlechtstrieb zunächst 
noch durchaus undifferenziert sein kann, dass vor der 
Pubertät noch allerlei Neigungen zum anderen Geschlecht 
bestehen können, während sich erst später die Neigung 
zum gleichen Geschlecht deutlich ausbildet, obwohl sie 
auf einer angeborenen Anlage beruht. 

Wir haben gesehen, dass man sehr schwer die ange- 
borene Disposition zur Homosexualität mit einiger Sicher- 
heit in der Kindheit zu erkennen vermag. Wenn man 
also die angedeuteten prophylaktischen Massregeln er- 
greifen will, so wird man dies gegenüber allen Kindern 
thun mülsen. Mit dieser Auffassung harmoniert es natür- 
lich auch vollständig, dass man allerlei weibische Eigen- 
tümlichkeiten von Knaben, und ebenso männliche der 
Mädchen unterdrükt; denn man hat die Nichtentwickelung 
solcher Eigenschaften bei allen Kindern zu beachten. 
Wenn also Knaben sich gern mit weiblichen Toiletten- 
gegenständen beschäftigen, so hat man dies möglichst zu 
verhindern, und ebenso hat man auf andere derartige 
Vorkommnisse zu achten. Denn wenn auch solche Dinge 
vor der Mannbarkeit nicht als ein sicheres Zeichen für 
die Entwickelung der Homosexualität angesehen werden 
dürfen, so ist es doch möglich, dass hierin mit einer ge- 
wissen W ahrscheinlicbkeit eine Disposition zur Homo- 
sexualität erblickt werden darf. Jedenfalls wird man 
schon auf Grund theoretischer Erwägungen solche ver- 
kehrte Eigenschaften möglichst unterdrücken müssen. 

Jahrbuch II. * * * 2 



— 18 — 



Ich habe früher verschiedene Motive erwähnt, die 
den Homosexuellen zur ärztlichen Behandlung fuhren. 
Wir haben hierin schon einen deutlichen Hinweis darauf, 
dass wir die Fälle nicht schablonenmässig in gleicher 
Weisse abthun dürfen. Während in dem einen Fall der 
Wunsch, den homosexuellen Trieb beseitigt oder doch 
gemildert zu sehen, den Homosexuellen zum Arzt fuhrt, 
ist es in dem anderen der Wunsch, heterosexuell ver- 
kehren zu können. 

Wenn wir nun an eine Umwandlung des homosexuellen 
Geschlechtstriebes denken, so werden wir selbstverständ- 
lich in erster Linie psychische Mittel in Anwendung ziehen 
müssen. Zwei Dinge sind es insbesondere, die hier in Be- 
tracht kommen : erstens die Selbsterziehung des Patienten, 
und zweitens die Suggestionsbehandlung. Es geht vielen 
Homosexuellen so wie manchen anderen Patienten, dass 
sie, wenn sie eine Umwandlung des perversen Triebes 
wünschen, dies ganz und gar ohne ihr eigenes Zuthun 
geschehen lassen möchten. Gewissennassen durch eine 
Fremdsuggestion soll die Umwandlung bewirkt werden. 
Diese Art der Umwandlung wäre allerdings sehr bequem; 
sie beruht aber oft auf einer Selbsttäuschung. Es ist 
unbedingt erforderlich, dass die Suggestionsbehandlung 
durch die Selbsterziehung des Patienten ergänzt werde 
und hierzu gehört, dass er sich nie willkürlich seinen 
perversen Gedanken hingiebt. 

Wenn wir uns das psychische sexuelle Leben der 
Menschen ansehen, so zeigt sich sowohl für die meisten 
Perversen wie für die meisten Normalen Folgendes. Es 
treten öfters sexuelle Gedanken auf, die dem Geschlechts- 
trieb des Betreffenden entsprechen. Es kann vorkommen, 
dass diese Gedanken mit einer solchen Macht auf die 
Person einstürmen, dass selbst der festeste Vorsatz sie 
nicht zu unterdrücken vermag; es kommt aber auch gar 
nicht so selten vor, dass sich der Betreffende, nur weil er 



— 19 — 



gerade Zeit und Lust hat, vielleicht weil er sich gerade 
langweilt, seinen sexuellen Gedanken hingiebt. Diesen 
Vorgang hat Hufeland als geistige Onanie bezeichnet. 
Bei dieser geistigen Onanie giebt sich nun Jeder selbst- 
verständlich den ihm persönlich sympathischsten Gedanken 
hin : der Heterosexuelle wird sich ein ihm sympathisches 
Weib vorstellen, der Homosexuelle einen ihm sympathi- 
schen Mann. Wenn es gelingen soll, die Verbindung 
zwischen organischem Geschlechtsleben und Vorstellung 
des Mannes zu beseitigen, so wird es natürlich notwendig 
sein, dass der Betreffende selbst nach dieser Richtung hin 
alles Mögliche thut. Es muss ihm eingeschärft werden, 
dass er sich niemals willkürlich homosexuellen Gedanken 
hingebe. Drängen diese unwillkürlich auf ihn ein, so 
kann er sich ihrer freilich nicht erwehren, und dies wird 
oft genug der Fall sein. Aber die willkürliche geistige 
Onanie mit den perversen Gedanken muss durchaus be- 
kämpft werden, wenn dies auch bisweilen nur unter Ueber- 
windung grosser Schwierigkeiten gelingt. 

Besonders werden diese Schwierigkeiten dann vor- 
handen sein, wenn der Betreffende eine innige Liebe zu 
einem Manne gefasst hat. Denn der Gedanke an den 
Geliebten wird ihm dann viel zu teuer sein, als dass er 
sich leichten Herzens entschlösse, ihn freiwillig aufzugeben. 
Die Vorstellung des Geliebten bietet für ihn, selbst wenn 
er keine Gegenliebe findet, so viel Heiz, dass er sich 
immer und immer wieder diesen Gedanken hingeben 
wird. Es ist allerdings auch nicht gerade wahrscheinlich, 
dass sich ein solcher Mann an den Arzt wendet, um von 
seiner Liebesleidenschaft geheilt zu sein. Wenigstens 
dürfte dieser Fall nur verhältnismässig selten vorkommen. 
Am ehesten ist es dann noch zu erwarten, wenn der 
Betreffende durch seine Vorstellungen von jeder ernsten 
Arbeit abgezogen wird, so dass er sich an jeder Thütig- 
kcit gehindert sieht. 



— 20 - 



In neuerer Zeit ist zur Bekämpfung der sexuellen 
Perversionen die Suggestionsbehandlung und be- 
sonders die in der Hypnose vorgeschlagen worden. 
Sicherlich kann man in einer Reihe von Fällen gute 
Resultate damit erzielen; nur wird man stets auf eine 
Gesamtbehandlung sein Augenmerk zu richten haben. 
Der Homosexuelle selbst wird sich sagen müssen, dass 
er bei der Suggestionsbehandlung nicht thun und lassen 
kann, was er will, sondern dass diese nur einen Teil der 
gesamten Therapie ausmacht. Unter solcher Voraus- 
setzung kann die hypnotische Behandlung mit gutem 
Erfolg angewendet werden. Dieser wird nicht selten von 
der Tiefe der Hypnose abhängig sein. Ein deutlicher 
Horror feminae wird sich nicht leicht in einer oberfläch- 
lichen Hypnose beseitigen lassen. Hingegen kann bei 
starker Empfänglichkeit sehr wohl ein Erfolg erzielt 
werden. Aber man stelle ihn sich nicht zu leicht vor, 
und glaube nicht etwa, dass man durch planloses Sugge- 
rieren zu wesentlichen Erfolgen kommen wird. 

Es wird von einzelnen Aerzten den Homosexuellen 
empfohlen, sexuellen Verkehr mit dem weib- 
lichen Geschlecht, natürlich ausserhalb der Ehe, 
zu suchen. Man erteilt ihnen den Rat, in Bordelle zu 
gehen, oder sonst heterosexuellen Verkehr zu suchen. 
Dies soll wesentlich zur Umwandlung des Geschlechts- 
triebes beitragen. 

Die sittliche Bedeutung dieser Frage will ich hier 
ausser Acht lassen, und zwar aus mehren Gründen. Ich 
müsste sonst zunächst eine Auseinandersetzung darüber 
machen, ob der sexuelle Verkehr eines Unverheirateten 
mit einer Puella publica, deren Gewerbe gewissennassen 
vom Staate sanktioniert ist, — er nimmt ja Steuern von 
ihr — sittlich überhaupt so sehr verurteilt werden kann. 
Ich müsste ferner erörtern, ob die Ehe nicht sittlich 
mitunter tiefer steht (z. B. wenn es sich um eine reine 



Geldheirat handelt), als der Geschlechtsverkehr zweier 
Unverheirateter, die einander lieben, aber aus irgend 
welchen Gründen eine Ehe nicht eingehen können. Wenn 
man aber auch selbst vom sittlichen Standpunkt aus 
jeden ausserehelichen Verkehr bekämpft, so wird sich 
daran doch noch die weitere Frage knüpfen, ob nicht 
eine sonst anfechtbare Handlung dadurch, dass sie einem 
hohen Zwecke dient, gerechtfertigt werden kann, das 
heisst, ob in dem vorliegenden Falle ein ausserehelicher 
Verkehr seine Entschuldigung darin findet, dass er der 
Herstellung der Gesundheit dient. Wohl weiss ich, dass 
strenge Moraltheoretiker, ganz abgesehen von dem grossen 
Heer der Heuchler, diese Frage verneinen würde. Eine 
ausführliche Besprechung der Frage würde aber vom 
Thema zu sehr ablenken, und ich möchte deshalb diese 
rein ethischen Fragen hier möglichst unerörtert lassen 
und will mich lediglich auf den medizinischen Stand- 
punkt beschränken. 

In dieser Beziehung muss doch der planlos gegebene 
Rat, Bordelle zu besuchen, mit Misstrauen betrachtet 
werden. Berücksichtigen wir zunächst die Infektions- 
gefahr. Ich gebe ohne Weiteres zu, dass die Gefahren 
in Bordellen und bei der polizeilich überwachten Prosti- 
tution oft geringer sind als wenn ein sonstiger ausser- 
ehelicher Geschlechtsverkehr stattfindet; denn gerade in 
dem letzteren Falle ist die Infektionsgefahr mitunter be- 
sonders gross. Bei vielen polizeilich nicht überwachten 
weiblichen Personen ist eine Infektion vorhanden, die oft 
Wochen, Monate und Jahre besteht, ohne dass die Be- 
treffende ihren Verkehr aufgiebt. Thatsächlich fällt hier 
jede Kontrolle weg. Die polizeilich kontrollierten Mädchen 
ergreifen auch mehr Vorsieh tsinassregeln gegen eine In- 
fektion, die andere unterlassen. Aber eine gewisse Gefahr 
besteht nichtsdestoweniger auch bei ihnen. Ich muss 
gestehen, dass mir die Homosexualität immer noch ein 



geringeres Uebel zu sein scheint als eine Infektion mit 
Syphilis. Ja selbst die Infektion mit einem Tripper ist 
keineswegs etwas so Harmloses, wie es gewöhnlich dar- 
gestellt wird. So kann der chronische Tripper zu schweren 
Belästigungen führen. Die Veränderungen, die der Tripper 
bei dem Fortschreiten in der Blase herbeiführt, können 
selbst Veranlassung zu lebensgefährlichen Zuständen werden. 

Man wird also fast in allen Fällen den. ausserehe- 
lichen Verkehr mit einer weiblichen Person als eine ge- 
wisse Gefahr betrachten müssen. Ganz abgesehen davon 
aber bin ich der Ansicht, dass der medizinische Nutzen 
ein viel geringerer ist, als einzelne Autoren es darstellen. 
Ernstlich zu glauben, dass sich ein Homosexueller durch 
einen gezwungenen sexuellen Verkehr mit einer weiblichen 
Person in einen Heterosexuellen verwandelt, verrät eine 
gewisse Naivetät der Anschauung. Der Betreffende ver- 
schafft sich irgendwie eine künstliche Erektion, sei es 
durch Friktionen seitens des Weibes, sei es durch Vor- 
stellung eines Mannes oder durch Alkohol. Er entleert 
den Samen in die Scheide des Weibes unter denselben 
Bedingungen, wie es der Onanist thut. Wenn die Er- 
regung, wie es in diesem Falle geschieht, künstlich her- 
vorgerufen wird, so kommt das zu Stande, was ein Per- 
verser einmal richtig als Onania per vaginam bezeichnete. 
Wie dabei eine Umwandlung des Triebes zu Stande 
kommen soll, ist und bleibt rätselhaft. Einzelne Fälle, 
die in dieser Weise gedeutet werden, vertragen keine 
ernste Kritik. Sie sind zum Teil in so oberflächlicher 
und unkritischer Weise zusammengestellt, dass es sich 
nicht lohnt, darauf einzugehen. Ebensowenig, wie ein 
normaler Heterosexueller dadurch in einen Homosexuellen 
verwaudelt wird, dass er gelegentlich mit einem anderen 
Manne Masturbation treibt, ebensowenig wird bei einem 
Homosexuellen die entsprechende Umänderung in einen 
Heterosexuellen auf dem genannten Wege erfolgen. 



— 23 — 



Das Erste muss stets die Herstellung des hetero- 
sexuellen Triebes sein. Hinzukommt, dass der Be- 
treffende sich sonst nur all zu leicht bei den Koitus- 
versuchen als impotent erweist; und dass die hierbei ent- 
stehende Depression nicht gerade sehr heilsam auf seine 
Konstitution wirkt, braucht kaum erwähnt zu werden. 
Höchstens wäre die Frage zu erörtern, ob man, wenn 
sich irgend welche heterosexuelle Empfindungen geltend 
machen, den sexuellen Verkehr mit dem weiblichen Ge- 
schlecht gestatten soll. Wenn man diesen Rat giebt, so 
wird unter Umständen ein gewisser Vorteil, der aus dem 
Verkehr hervorgeht, nicht geleugnet werden können, 
weil der Betreffende seine sexuellen organischen Gefühle 
immer mehr mit den normalen Vorstellungen assoziiert. 
Aber man denke auch in diesem Falle stets an das Risiko 
der Infektion. Ich würde nur in seltenen Fällen den 
entsprechenden Rat geben. Allenfalls könnte man bei 
sehr starkem Drang zur Ejakulation hierzu raten, aber 
auch nur dann, wenn die Infektionsgefahr möglichst aus- 
geschlossen werden kann. 

Ich bin der Ansicht, dass man den Homosexuellen 
von seinen fortwährenden homosexuellen Gedanken ab- 
lenken soll, aber nicht gerade dadurch, dass man ihm 
nun den heterosexuellen Verkehr mit Prostituierten 
empfiehlt, sondern dadurch, dass man ihn in anregende, 
anständige weibliche Gesellschaft bringt. Hierbei mögen 
auch ruhig sogenannte platonische Beziehungen zu weib- 
lichen Personen angeknüpft werden, und man wird dann 
die Freude haben, bei einer ganzen Reihe von Fällen ein 
gutes Resultat zu beobachten. Je mehr ich auf diesem 
Gebiete gesehen habe, um so mehr bin ich zu der An- 
sicht gekommen, dass ein durchaus „ platonisches K Zu- 
sammensein mit Personen des anderen Geschlechts oft 
bessere Früchte zeitigt, als allerlei anbefohlene Koitus- 
versuche. 



— 24 — 



In manchen Fällen, wo eine Umwandlung des Triebes 
nicht gelingt oder aus verschiedenen Gründen nicht ge- 
wünscht oder vom Arzte nicht angeraten wird, kann es 
gut sein, den Patienten auf eine sexuelle Abstinenz 
hin zu behandeln. Ein Versuch nach dieser Richtung 
hin ist schon durch die grossen Gefahren berechtigt, 
denen der Homosexuelle in sozialer und rechtlicher Hin- 
sicht ausgesetzt ist. Aber man wird nur in einer ver- 
hältnismässig kleinen Zahl von Fällen Erfolg haben, und 
zwar dann, wenn entweder der Trieb selbst nicht sehr 
stark ist oder doch mit Leichtigkeit herabgesetzt werden 
kann. Ein Versuch nach dieser Richtung wird jedenfalls 
in vielen Fällen lohnen. Man wird in solchen Fällen 
alle Mittel, die die Heilkunde in dieser Beziehung auch 
bei den Heterosexuellen kennt, anzuwenden haben: Sug- 
gestionsbehandlung, Brom, gewisse Wasserprozeduren etc. 
Ganz besonders aber wird auf eine geregelte geistige 
und körperliche Thätigkeit des Homosexuellen gesehen 
werden müssen. 

In einer ganzen Reihe von Fällen wird es wünschens- 
wert sein, das homosexuelle Empfinden zu veredeln und 
möglichst von allem sinnlich Niedrigen abzulenken. Es 
gelingt dies bei einzelnen Männern, die ja in dem von 
ihnen geliebten Manne nicht das Objekt der sinnlichen 
Begierde sehen, sondern sich gewissermassen nur seelisch 
an ihm befriedigen. Dies ist besonders dann der Fall, wenn 
gleichzeitig der rein sinnliche Trieb an einer andern 
Person befriedigt werden kann. In diesem Falle gelingt 
es mitunter, das homosexuelle Empfinden der ein en Person 
gegenüber in den wünschenswerten Schranken zu halten. 
Dies ist für den Homosexuellen nicht ganz gleichgiltig, 
weil er dann doch mit dem von ihm geliebten Manne 
Zusammensein kann, ohne durch stark sinnliche Gefühle 
ihm gegenüber aufdringlich zu sein. 

Eine viel bessere Prognose als die Homosexualität 



— 25 — 



als solche giebt oft dieHyperäthesiedesGeschlechts- 
triebes. Es ist aber auch deren Behandlung von grosser 
Bedeutung, da ja der Betreffende durch das fortwährende 
sexuelle Denken in seinem ganzen Arbeiten stark be- 
einträchtigt wird. Es liegt hier ähnlich wie bei der 
Hyperästhesie des normalen Geschlechtstriebes, nur mit 
dem Unterschiede, dass der letztere leichter befriedigt 
werden kann und — abgesehen von der Infektions- 
gefahr — weniger Gefahren bietet, als der erstere. Die 
Behandlung wird im Wesentlichen eine ganz ähnliche 
sein, wie bei der heterosexuellen Hyperästhesie. 

In vielen Fällen wird man wieder auf eine Aenderung 
des Geschlechtstriebes selbst verzichten. Trotzdem wird 
man aber den Homosexuellen in Behandlung nehmen 
müssen; denn, wie schon angedeutet, ist er oft genug 
auch sonst kein ganz gesunder Mensch, mag das durch 
die häufigen Erregungen, mag es durch die angeborene 
Disposition und durch die erbliche Belastung der Fall 
sein. Allerlei krankhafte Erscheinungen finden sich in 
einer grossen Anzahl von Fällen. Bald ist eine Neur- 
asthenie vorhanden, bald haben wir es mehr mit 
hysterischen Zuständen zu thun, bald — und dies ist 
gar nichts Seltenes — finden sich allerlei Abnormitäten 
auf psychischem Gebiete. Zwangsvorstellungen, melan- 
cholische Verstimmungen und dergleichen. Hiergegen 
ist natürlich der Rat eines erfahrenen Arztes einzuziehen, 
der oft unabhängig von der Behandlung des homo- 
sexuellen Triebes dem Perversen manchen Dienst wird 
leisten können. 

Es tritt in praxi oft die Frage auf, ob Homosexuelle 
zur Ehe schreiten dürfen. Hierbei haben wir sowohl den 
homosexuellen Mann wie das homosexuelle Weib zu be- 
rücksichtigen. Was diesen Punkt betrifft, so wird eine 
gleiche Antwort für alle Fälle nicht gegeben werden 
dürfen; man wird sich vielmehr nach den Verhältnissen 



— 2t) — 



richten müssen. Zunächst wird es sich fragen, ob das 
homosexuelle Fühlen etwas Ausschliessliches ist, oder ob 
in mehr oder weniger stärkerem Grade auch das hetero- 
sexuelle Empfinden vorliegt. Ferner ist zu bedenken, dass 
der Mann immer noch eher vor der Ehe wird zurück- 
schrecken müssen als das Weib, weil eine aus dem homo- 
sexuellen Empfinden hervorgehende Impotenz gegenüber 
dem anderen Geschlecht eigentlich nur beim Manne zu 
befürchten ist, während ja das Weib allenfalls den Trieb 
zum Koitus entbehrt, ihn auch wohl ohne Befriedigung 
ausübt, aber am Koitus selbst nicht gehindert ist. Beim 
Manne kann das homosexuelle Empfinden so stark sein, 
jedes heterosexuelle Element so vollkommen fehlen, dass 
bei einer Annäherung an die weibliche Person jede 
Erektion ausbleibt, das heisst der Koitus unmöglich ist. 

Ganz abgesehen hiervon aber ist zu bedenken, dass 
die Homosexualität des einen Teils so viel Unzuträglich- 
keiten in der Ehe herbeiführt, dass noch andere Fragen 
mitspielen. Mir sind Fälle bekannt, wo homosexuelle 
Männer offenbar nur aus materiellen Gründen Ehen mit 
normalen Frauen eingegangen sind. Mir sind aber auch, 
wie ich der Gerechtigkeit halber hinzufüge, Fälle bekannt, 
wo heterosexuelle, durchaus normal empfindende Männer 
Ehen mit Frauen eingegangen sind, deren homosexuelles 
Fühlen ihnen bekannt war, die aber aus diesem oder 
jenem Grunde gern in die Ehe treten wollten. In beiden 
Fällen sind die schwersten Unzuträglichkeiten entstanden. 
Man berücksichtige, dass gerade homosexuelle Frauen oft 
dies oder jenes an sich haben, was den heterosexuell 
empfindenden Mann reizt, man berücksichtige ferner, dass 
auch homosexuelle Männer nicht gerade selten das Ziel 
der Liebe von Frauen werden, weil dies oder jenes ihnen 
am Manne besonders sympathisch ist. Aber die Differenzen 
bleiben dann in der Ehe doch nicht aus. Bei vorwiegen- 
dem homosexuellem Empfinden, mag dies nun mit einem 



— 27 — 



stark sinnlichen Triebe einhergehen oder nicht, wird man 
jedenfalls von einer Ehe abraten müssen, und zwar schon 
deshalb, weil das Eingehen der Ehe in diesem Falle Be- 
trug wäre; ganz besonders aber auch deshalb, weil eine 
glückliche Ehe gar nicht zu erwarten ist. Allenfalls 
könnte man Fälle ausnehmen, wo jemand glaubt, seinen 
homosexuellen Trieb vollständig beherrschen zu können 
und er mit einer vollkommen urteilsfähigen reifen Person 
des anderen Geschlechts die Ehe eingeht, nachdem sogar 
eine Aussprache stattgefunden hat. Jedenfalls wird man 
in diesem Falle den Schritt nicht mehr ohne weiteres als 
einen unmoralischen bezeichnen dürfen. 

Anders liegt es, wenn der Betreffende bereits die 
Ehe eingegangen ist. Hier wird natürlich eine Trennung 
nicht so leicht stattfinden können. Die Frage, ob der 
homosexuelle Teil in der Ehe gut thut, sich dem anderen 
zu entdecken, dürfte weniger eine ärztliche Frage sein 
als eine solche der Politik. Wenn der Ehemann wegen 
Homosexualität der Frau zur Trennung einer Ehe schreiten 
wall, so soll man Folgendes bedenken. Bei Frauen ist 
nämlich zu beobachten, dass sie mitunter trotz allen homo- 
sexuellen Empfindens Muttergefühle haben. Sie wünschen 
sich einen Sprössling, und es ist mir auch bekannt, dass 
in mehreren derartigen Fällen bisher recht unglückliche 
Ehen, bei denen sogar eine Scheidung drohte, es schliess- 
lich zu einem erträglichen Zusammensein führte, wenn ein 
Kind geboren war. Ich erinnere mich unter anderem 
einer Dame, die vor ihrer Verlobung ein homosexuelles 
Verhältnis hatte und die ersten Tage in einer ziemlich 
gleichmässigen Ehe lebte, wobei sie allerdings den hetero- 
sexuellen Verkehr fast stets zurückwies. Sie wurde 
schwanger. Noch in der Zeit der Schwangerschaft trat 
das homosexuelle Empfinden ganz deutlich hervor: sie 
verkehrte sexuell nur mit ihrem früheren Verhältnis und 
behandelte den Mann abstossend, so dass die Ehescheidung 



— 28 — 



eingeleitet werden sollte. Es wurde aber damit auf 
meinen Rat bis zum Ende der Gravidität gewartet, und 
als ein Kind geboren war, zeigte sich die Mutter, wenn 
auch nicht gerade herzlich zu ihrem Manne, so doch wie 
umgewandelt. Ihre homosexuellen Empfindungen Hessen 
nach, sie gab sich ganz und gar der Pflege ihres Kindes 
hin, und die Ehe wurde eine mehr gleichmässige Kompro- 
missehe. 

Wie aus dem Vorhergehenden hervorgeht, müssen 
die Fälle von Homosexualität durchaus verschieden be- 
urteilt werden. Man ist nicht berechtigt, einen wie den 
andern anzusehen und vom ärztlichen Standpunkt aus 
schablonenmässig alle zu behandeln. Der gewissenhafte 
Arzt wird die Prognose des Falles zunächst erwägen 
und den Betreffenden wahrheitsgemäss vorführen. Der 
Arzt wird in den meisten Fällen, wenn er keinerlei 
Illusionen erweckt, den Betreffenden einen grösseren Dienst 
leisten, als wenn er die ganze Sache dilatorisch behandelt. 
Bei dem Zusammenwirken vieler ungünstigen Faktoren 
thut der Arzt besser, dem Homosexuellen zu sagen, dass 
auf eine Umwandlung aus diesem oder jenem Grunde 
nicht zu rechnen ist, oder dass er freiwillig darauf ver- 
zichten soll. Er erspart ihm damit Enttäuschungen. 
Die Prognose wird sich zum Teil auch danach richten, 
welche Form die Homosexualität darbietet. Es giebt 
Fälle, wo eine vollkommene Umkehrung des Geschlechts- 
triebes vorhanden ist. Das ist dann der Fall, wenn bei- 
spielsweise ein 30 Jahre alter Mann zu einem ungefähr 
gleichaltrigen Manne Neigung hat; denn in diesem Falle 
fühlt er so, wie ein Weib in seinen Jahren. Anderer- 
seits habe ich mehr und mehr den Eindruck gewonnen, • 
dass sich am ehesten heterosexuelle Empfindungen bei 
solchen Personen erzielen lassen, die nicht eine vollständige 
Umkehrung des Geschlechtstriebes zeigen, deren Neigung 
vielmehr auf jüngere Individuen gerichtet ist. Diese 



— 29 



Neigung ist mitunter in forensischer und sozialer Be- 
ziehung bedenklicher als die auf erwachsene Männer ge- 
richtete, weil bei Knaben, besonders solchen unter 14 Jahren, 
selbst die Einwilligung nicht gentigt, den Akt straflos 
zu machen. Aber medizinisch scheinen mir diese Fälle 
oft eine bessere Prognose zu bieten, soweit wenigstens 
das Anstreben der Heterosexualität in Betracht kommt. 
Auch jene Fälle bieten eine günstigere Prognose, bei 
denen sonst irgendwie Anklänge an das heterosexuelle 
Fühlen nachweisbar sind, wo der Betreffende z. B. früher 
heterosexuelle Empfindungen gehabt hat. Mancher Homo- 
sexuelle, der diese zunächst in Abrede stellt, erinnert sich 
aber, wenn sein Gedächtnis aufgefrischt wird, solcher, 
wenn auch vorübergehenden heterosexuellen Empfindungen. 
Jedenfalls bietet bei Berücksichtigung aller Faktoren die 
Homosexualität so verschiedene Gesichtspunkte für den 
Arzt, dass er nur nach reiflichem Studium des Falles ein 
Urteil über diesen abzugeben vermag, und nur ein ge- 
naues Eingehen und Individualisieren kann einen Erfolg 
versprechen. 

Es kann den anständig denkenden Homosexuellen 
nur empfohlen werden, sich möglichst von Vorurteilen 
frei zu halten und sich den Lobeshymnen zu verschliessen, 
die einzelne exaltierte Homosexuelle auf die Homosexualität 
anstimmen. Je mehr sich die anständigen Homosexuellen 
von solchen Anschauungen frei halten, um so mehr werden 
sie darauf rechnen können, Sympathien in den Kreisen 
der Heterosexuellen zu erwerben und die Vorurteile der 
Letzteren zu zerstören. Sicherlich kann dies aber nicht 
gelingen, wenn Homosexuelle ihre Anlage gewissermassen 
als das Vollkommene hinstellen, das weder den Arzt 
noch den Richter etwas angehe. 




Schützt §175 Rechtsgüter? 



Eine kriminalistische Studie 

von 

Richter Z. 

Kx inordinato muore et vano timore 
uritur omnis inquietudo cordis et dis- 
tractio pensuum. 

Thomas a Kempis: De imit. Chriati. 
Lib. III, Kap. 2*. 

Die neuere Strafrechtswissenschaft geht davon aus, 
dass jeder § des Strafgesetzbuchs eine Norm — Gebot 
oder Verbot — und eine Strafdrohung enthält. So hat 
auch der § 175 des Strafgesetzbuchs für das deutsche 
Reich diese beiden Teile und zwar die Norm: Verbot 
des mannmännlichen Geschlechtsverkehrs, die Strafdroh- 
ung j Gefängnis (1 — 5 Jahre) und fakultativ auch Verlust 
der bürgerlichen Ehrenrechte. Die Folge dieser Rechts- 
anschauung ist zunächst, dass man nicht mehr sagen 
kann: der Verbrecher verletzt das Strafgesetz, sondern 
dass man richtig folgert: der Verbrecher verletzt die 
Norm, er handelt normwidrig. Darum verfällt er der 
angedrohten Strafe. Norm und Strafgesetz sind also etwas 
verschiedenes. Im Folgenden werden wir uns zunächst mit 
den „Normen" näher beschäftigen und ihren Schutz durch 
Strafdrohung betrachten nach Notwendigkeit und Nütz- 
lichkeit. Sodann werden wir die Norm des § 175 
eingehend betrachten und die Berechtigung der Straf- 



— 31 - 



drohung in diesen § prüfen. Der geneigte Leser wolle darum 
bei allen folgenden Ausführungen von vorn herein die 
Norm des § 175 immer im Auge behalten und alles 
Gesagte in Beziehung damit bringen. Das Resultat 
der Betrachtungen kann natürlich wieder nur das oft er- 
klungene„ceterumcenseo,paragraphuin essetollendum" sein. 
Das alte Lied muss aber immer wieder von neuem ge- 
sungen werden nach dem Erfahrungssatze: gutta cavat 
lapidem non semel sed saepe cadendo. 

Dringen wir nun ein in die Theorie der Strafrechts- 
Nornien und ziehen daraus die praktischen Konsequenzen 
für die mit schimpflicher Strafe bedrohte Liebe. 

Professor Dr. v. Liszt sagt in seinem Lehrbuch des 
deutschen Strafrechts (9. Aufl. S. 59 ff.) folgendes: 

Alles Recht ist um des Menschen willen da. Es 
bezweckt den Schutz menschlicher Lebensinteressen. Die 
Lebensinteressen entstehen durch die Lebensbeziehungen 
der einzelnen unter einander, wie der einzelnen zu Staat 
und Gesellschaft und umgekehrt. Wo Leben ist, da ist 
Kraft, die nach freier Bethätigung, nach ungehemmter 
Entfaltung und Gestaltung ringt. In unzählbaren Punkten 
berühren und durchschneiden sich die Willenskreise, 
greifen die Machtgebiete in einander über. Diesen Lebens- 
beziehungen entspringt das Interesse, welches der eine 
an dem für seine Bethätigung wichtigen Handeln und 
Nichthandeln des andern hat. Der Mieter will die ihm 
vermietete Wohnung beziehen, der Gläubiger das Dar- 
lehen vom Schuldner zurückerhalten; was ich durch meine 
Arbeit mir gewann, soll niemand mir nehmen oder be- 
schädigen, meinen guten Namen keiner antasten; der 
Staat verlangt Steuern und Heerdienst, der Bürger freie 
Meinungsäusserung in Wort und Schrift. Damit nicht 
der Krieg aller gegen alle entbrenne, bedarf es einer 
Friedensordnung, einer Abgrenzung der Machtkreise, des 
Schutzes dieser und der Zurückweisung jener Interessen. 



- 32 — 



Diese Aufgabe übernimmt der über den einzelnen 
stehende allgemeine Wille, er löst sie in der Rechts- 
ordnung: in der Scheidung der berechtigten von den un- 
berechtigten Interessen. 

Die Rechtsordnung grenzt die Machtgebiete von 
einander ab; sie bestimmt, wie weit der Wille sich frei 
bethätigen, wie weit er insbesondere fordernd oder ver- 
sagend in die Willenskreise anderer Rechtssubjekte tiber- 
greifen darf; sie gewährleistet die Freiheit, das Wollen- 
Dürfen und verbietet die Willkür; sie erhebt die Lebens- 
beziehungen zu Rechtsbeziehungen, die Lebensinteressen 
zu Rechtsgütern; sie schafft, Rechte und Pflichten an 
bestimmte Voraussetzungen knüpfend, aus dem Lebens- 
verhältnis das Rechtsverhältnis. Gebietend und ver- 
bietend, ein bestimmtes Handeln oder Nicht -Handeln 
unter bestimmten Voraussetzungen vorzeichnend, sind die 
Normen der Rechtsordnung der Schutzwall der Rechtsgüter. 

Rechtsgut und Norm sind die beiden Grund- 
begriffe des Rechts. Dem Rechtsgut den notwendigen 
Schutz zu gewähren, dazu ist die Norm berufen. Normen- 
schutz ist der Schutz der Rechtsgüter durch die Normen. 
Es ist der Rechtsschutz, den die Rechtsordnung den 
Lebensinteressen gewährt. 

Normen sind *) nach Binding Verbote oder Gebote 
von Handlungen. Sie sind so genannt worden, weil sie 
den handlungsfähigen Menschen als Richtschnur für ihr 
Verhalten und zwar als Schranke ihrer Freiheit dienen. 
Sie wollen ihnen sagen, was sie nicht dürfen und was 
sie müssen. Sie sind zu unterscheiden von den Ge- 
währungen d. h. von denjenigen Rechtssätzen, welche 
den Menschen sagen, was sie dürfen, die der mensch- 
lichen Freiheit das Feld ihrer zweckmässigen Bewegung 
auf dem Rechtsgebiete anweisen. Die Freiheit als das 

*) Binding: Handbuch des Strafrechte, Bd. I. S. 156. 



— 33 — 



„Dürfen" ist dem Gesetzgeber als Mittel zu seinen Zwecken 
ebenso unentbehrlich, wie die Beschränkung der Freiheit, 
das „Müssen* — das subjektive Recht ebenso wie die 
subjektive Pflicht. In dem richtigen Verhältnisse zwischen 
Gewährungen und Nonnen allein ruht die Gewähr für 
den Bestand der jeweiligen rechtlichen Ordnung. Die 
Normen sind zum Teil gesetzlich formuliert, wie in den 
Strafgesetzen, zum Teil nicht, weil sie als Erbschatz von 
Jahrtausenden jedermann geläufig sind und der Formulie- 
rung nicht bedürfen. Die Strafgesetze knüpfen an die 
in ihren Thatbeständen enthaltenen Normen eine Straf- 
drohung. 

Ein Teil der Normen hat sich vom grauen Altertum 
bis zur Gegenwart fast unverändert erhalten und ihre 
das Menschenleben zügelnde Kraft ist durch Jahrtausende 
hindurch unwandelbar dieselbe geblieben. Die zehn 
Gebote, welche noch heute den Grund- und Eckpfeiler 
unserer moralischen und rechtlichen Bildung ausmachen, 
sind nichts anderes als zehn Normen altjüdischen Volks- 
rechts. Ihre kurze imperative Form, die nichts birgt als 
Befehl (Du sollst nicht! Du sollst!), ist das Urbild aller 
Normen für alle Zeit geblieben. Die Norm niuss nur 
enthüllen, wer befiehlt, was und wem befohlen wird — 
nichts mehr und nichts weniger. Ihre Kraft schöpft sie 
aus der Autorität ihres Urhebers und aus der Vernünftig- 
keit derer, denen sie gilt. Ist sie doch meist nichts 
anderes als der sichergestellte Wille aller Einzelnen, er- 
hoben über Willkür und Egoismus. Die Norm ist ein 
reiner Imperativ: „ihr sollt! 4 „ihr sollt nicht!" Nicht, 
ist der Norm wesentlich ein Hinweis auf die Folgen ihrer 
Übertretung, eine Strafdrohung. Sie lautet nicht: „ihr 
sollt bei Strafe!« 

Das durch die Normen gesetzte Recht ist zunächst 
eine Friedensordnung. Der vernünftige Mensch wird 
darnach im eigenen und im wohlverstandenen Interesse 

Jahrbuch IT. 3 



— 34 — 



seiner Mitmenschen sein Handeln einrichten. Aber das 
Recht ist auch, und zwar seinem innersten Wesen nach, 
eine Kampfordnung (siehe v. Liszt a. a. O. S. 61). Um 
seinen Zweck zu erfüllen, bedarf es der Kraft, welche 
den widerstrebenden Einzelwillen niederbeugt. Hinter 
der Friedensordnung der Lebensbeziehungen steht die 
Staatsgewalt. Sie ist stark genug, ihren Normen Gehor- 
sam zu erzwingen, der logischen Verknüpfung von That- 
bestand und Rechtsfolge, wo es Not thut, thatsächliche 
Herrschaft zu verschaffen. So tritt ein neues Moment in 
den Begriff des Rechts: der Zwang. In drei Haupt- 
formen erscheint er uns: 1. Als Erzwingung der Erfüllung 
(Zwangsvollstreckung); 2. als Wiederherstellung der ge- 
störten Ordnung oder Entschädigung in Geld; 3. als Be- 
strafung des Ungehorsamen. 

Die letztere Form des Zwanges, die Bestrafung 
des Übertreters staatlicher Normen, ist die einschneidenste 
und doch nur mittelbare Bewährung der Rechtsordnung. 
Hier angelangt, haben wir nunmehr die Stellung der 
Strafe im Rechtssystem und damit die eigenartige Be- 
deutung des Strafrechte etwas näher zu betrachten. 

Ist die Aufgabe des Rechts überhaupt der Schutz 
menschlicher Lebensinteressen, so ist die eigenartige Auf- 
gabe des Strafrechts der verstärkte Schutz be- 
sonders schutzwürdiger und besonders schutz- 
bedürftiger Interessen durch Androhung und 
Vollzug der Strafe als eines den Verbrecher 
treffenden Übels. 

Warnend und abschreckend tritt die Straf- 
drohung zu den Geboten und Verboten der Rechts- 
ordnung hinzu. Dem rechtlich gesinnten Bürger zeigt 
sie in eindringlichster Form, welchen Wert der Staat 
seinem Befehle beigelegt; weniger feinfühligen Naturen 
stellt sie als Folge ihres rechtswidrigen Verhaltens ein 
Übel in Aussicht, dessen Vorstellung als Gegengewicht 



— 35 — 



den verbrecherischen Hang niederhalten soll, (General- 
prävention). Der Staat droht das Straf übel an und scheut 
im Strafvollzuge nicht zurück vor den schwersten that- 
sächlichsten Eingriffen in Leben, Freiheit, Ehre, Ver- 
mögen der Rechtsgenossen, vor tief einschneidender, nicht 
nur nach Tagen, Wochen und Monaten, sondern, wenn 
es sein muss, nach Jahren und Jahrzehnten zählender 
Massregelung des Verbrechers. Der Strafvollzug soll 
wirken : 

1. Auf die Gesanimtheit der Rechtsgenossen, indem 
er einerseits durch seine abschreckende Kraft die ver- 
brecherischen Neigungen im Zaume hält und andererseits 
durch die Bewährung der Rechtsordnung die rechtliche 
Gesinnung der Staatsbürger stärkt und sichert (General- 
prävention); 

2. Ebenso auf den Verletzten, dem er überdies die 
Genugthuung gewährt, dass der gegen ihn gerichtete 
rechtswidrige Übergriff nicht ungeahndet bleibt; 

3. Ganz besonders auf den Verbrecher selbst (Spezial- 
prävention). Je nach Inhalt und Umfang des Straf Übels 
kann das Schwergewicht der Wirkung, welche durch den 
Strafvollzug auf den Verbrecher ausgeübt wird, ver- 
schieden sein: 

a) Die Aufgabe der Strafe kann dahin gehen, den 
Verbrecher wieder zu einem brauchbaren Gliede der 
Gesellschaft zu machen (künstliche Anpassung, Adaption). 
Je nachdem es sich dabei in erster Linie um die Kräfti ge- 
ling der erschütterten Hemmungsvorstellungen oder um 
die umgestaltende Einwirkung auf den Charakter des 
Thäters handelt, kann man Abschreckung oder Besserung 
als die angestrebte Wirkung der Strafe unterscheiden. 

b) Die Aufgabe der Strafe kann dahin gehen, dem 
für die Gesellschaft unbrauchbar gewordenen Verbrecher 
die physische Möglichkeit zur Begehung weiterer Ver- 
brechen auf immer oder auf Zeit zu entziehen, ihn aus 

3* 



der Gesellschaft auszuscheiden (künstliche Selektion). 
Man spricht hier von der Unschädlichmachung des Ver- 
brechers. 

Die Rechtfertigung (der Rechtsgrund) der Strafe liegt 
mithin in ihrer Notwendigkeit und Zweckmässigkeit für 
die Aufrechterhaltung der Rechtsordnung und damit des 
Staates. Die Strafe ist gerecht, wenn und soweit sie not- 
wendig und zweckmässig ist. 

Nachdem wir so uns über das Wesen der „Normen" 
näher unterrichtet und die Berechtigung der Strafdrohung 
im Allgemeinen betrachtet haben, liegt es uns nun ob, 
die Norm des § 175*) und die Strafdrohung darin nach 
ihrem Rechtsgrunde mit kritischem Auge zu prüfen. 

Schöpft die Norm ihre Kraft „aus der Autorität 
ihres Urhebers", so kann als Quelle der Kraft zunächst 
der Wille Gottes in Frage kommen, wie wir ihn in der 
Bibel dem Menschen geoffenbart finden. Das alte Testa- 
ment enthält bezügliche Stellen im 3. Buch Mose Kap. 18 
V. 22, 29 und Kap. 20 V. 13. Die reine Norm enthält 
Vers 22: „Du sollst nicht bei Knaben liegen, wie beim 
Weibe, denn es ist ein Greuel.* Vers 29 enthält die 
Strafdrohung: „Denn welche diese Greuel thun, deren 
Seelen sollen ausgerottet werden aus ihrem Volk." 
Vers 13 wiederholt: „Wenn Jemand beim Knaben 
schläft, wie beim Weibe, die haben einen Greuel gethan 
und sollen beide des Todes sterben, ihr Blut sei auf 
ihnen.* Ein Verbot des geschlechtlichen Verkehrs 
zwischen erwachsenen Männern findet sich im alten Testa- 
mente nicht und es kann sich die Norm des § 175 hierauf 
nicht gründen. Den Verkehr mit Knaben verbieten heute 

*) Die Schrift: „Eros vor dem Reichsgericht. Ein Wort an 
Juristen, Mediziner und gebildete Laien zur Aufklärung über die 
„griechische Liebe" von einem Richter." Verlag von Max Spohr, 
Leipzig 1899. Mark 1.— erörtert die Rechtsprechung des Reichs- 
gerichts aus diesem § eingehend. 



— 37 — 



andere §§ des Strafgesetzbuches (so § 174 \ 176 8 ) und 
nur diese können mit Grund aus dem alten jüdischen 
Recht ihren Ursprung herleiten. Entgegengesetzter An- 
sicht ist Numa Prätorius in seinem vortrefflichen Auf- 
satz: „Die strafrechtlichen Bestimmungen gegen den 
gleichgeschlechtlichen Verkehr 1 * in Band I. dieses Jahr- 
buchs S. 97 ff. Er meint, dass im mosaischen Recht auch 
der Verkehr von erwachsenen Männern mit einander bei 
Todesstrafe offenbar verboten war, weil schon die blosse 
Onanie verpönnt und Onan deshalb von Gott getötet 
worden sei. (1. Mose 38, V. 9, 10). Die Erzählung von 
Onan wird aber meines Erachtens falsch verstanden. Ich 
meine, dass davon in jener Bibelstelle nichts gesagt ist, 
dass Onan dem Laster gefröhnt habe, welches man nach 
ihm benannt hat. Seine Verfehlung bestand vielmehr 
darin, dass er entgegen altjüdischem Brauch die kinder- 
lose Witwe seines Bruders Ger nicht schwängern wollte, 
da die Kinder nicht als die Seinigen, sondern als die 
seines Bruders gegolten haben würden. Darum verübte 
er den coitus interruptus, „auf dass er seinem Bruder 
nicht Samen gäbe. Da gefiel dem Herrn übel, das er 
that, und tötete ihn auch 1 *. Die Annahme des coitus 
interruptus erscheint mir viel natürlicher, wenn man er- 
wägt, dass dem Onan von seinem Vater Juda befohlen 
war, der Witwe des Bruders Kinder zu erzeugen, als dass 
Onan sich der Selbstbefleckung hingegeben haben sollte^ 
weil er dem Befehle seines Vaters nicht gehorchen wollte. 
An anderen Stellen ist, soweit mir bekannt, von jenem 
Laster im alten Testamente nicht die Rede und würde 
es darnach als strafbar nicht angesehen worden sein. 
Ausdrücklich verboten und mit Todesstrafe bedroht ist 
aber die Bestialität im 2. Buche Mose, Kap. 22, V. 19 
und im 5. Buch Mose, Kap. 27, V. 21. Auch hieraus 
will Numa Prätorius einen Schluss ziehen auf die Straf- 
fälligkeit des Geschlechtsverkehrs unter erwachsenen 



— 38 — 



Männern in der mosaischen Zeit. Ich meine aber gerade 
daraus, dass die Bestialität und der Verkehr mit Knaben 
ausdrücklich als normwidrig hingestellt und mit Strafe 
bedroht sind, folgern zu sollen, dass der Verkehr von 
Männern untereinander nicht als unerlaubt betrachtet 
worden ist Die Erzählung von Sodoms Untergang (1. Mose, 
Kap. 19) endlich spricht auch nicht für die Ansicht von 
Numa Prätorius. Sie ist für den Laien etwas dunkel- 

9 

doch scheint mir soviel klar, dass Lot den Bewohnern 
von Sodom die beiden fremden Männer, die er unter 
seinem Dache beherbergte, nicht herausgeben wollte, weil 
sie das geheiligte Gastrecht bei ihm genossen. Es steht 
dies im 8. Verse. Dass Lot die Sodomie besonders ver- 
abscheut und darum die Herausgabe der Männer ver- 
weigert habe, weil die Sodomiter sie „erkennen" wollten, 
ist nicht gesagt. 

Die Norm des § 175 — Verbot des Geschlechts- 
verkehrs mit Männern — entstammt also dem alten 
Testamente und dem darin geäusserten Willen Gottes 
nicht. Ich wiederhole hier, dass § 175 hauptsächlich 
nur den Verkehr unter Männern betrifft. Den Verkehr 
mit Knaben unter 14 Jahren verbietet § 170,3 bei Zucht- 
hausstrafe. Personen über 14 Jahre werden als Er- 
wachsene angesehen. Ob die Altersstufe nicht höher 
hinaufzuschieben, ist eine Frage de lege ferenda. Vor 
ihren Vormündern, Lehrern und anderen Respektspersonen 
sind junge Männer bis zum vollendeten 21. Lebensjahre 
schon jetzt gegen geschlechtliche Angriffe geschützt 
(§ 174,1). Wenn also § 175 von „Personen männlichen 
Geschlechts* spricht, so sind damit die unerwachsenen 
männlichen Personen (unter 14 Jahren), also die Knaben, 
nicht mit gemeint, während die Jünglinge (über 14 Jahre) 
den Männern zuzurechnen sind. 

Finden wir nun im neuen Testament die Norm 
des § 175? Hier kommt zunächst eine Stelle im 1. Briefe 



- 39 — 



Pauli an die Korinther in Betracht, welche lautet: „Wisset 
ihr nicht, dass die Ungerechten werden das Reich Gottes 
nicht ererben? Lasst euch nicht verführen: weder die 
Hurer, noch die Abgöttischen, noch die Ehebrecher, noch 
die Weichlinge, noch die Knabenschänder, noch die 
Diebe, noch die Geizigen, noch die Trunkenbolde, noch 
die Lästerer, noch die Räuber werden das Reich Gottes 
ererben.* (Kap. 6, V. 9, 10). Der Apostel Paulus ver- 
dammt alle Fleischeslust, erwähnt aber ausdrücklich hier 
nur die Knaben Schänder, also die eigentlichen Urninge 
nicht. Eine zweite bezügliche Stelle finden wir im 1. Briefe 
Pauli an die Römer (Kap. 1, V. 27), welche die Männer- 
liebe zu verurteilen scheint. Der Apostel geisselt hier 
die Sünder unter den Heiden und spricht dabei auch 
von den „Männern, welche den natürlichen Gebrauch des 
Weibes verlassen haben und sind aneinander erhitzt in 
ihren Lüsten und haben Mann mit Mann Schande ge- 
trieben, und den Lohn ihres Irrtums (wie es denn sein 
sollte) an ihnen selbst empfangen." Nach Gottes Gerechtig- 
keit seien sie des Todes würdig (Vers 32). Der Ver- 
fasser einer gediegenen und interessanten Schrift: „Laster 
oder Unglück?"*) meint, dass auch hier die wirklichen 
Urninge nicht gemeint seien (S. 25), da diese dem Weibe 
niemals beigewohnt hätten, es also auch nicht verlassen 
konnten. Die Stelle bezöge sich auf Kynäden und tiber- 
sättigte Lüstlinge. Ich möchte dieser Ansicht jedoch 
nicht ohne Weiteres beipflichten. Wo es auf die Wort- 
auslegung ankommt, dürfte theologische Forschung bei 
Beherrschung der Ursprache des Paulinischen Textes nur 
entscheiden können. Mag aber auch der Apostel Paulus 



*) „Laster oder Unglück? oder besteht der § 175 zu Recht? 
Eine Gewiasensfrage an das deutsche Volk von einem Freunde der 
Wahrheit/ (117 S.) Leipzig 1899, Verlag von Max Spohr. Mk. 1.20. 



— 40 — 



die Männerliebe schlechtbin als sündhaft ansehen, so muss 
man, wenn man im neuen Testamente nach der Rechts- 
norm, dem Verbot der Männerliebe, forscht^ doch weiter 
fragen, ob Paulus diese seine Ansicht aus den Lehren 
Christi geschöpft hat? Dies dürfte nicht der Fall sein. 
„ Christus hielt wahrlich nicht mit seinen Worten hinter 
dem Berge, er rtigt> wo er rügen will. Verhältnisse, wie 
sie die Lieblingminne mit sich bringt, hat er nie mit 
einem offenen Wort verurteilt. Es findet sich keine solche 
Stelle in sämtlichen Evangelien. Lag es nicht gerade 
im Orient nahe, davor zu warnen, wo diese Verhältnisse 
gang und gäbe sind, und gar in einer Zeit, da sich der 
griechische Geist so stark in Palästina verbreitet hatte. 
Wir erfahren nur eins immer wieder, dass Christus einen 
Jünger hatte, den er vor allen liebte, obwohl es doch 
selbstverständlich war, dass er ihn als seinen Nächsten 
lieb hatte; aber es wird stets betont, dass er zu ihm in 
inniger, persönlicher Beziehung stand. Und die ganze 
christliche Kunst hat es nicht anders verstanden, als dass 
sie diesen Jünger Johannes als einen schönen Jüngling 
von zartem Geroüte darstellte. Ich ziehe deshalb noch 
keine übereilten Schlüsse." So sagt Elisar von Kupfer 
in seinem Aufsatz*): „Die ethisch-politische Bedeutung 
der Lieblingminnen. Einleitung zu der demnächst er- 
scheinenden Sammlung : Lieblingminne und Freundesliebe 
in der Weltliteratur (Adolf Brands Verlag Berlin-Neu- 
rahnsdorf)*. Auch ich will weitere Schlüsse nicht ziehen, 
so verlockend es auch ist, die göttliche Liebe Christi zu 
dem Jünger Johannes menschlich näher ahnungsvoll zu 
betrachten. Der gläubige Christ darf sich meines Er- 
achtens an diese Aufgabe nur wagen, wenn er sich durch 
gründliche theologische Forschungen dazu geschickt ge- 



*) Abgedruckt in Heft 6, 7 (Oktober 1899) des „Eigenen-, 
Herausgeber Adolf Brand, Berlin-Neurahnsdorf. Monatsheft 40 Pfg. 



— 41 — 



macht hat. Laienhafte Bibelforschung hat von jeher zeit- 
weilig die thörichte8ten Resultate gezeitigt. Ich kann mir 
aber nicht versagen, das folgende Gedicht aus Heft 4|5 
(September 1899 des „Eigenen" S. 171) hier zur Anregung 
zum Abdruck zu bringen: 

Der LieblingsjUnger. 
Es war am See Genezareth . . . 
Zwei junge Männer warfen Netze 

Nach Fischen aus. 
Im blonden Haar des einen Jünglings 
Verfing die müde Sonne sich. 

Und Jesus Christus ging vorüber. 

„Willst Du mir folgen, Freund Jakobus? 

Und Du — Johannes ? u 
Der Jünger warf den weissen Mantel 
Um seine lichtgebräunten Glieder — 
Sah ihn begeistert an und — folgte . . . 

* 

„Man führt Dich einst, wohin Du nicht willst. u 

So kündete er Simons böses Ende. 

Und Simon deutet auf den schönen Jüngling, 
Der Jesus an der Brust gelegen, 
Das Pochen seines Herzens fühlte: 

„Herr, Herr, was wird aus Diesem V a 

„Und wenn ich wollte, dass er ewig lebte, 

Was geht es Dich an, Simon Petrus V!" 

Und damit wandte sich der Heiland, 

Gefolgt von seinem Lieblingsjünger. 

Und zu den Anderen sagte Simon: 

„Uns ist er Freund, doch jenen liebt er." 

Hierzu sind die folgenden Bibelstellen nachzulesen: 
Evang. Matthäi Kap. 4 Vers 18 ff., Evang. Johannis 
Kap. 21 Vers 18 ff. und Kapitel 13 Vers 23. Auch soll 
hier noch auf Vers 21 des 10. Kapitels im Evang. Marci 
hingewiesen werden, wo vom „reichen Jüngling" erzählt 
wird. 



— 42 — 



Kehren wir vom Gebiete der Poesie zurück zur 
prosaischen Normentheorie, so kommen wir zu dem 
Resultat, dass die Norm des § 175 in der Lehre Christi 
ihren Grund nicht findet, wiewohl doch sonst die ge- 
waltigsten, alle menschlichen Lebensinteressen auf das 
Einschneidenste berührenden Normen der Lehre Christi 
entstammen. Ich erinnere einzig nur an das Gebot: Du 
sollst Gott über alles lieben und deinen Nächsten als 
dich selbst Es ist dies Gebot auch im Rechtsleben wirk- 
sam geworden, indem es dem rücksichtslosen römischen 
Recht mit seinen starren Konsequenzen heilsame Grenzen 
zog. Das kanonische Recht basiert auf Christi Lehre ; seine 
Normen — natürlich nicht alle — schöpfen aus ihm 
ihre Kraft. 

Wenn nun die Norm des § 175 auf die Autorität 
der Bibel, den erklärten Willen Gottes, sich nicht stützen 
kann, so fragt es sich, ob sie etwa „der sicher gestellte 
Wille aller Einzelnen, erhoben über Willkür und Egois- 
mus/' ist, getragen von der „Vernünftigkeit derer, denen 
sie gilt." Auch diese Frage wird man nicht bejahen 
können. Nicht bei allen Völkern und nicht zu allen 
Zeiten ist die Männerliebe und der Geschlechtsverkehr 
unter Männern verboten gewesen oder auch nur als schimpf- 
lich angesehen worden. Ich nehme hier auf den bereits 
erwähnten Aufsatz: „Die strafrechtlichen Bestimmungen 
gegen den gleichgeschlechtlichen Verkehr 14 von Numa 
Prätorius im Band I dieses Jahrbuchs Seite 97 ff. Be- 
zug. Die anregend geschriebene, gründliche Arbeit sagt 
uns alles hier einschlägliche. 

Eins ist noch hervorzuheben. Wenn der Gesamt- 
wille als Träger einer Norm erscheinen soll, so dürfen 
demselben nicht . zu viele abweichende Einzelwillen ent- 
gegenstehen, sonst wäre er nicht mehr der Wille aller. 
Man wird zugeben müssen, dass der Norm des § 175 
wohl der Wille einer grossen Majorität zu Grunde liegt, 



— 43 — 



dass aber zu allen Zeiten und bei allen Völkern doch 
auch die Zahl derer nicht klein gewesen ist, die das 
Verbot nicht gewollt haben. 

Nachdem wir so den angeblichen Ursprung der 
Norm des § 175 erörtert haben, kommen wir nunmehr 
zur Forschung nach ihrem inneren Grunde. Die Norm 
wahrt Lebensinteressen, indem sie Rechtsgtitern zum 
Schutz dient, den Bestand der Rechtsordnung gewähr- 
leistet. Welches Rechtsgut ist es nun, welches, bedroht, 
von der Norm des § 175 geschützt werden soll? Ist 
dies Rechtsgut so schutzwürdig und schutzbedürftig, dass 
der durch Androhung von Strafe verstärkte Schutz not- 
wendig und gerechtfertigt ist? 

von Liszt sagt in seinem Lehrbuch des deutschen 
Strafrechts (S. 307 if.): Rechtsgut als Gegenstand des 
Recht Schutzes ist in letzter Linie stets das menschliche 
Dase in in seinen verschiedenen Ausgestaltungen. Dieses 
ist das Rechtsgut, d. h. der Kern aller rechtlich ge- 
schützten Interessen. Das menschliche Dasein aber er- 
scheint entweder als das Dasein des als Einzelwesen 
betrachteten Menschen oder als das Dasein des Einzelnen 
in der Gesamtheit der Rechtsgenossen. Alle durch 
das Verbrechen angegritfenen, durch das Strafrecht ge- 
schützten Interessen zerfallen demnach in Rechtsgüter 
des Einzelnen und in Rechtsgüter der Gesamtheit. 

Bei den Rechtsgütern der Gesamtheit lassen 
sich drei Gruppen unterscheiden: 

1. Die Gesamtheit wird uns dargestellt durch den 
Staat als solchen — 

2. Die Bethätigung, die Arbeit der Gesamtheit durch 
die schützende und fordernde Staatsverwaltung — 

C. Die Kraft, welche das Ganze zusammenhält und 
die einzelnen Glieder in Bewegung setzt, durch die 
Staatsgewalt als Abstraktum wie in ihren Organen. 

Alle drei bedürfen des rechtlichen Schutzes und es 



— 44 — 



zerfallen demnach die strafbaren Handlungen gegen die 
Gesamtheit in folgende Unterabteilungen: 

1. Verbrechen gegen den Staat: Hochverrat, Landes- 
verrat, Majestätsbeleidigung und andere; 

2. Verbrechen gegen die Staatsverwaltung: strafbare 
Handlungen im Amte, die Eidesverbrechen, strafbare 
Handlungen gegen die Rechtspflege, die Verwaltung des 
Kriegswesens, die Handels- und Gewerbepolizei, das Ge- 
werbewesen, das Schiffahrtswesen, das Finanzwesen und 
andere; 

3. Verbrechen gegen die Staatsgewalt: Aufruhr, Auf- 
lauf, Widerstand gegen Beamte, Gefangenenbefreiung, 
Arrestbruch und andere. 

Ebenso bedürfen des Schutzes die Rechtsgüter 
des Einzelnen. 

Wenn das Dasein des Einzelwesens Gegenstand des 
Rechtsschutzes sein soll, so bedeutet das: Die Rechts- 
ordnung als Friedensordnung gewährleistet dem Einzelnen 
die ungestörte Bethätigung seiner Eigenart. 
Das ist das oberste Rechtsinteresse des Einzelnen, das 
Rechtsgut desselben. Aus der verschiedenen Richtung 
dieser Betätigung muss sich die Einteilung der 
Rechtsgüter des Einzelnen ergeben. 

Der Schutz ungestörter Bethätigung der Eigenart 
schliefst in sich erstens als die Voraussetzung aller 
menschlichen Bethätigung den Schutz des körperlichen 
Lebens, der leiblichen Unversehrtheit. Diese bildet 
demnach das erste und wichtigste aller Rechtsgüter des 
Einzelnen. Die strafbaren Handlungen gegen die körper- 
liche Unversehrtheit sind: Tötung, Körperverletzung und 
sonstige Gefährdung von Leib und Leben (Aussetzung, 
Vergiftung, Raufhandel, Zweikampf, Abtreibung). 

Der Schutz ungestörter Bethätigung der Eigenart 
'jiufasst weiter alle diejenigen Richtungen der Bethätigung, 
wvlche als höchstpersönliche Aeusserurigen des Individiums 



- 45 — 



untrennbar mit diesen verbunden sind. Wir gewinnen 
damit eine zweite grosse Gruppe von Interessen, welche 
als unkörperliche (immaterielle) .Rechtsgüter 
zusammengefasst werden können. Hierher gehören: 
1. Die persönliche Geltung im Kreise der Rechtsgenossen 
(die Ehre); 2. die persönliche Freiheit; 3. die freie 
Verfügung über den eigenen Leib im geschlechtlichen 
Verkehr (Geschlechtsehre) sowie die Wahrung des 
sittlichen Gefühls; 4. Die Familienehre; 5. die 
ungestörte Bethätigung des religiösen Lebens; 6. das 
freie Schalten und Walten in Haus und Hof (Haus- 
recht), sowie die Wahrung des persönlichen und geschäft- 
lichen Lebens vor unberufenem Eindringen (Brief- 
geh eimniss u. s. w.); 7. das Bewusstsein, in allen Rich- 
tungen der Bethätigung des Schutzes der Friedensordnung 
gewiss sein zu dürfen (Rechtsfrieden). Dessen Störung 
durch Bedrohung mit der Begehung eines Verbrechens 
ist darum verpönt. 

Von den unkörperlichen Rechtsgütern hebt sich eine 
dritte, von ihnen in jeder Beziehung verschiedene 
Gruppe von Interessen des Einzelnen scharf ab: die der 
Vermögensrechte. Ihr Unterschied von jenen ist 
mit dem Hinweise gekennzeichnet, dass sie nicht höchst- 
persönliche, mit dem Einzelwesen untrennbar verbundene 
Interessen desselben sind: die in den Vermögensrechten 
stofflich gebundene Bethätigung des Einzelnen begründet 
für diesen eine Herrschaft über Sachen oder Personen, 
welche von ihm losgelöst, auf andere übertragen, in Geld 
abgeschätzt werden kann. Als strafbare Handlungen 
gegen Vermögensrechte stellen sich insbesondere dar: 
Diebstahl, Sachbeschädigung, unbefugtes Jagen, Untreue, 
Betrug, Erpressung, Wucher. 

Zwischen die rein unkörperlichen Rechtsgüter und 
die Vermögensrechte tritt nun aber, den Uebergang von 
den einen zu den andern vermittelnd, noch eine vierte 



— 46 — 



besondere Gruppe rechtlich geschützter Interessen, welche 
in sehr bezeichnender Weise „Individualrechte* ge- 
nannt worden sind. Der Schriftsteller, der Künstler, der 
Erfinder, der Gewerbsmann haben ein Interesse daran, 
den wirtschaftlichen Erfolg ihrer Thätigkeit für sich zu 
verwerten. Das Recht gewährleistet ihnen dieses Interesse, 
indem es einerseits dem „Urheber" das ausschliessliche 
Recht einräumt, seine Schöpfung zu verwerten, anderer- 
seits den „unlauteren Wettbewerb,* der die Früchte 
fremder Thätigkeit sich anzueignen sucht, allgemein oder 
doch in bestimmten Erscheinungsformen unter Strafe 
stellt. Zu den strafbaren Handlungen gegen Individual- 
rechte gehören namentlich Nachdruck, Verletzungen des 
Urheberrechts an Werken der bildenden Kunst, an Photo- 
graphien, an Mustern und Modellen, Verletzungen des 
Patentrechtes, des Firmen- und Namenrechts, Verrat von 
Fabriks- und Geschäftsgeheimnissen. 

Zu einer fünften Gruppe endlich gehören die 
durch die Art, insbesondere durch das Mittel, nicht 
durch den Gegenstand des Angriffs gekennzeichneten 
Verbrechen: der Missbrauch staatlicher Einrich- 
tungen, sowie menschlicher Entdeckungen und 
Erfindungen zur Bekämpfung rechtlich geschützter 
Interessen. Indem der Staat diese Handlungen mit Strafe 
bedroht und dadurch eine neue Gruppe eigenartiger Ver- 
gehungen schafft, stempelt er nicht etwa neue, bisher 
nicht vorhandene oder nicht geschützte Interessen zu 
neuen Rechtsgütern, sondern er vervollständigt die Rüst- 
kammer der Waffen zum Schutze längst vorhandener 
und längst, wenn auch ungenügend, geschützter Interessen. 
Hierher gehören die gemeingetährlichen Verbrechen als 
Brandstiftung und Ueberschwemmung, Gefährdung des 
Eisenbahn- und Telegraphenbetriebes, Verletzung der 
Anordnungen zur Verhütung ansteckender Krankheiten, 
Vergiftung von Brunnen, Nichterfüllung von Lieferungs- 



— 47 — 



Verträgen, Verletzung der Kegeln der Baukunst, sowie 
der Missbrauch von Sprengstoffen einerseits, Waaren-, 
Geld- und Urkundenfälschung andererseits. 

Der von uns jetzt gewonnene Ueberblick über die 
gesamten Rechtsgüter, soweit sie vor normwidrigen 
Angriffen durch Strafdrohung geschützt werden, ermög- 
licht uns eine sichere und zutreffende Erkenntnis des 
„ Rechtsguts*, des § 175, um das es sich für uns handelt ; wir 
haben seine Stelle im Strafrechtssystem gefunden und wird es 
nun unsere Aufgabe sein, diejenige Gruppe der Rechts- 
güter näher zu betrachten, zu welchen es gehören soll. 

Fassen wir wiederum ins Auge, dass die strafbaren 
Handlungen sich richten gegen Rechtsgüter der Gesamt- 
heit und gegen Rechtsgüter des Einzelnen und die 
letzteren unter anderen gegen die körperliche Unversehrt- 
heit sowie gegen unkörperliche Rechtsgüter. In die 
strafbaren Handlungen gegen unkörperliche Rechtsgüter 
waren einzureihen die Vergehen gegen geschlechtliche 
Freiheit uud sittliches Gefühl. Wir wollen nun mit 
v. Liszt (a. a. O. S. 379 ff.) diese Vergehen näher betrachten, 
namentlich das hier geschützte Rechtsgut und Ge- 
schichtliches. 

Die geschlechtliche Sittlichkeit d. h. die 
Einhaltung der durch die jeweilige Sitte dem geschlecht- 
lichen Verkehr gezogenen Schranken, ist kein um seiner 
selbst willen geschütztes Rechtsgut der Gesamtheit, 
wenigstens nicht nach unserer heutigen Auffassung. Der 
christliche Staat hat in dem Rechtsinstitut der Ehe dem 
Geschlechtsleben seine Bahnen gewiesen und damit den 
mächtigsten aller Naturtriebe in den Dienst der gesell- 
schaftlichen Zwecke gestellt; dem ausserehelichen Ge- 
schlechtsleben widmet er seine Aufmerksamkeit nur, wenn 
und insoweit es in den Rechtskreis Einzelner ver- 
letzend oder gefährdend eingreift. 

Nach zwei Richtungen hin kann dies der Fall sein; 



— 48 — 



1. Zunächst verlangt die freie Selbstbestimmung 
über den geschlechtlichen Verkehr rechtlichen 
Schutz; ein eigenartiges, mit dem Rechtsgute der Frei- 
heit nahe verwandtes Interesse, welches aber wegen der 
sozialen Bedeutung des Geschlechtslebens auch mit der 
Ehre, wegen dessen physiologischer Wichtigkeit (ins- 
besondere für das Weib), auch mit der körperlichen 
Unversehrtheit in den nächsten Beziehungen steht. 

Den Uebergang von den Freiheits- zu den Sittlich- 
keitsverbrechen bildet die Entführung. Musterfall für 
die gewaltsame Verletzung der geschlechtlichen Freiheit 
ist die Notzucht. Der Gewalt aber steht der Miss- 
brauch des in besonderen Verhältnissen begründeten 
Einflusses, sowie die Benutzung des Irrtums oder 
der Unerfahrenheit des zu missbrauchenden Opfers 
(die Verführung) gleich. 

2. Neben der geschlechtlichen Freiheit schützt der 
Gesetzgeber das sittliche Gefühl des Einzelnen, d. h. 
die gemütlich betonten sittlichen Vorstellungen, gegen 
Verletzung durch Aergernis erregende unzüchtige Hand- 
lungen Anderer. 

Die Anschauung über die Stellung der staatlichen 
Strafgewalt zu den Verletzungen der Sittlichkeit haben 
in verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Völkern 
vielfache Wandlungen durchgemacht. 

Das römische Recht hat, von vereinzelten Be- 
stimmungen abgesehen, bis in das 8. Jahrhundert hinein 
der Stadt die Ahndung der Vergehen gegen die Sitt- 
lichkeit der Strafgewalt des Hausvaters sowie der cen- 
sorischen Rüge überlassen. Erst als die allenthalben im 
Gefolge von Ehelosigkeit und Kinderscheu eingerissene 
Verwilderung der Sitten die Grundlagen des Staates zu 
zerstören drohte, stellte die wesentlich im öffentlichen 
Interesse erlassene lex Julia de adulteris coercendis vom 
Jahre 736 a. n. c. (18 p. Chr. n.) — D. 48,5 C. 9,9 eine 



— 49 — 



Anzahl von Sittlichkeitsvergehen, und zwar adulterium, 
lenocinium, stuprum, incestus unter öffentliche Strafe. 
Als stuprum wurde der nicht gewaltsame Beischlaf des 
Mannes mit einer virgo vel vidua honeste vivens, nicht 
aber der Konkubinat oder der Verkehr mit einer meretrix, 
erklärt. 

Dem frühern deutschen Mittelalter ist der • 
öffentliche Gesichtspunkt bei Bestrafung der Sittlichkeits- 
vergehen im wesentlichen fremd. Das einfache stuprum 
wird als Eingriff in die Mundschaft mit einer Busse an 
die Gewalthaber gesühnt; Todesstrafe dagegen trifft die 
freie Frau, die bei ihrem Knechte schläft Auch die 
Auffassung des kanonischen Rechts, welches die 
Unsittlichkeit als Sünde betrachtete und bis zu den Ge- 
danken und Wünschen herab unter Strafe stellte, war 
nicht im stände, den thatsächlichen Verhältnissen Rech- 
nung zu tragen und Klarheit über das rechtliche Wesen 
der Sittlichkeitsvergehen zu verbreiten. So erklären sich 
die Zustände des späteren Mittelalters mit seinen 
nicht blos geduldeten, sondern anerkannten und vielfach 
mit besonderen Rechten ausgestatteten städtischen 
Frauenhäusern. 

Die peinliche Gerichts-Ordnung Kaiser Karls V. 
(constitutio criminalis Carolina) von 1533 bedroht, der 
deutschrechtlich-kanonischen Auffassung folgend, unter 
den Sittlichkeitsverbrechen in den Artikeln 116 — 123 
Sodomie, Blutschande, Entführung, Notzucht, Doppelehe 
und Kuppelei mit Strafe. Ergänzend griffen die Reichs- 
gesetze des 16. Jahrhunderts, besonders die Reichspolizei- 
ordnungen von 1530, 1548 und 1577 ein. Sie bestrafen 
stuprum voluntarium, fornicatio (cum meretrice), Konku- 
binat (zur Unehe besitzen), Halten von Bordellen usw. 
mit Geldstrafe oder Gefängnis; daneben war bis ins 
18. Jahrhundert hinein öffentliche Kirchenbusse für ge- 
fallene Mädchen üblich. Auch der geschlechtliche Verkehr 

Jahrbuch II. 4 



— 50 — 



zwischen Christen und Juden wurde, wie im späteren 
Mittelalter, noch zur Zeit des gemeinen Rechts „inter- 
pretative* als ein Fall der widernatürlichen Unzucht be- 
handelt, doch geriet die Todesstrafe für dieses Vergehen 
schon im 17. Jahrhundert in Vergessenheit Andererseits 
verhängt noch Toskana 1786 dafür harte Strafe. Die 
Landesgesetzgebung des 17. und 18. Jahrhunderts erschöpft 
sich in zahlreichen, meist vergeblichen Straf drohungen 
gegen Unsittlichkeit, während die Rechtsprechung die 
strengen Strafen der Peinlichen Gerichtsordnung durch 
weitgehende Einschränkungen des Thatbestandes zu 
mildern bestrebt ist. So wird zur Vollendung bei straf- 
barem Beischlaf immissio, bei anderen unzüchtigen Hand- 
lungen emissio seminis verlangt. 

Gegenüber der masslosen Erweiterung der staatlichen 
Straf drohungen trat ein Rückschlag im Laufe des 18. Jahr- 
hunderts unter dem Einflüsse der Aufklärungslitteratur 
ein, welche hauptsächlich vertreten von Voltaire, Hommel, 
Cella, Soden, Michaelis, aber unter dem Widerspruche 
von Gmelin, Filangieri u. a. für die Sittlichkeitsvergehen 
möglichst geringe Strafen verlangte, da durch sie niemand 
beleidigt und auch der Staat nicht in Gefahr gebracht 
werde; dabei machte sich vielfach die, allerdings er- 
fahrungsgemäss wenig zutreffende Ansicht geltend, dass 
die durch den ausserehelichen Geschlechtsverkehr erzielte 
Nachkommenschaft an körperlicher und geistiger Tüchtig- 
keit die im Ehebette erzeugten „blöden und dummen 
Pflanzen* (Hommel) weit übertreffe. 

Erst allmählich und nur unter fortwährenden Schwank- 
ungen gelang es der Wissenschaft und Gesetzgebung des 
19. Jahrhunderts den richtigen, oben dargelegten Stand- 
punkt für Auffassung und Behandlung der Sittlichkeits- 
vergehen zu finden. Doch ist diese Bewegung noch 
keineswegs abgeschlossen und insbesondere die Behand- 
lung sowohl der widernatürlichen Unzucht als auch der 




— 51 — 



Kuppelei in dem Strafgesetzbuch für das deutsche Reich 
sehr wenig befriedigend, (v. Liszt a. a. O. S. 382.) 

Aus allem Gesagten geht klar hervor, dass die Norm 
des § 175 in dem System des Rechtsgüterschutzes 
eine Stelle nicht haben kann und dass ihr be- 
sonderer Schutz durch Strafdrohung völlig un- 
gerechtfertigt ist. Die Rechtsgüter, welche in 
Betracht kommen, sind die geschlechtliche Fr eiheit 
und das sittliche Gefühl. Die geschlechtliche 
Freiheit des Einzelnen wird in keiner Weise gestört, 
wenn erwachsene Personen männlichen Geschlechts in 
vollem Einverständnis mit einander geschlechtlich ver- 
kehren. Das sittliche Gefühl kann verletzt werden, 
wenn dritte die That sehen und Aergernis daran nehmen. 
Hier gewährt aber bereits § 183 des Strafgesetzbuches 
den nötigen Schutz. Die öffentliche Erregung eines Aerger- 
nisses durch eine unzüchtige Handlung ist darin mit 
Strafe bedroht (z. ß. auch die öffentliche Vollziehung 
des Beischlafs zwischen Ehegatten.) 

Es muss hier noch betont werden, dass der Einzelne 
in seinem sittlichen Gefühl als einem Rechtsgut nur in- 
soweit geschützt werden kann, als er vor unmittelbarer 
Wahrnehmung unzüchtiger Handlungen behütet zu werden 
vermag, durch Verbot und Straf drohung. Das sittliche 
Gefühl kann aber auch verletzt werden durch nach- 
trägliches Bekanntwerden unsittlicher sowie aller 
anderen strafbaren Handlungen (Mord, Diebstahl usw.). 
Es wird aber niemand dafür bestraft, dass er das sitt- 
liche Gefühl anderer verletzt hat, denen die von ihm 
begangene Strafthat, nachträglich bekannt geworden ist. 
Soweit geht der Schutz des sittlichen Gefühls als eines 
Rechtsgutes nicht. 

Wenn also das sittliche Gefühl einzelner durch 
Wahrnehmung geschlechtlicher Akte zwischen Männern 
verletzt wird, so kommt die Strafvorschrift des § 183 in 

4* 



— 52 — 



Anwendung. Nachträgliches Bekanntwerden wird nicht 
bestraft. Das besondere Verbot des § 175 ist da- 
her insoweit überflüssig. 

„Die gewerbsmässige männliche Unzucht, die einzige, 
welche Gefahren bietet, konnte durch eine geänderte 
Fassung des § 361 ö des Str.-G.-B. unschädlich gemacht 
werden", sagt v. Liszt (a. a. O. S. 401). Er bezeichnet 
die Strafdrohung des § 175 als einen bedenklichen 
Uebergriff in ein dem Rechte fremdes Gebiet (S. 380). 

Die Norm des § 175 — Verbot des Geschlechts- 
verkehrs unter Männern — findet in dem heutigen Straf- 
rechtssystem, in der Lehre vom Rechtsgüterschutz, eine 
Stelle nicht. Dieser Verkehr verletzt kein zu schützendes 
Rechtsgut. 

Nach dem heutigen Stande der Kriminologie 
und Poenologie muss die Aufhebung des § 175 
kategorisch gefordert werden. 



Ein bisher ungedrucktes Kapitel 
Uber Homosexualität 

aus der 

„Entdeckung der Seele" 

von 

Professor Dr. med. Gustav Jäger in Stuttgart. 



Vorwort. 

Bei Abfassung der zweiten Auflage meiner ,Ent- 
deckungderSeele* (Leipzig, E. Günthers Verlag, 1 879) 
gewann ich unerwartet einen Mitarbeiter auf dem Gebiete 
des Fortpflanzungstriebes, der mich mit so massenhaftem 
Beobachtungsmaterial überhäufte, dass schon die Menge 
verbot, alles in dem Buche unterzubringen. Ausserdem 
verbot sich das auch durch seinen Inhalt. Hätte das 
Buch alle diese teilweise ja naturgemäss obscönen Be- 
obachtungen aufgenommen, so hätte das den Anschein 
erweckt, als beabsichtige man eine Spekulation auf den 
Sinneskitzel und eine Sensationsm acherei, während das 
Buch ein wissenschaftliches sein und bleiben sollte. 

Anmerkung de» Herausgebers: Wir sind Herrn Prof. 
Jäger dankbar, dass er uns für das Jahrbuch das obige Manuskript 
zur Verfügung stellte. Seitdem dasselbe geschrieben, sind mehr als 
zwanzig Jahre vergangen, sodass manches mittlerweile anderweitig 
ähnlich ausgeführt ist, doch bleibt noch eine Fülle neuen und be- 
merkenswerten Materials übrig. Was die theoretischen Auffassungen 
des geschätzten und berühmten Autors anlangt, so hielten wir es 
für unsere Pflicht, dieselben ungekürzt wiederzugeben, ohne da>s 
wir uns in allen Punkten mit denselben identifizieren möchten. 



— 54 — 



Andererseits hielt ich diese dem Leben entnommenen 
und mit to tiefem Verständnis gemachten Beobachtungen 
für so wichtig, dass ich damals sofort beschloss, alles 
aufzubewahren und später in einem geeigneten Zeitpunkt 
damit hervorzutreten. Diesen Zeitpunkt halte ich jetzt 
für gekommen. Durch die Petition an den Reichstag 
mit den daran sich anschliessenden Verhandlungen, durch 
die Herausgabe des vorliegenden Jahrbuches ist das 
Thema, welches in den Mitteilungen meines Correspon- 
denten den breitesten Raum einnahm und das Verfäng- 
lichste für die Veröffentlichung war, seines kitzlichen 
Charakters beraubt und der Aufklärung auch soweit 
näher gebracht, dass man sicher sein kann, für jede sach- 
liche Besprechung ernsthafte Aufmerksamkeit zu finden. 

Persönlich möchte ich bemerken : Mein Correspondent 
ist jetzt längst tot, und da er keine Angehörigen, die ihm 
näher standen, hinterliess, so könnte ich, ohne Vorwürfe 
befürchten zu müssen, seinen Namen nennen, allein ich 
glaube, es ist nicht nötig. Nötig ist es vielleicht, etwas 
über seine Behandlung der Sache zu sagen. Hierzu 
möchte ich mich einer Anekdote bedienen, die ich ein- 
mal — ich weiss nicht mehr wo — las. 

Eine Akademie schrieb einen Preis für die beste 
Arbeit über das Kamel aus. An dem Wettbewerb be- 
teiligten sich ein Deutscher, ein Franzose und ein 
Engländer. Der Erste suchte alle Werke aller Zeiten 
und aller Völker auf, in denen vom Kamel die Rede 
ist, und wurde damit bis an sein Lebensende nicht fertig. 
Der Franzose studierte seinen Buflbn und betrachtete 
sich die Kamele im jardin des plantes. Der Engländer 
reiste in den Orient, kaufte sich ein Kamel und ritt 
darauf in der Wüste umher. 

Unser Verfasser war kein Engländer, aber er folgte 
bei seinem Studium dem Beispiel des Engländers und ritt 
mit dem Kamel in der Wüste. Nur so volle Griffe in 



— 55 — 

das Menschenleben, wie sie der Verfasser hier vorlegt, 
können die nötige Aufklärung bringen, und da das eben 
nicht jedermanns Sache ist, so darf man dem Autor dank- 
bar sein, dass er offen alles sagt, was er gefunden. 

Zum Schluss noch eine Bemerkung über die Form. 
Da ich anfangs alles, was ich von dem Verfasser erhielt, 
meinem Buch einverleiben wollte, so wurde alles gesetzt 
und als ich und der Verleger uns anders entschlossen, 
waren nur die zur Korrektur gefertigten Fahnen noch 
vorhanden. Diese wurden von mir aufbewahrt, und ich 
gebe sie, wie sie sind. 



Homosexualität. 

Mit diesem Worte fasst mein Korrespondent, Dr. M., 
die sexuelle Anziehung zwischen zwei Personen gleichen 
Geschlechts, also zwischen Mann und Mann oder Weib 
und Weib, zusammen. Ich werde Dr. M. hier fast aus- 
schliesslich das Wort lassen, indem ich aus dem massen- 
haften Material, welches er mir mit der Zuvorkommen- 
heit eines alten Gelehrten, der selbst längst aller Publi- 
zität entsagte, zur Disposition stellte, blos das auswähle, 
was mir in dieser Frage das Wichtigste schien. Meiner- 
seits habe ich nur wenige erklärende Beisätze zu machen. 

„Ich schreibe Ihnen so überwiegend viel gerade 
über die männlichen Homosexualen, weil ich denke, 
von Ihrem Standpunkte aus müsste Sie der Mann eben 
am meisten interessieren, besonders da die abnorme Seite 
seines Geschlechtslebens bis jetzt das grösste, von der 
Majorität der Flachköpfe kaum geahnte, selbst tiefen 
Menschenkennern — aus Mangel an eingehender Unter- 
suchung und Erfahrung — nie klar gewordene Geheimnis 
ist; und zwar ein Geheimnis, welches durch die darüber 
in der allgemeinen Meinung existierenden Begriffe ein so 



— 56 — 



widerwärtiges zu sein scheint, dass es sogar die Fach- 
wissenschaft nie der Mühe wert fand, dies Rätsel auch 
nur fest ins Auge zu fassen, sondern blos stumm dem 
Strafrichter winkte, auf dass derselbe, ohne nähere Unter- 
suchung, gemäss den Traditionen Jahrtausende alter Bar- 
barismen, seines Amtes walte. Dagegen ist das Weib, 
auch bei abnormster Abweichung von den Gesetzen der 
Natur, für Niemanden ein Geheimnis, der es jemals be- 
reits genoss. Und will man spezielle Experimente mit 
dem Weibe anstellen, so braucht man ja nur die Hand 
auszustrecken, um ein Objekt hierzu zu erlangen, was 
gegenüber dem Manne nicht der Fall ist. Nicht minder 
kennt das Weib seine absolute Straflosigkeit innerhalb 
des Sexualismus, es leugnet daher im intimsten Umgange 
auch keines seiner Raffinements. Endlich ist der Mann 
anthropologisch in jeder Beziehung die Hauptsache, das 
Weib anthropologisch sekundär. Er ist das Urmodell 
der Menschheit, der Träger des Selbstzweckes, der Er- 
zeuger oder Verderber der Rasse. Von ihm hängt das 
Glück oder das Unglück der Völker ab. > The firtt study 
of man is the man/« sagt Pope, und hier bedeutet »man« 
nicht allein Mensch, sondern speziell Mann. Soll daher 
die Wissenschaft regenerativ in die Gesellschaft eingreifen, 
so muss vor Allem der Mann gründlicher als bisher 
studiert werden, — damit man kennen lerne, von woher 
eben die meiste Gefahr droht — «und dies Studium muss 
gerade vom Standpunkt Ihrer Seelentheorie ausgehen/ 
„Ich denke nicht im entferntesten daran, dass Sie 
all' das, was ich Ihnen mitteile, ohne Weiteres in Ihre 
Seelenlehre hineinbringen werden und sollen. Wie es in 
der Beobachtung nichts Absolutes giebt, muss man sich 
jede Behauptung, jede allgemeine Schlussfolgerung aus 
Symptomen zweimal überlegen, bevor man sie acceptiert. 
Ich glaube allerdings für Monosexuale wie Homosexuale 
«ine absolut zutreffende Symptomatologie gefunden zu 



— 57 — 



haben, und ich täuschte mich selten, selbst auf den ersten 
Blick hin. Aber manchmal täuschte ich mich eben doch 
auch auf gröbste Weise, wo ich auf meine Vorannahme 
hätte schwören mögen — also es giebt nichts Absolutes! 
— Da mir aber in manchen Fällen knoichdge zugleich 
auch power war, mir überdies vom wissenschaftlichen 
Standpunkte aus — und wenn auch nur zu meiner eigenen 
Aufklärung und Unterhaltung — jegliches Wissen stets 
Macht war, während halbes Wissen mich nie reizte, so 
habe ich mich auch um die Sexualitätsfragen nicht blos 
nach dem Hörensagen bekümmert, vielmehr 25 Jahre 
lang bei meinen vielen Reisen und vielseitigen Bezieh- 
ungen emsig danach umgethan, unter der Hand persönlich 
und intim mit allen jenen Leuten bekannt zu werden, 
die ich als Abnormsexuale zu erkennen glaubte oder die 
das Gerücht als solche bezeichnete. Oder aber ich be- 
mühte mich, Individuen in die Hand zu bekommen, die 
zuletzt vertraulich gestanden, dem oder jenem zum Ob- 
jekt seines Triebes gedient zu haben. Hierfür scheute 
ich keine Opfer an Zeit, Geld, Selbstüberwindung, selbst 
Dingen gegenüber, die mich anekelten. Jedoch von 
Jugend an auf jeglichem Gebiete der Naturforschung dis- 
zipliniert, theoretisch wie praktisch medizinische Studien 
durchmachend, und bei so vielen Reisen in drei Weltteilen 
•scharfen Auges für Rasse-Fragen, für die Anthropologie 
überhaupt, wollte ich wenigstens mir selbst durchaus ein 
Rätsel lösen, das meinen gesunden Menschenverstand ver- 
höhnte und meinen eigenen Trieben so fern lag. Gilt es 
doch besonders von der Naturforschung, dass sie vor 
nichts — sei es noch so dbgoutant und schmierig — 
zurückschrecken darf, will man die Wahrheit suchen." 

„Auch in der Kunst ist es so. Der berühmte Colorist 
Prof. Karl Rahl sagte oft in meiner Gegenwart zu 
seinen Schülern: „Hören Sie, das zimperliche Herum- 
lecken an der Farbe, die Furcht, sich zu beschmutzen, 



— 53 — 



führt zu nichts; haben Sie nicht die Courage, Farben- 
schwein zu werden, knietief in die braune Sauce hinein 
zu waten, dann verlassen Sie mich und werden Sie 
Zeichner! Denn Kunst, Schöpfungskraft ist — Courage!" 
— Auch Horace Vernet rief: „L'art c'est la courage!" 
Und Kaulbach äusserte eines Tages zu mir: „Das 
ist's ja eben, warum ich kein Colorist wurde; mir ekelt 
vor den dreckigen Fingern!* Der Arzt, der Naturforscher 
dürfen sich vor nichts scheuen; aber, was die Haupt* 
sache ist : sie müssen stets den Verstand, die Kritik mit- 
sprechen lassen; nicht blos experimentieren, sondern auch 
reflektieren." 

Diesen trefflichen Worten meines Korrespondenten 
möchte ich noch hinzufügen : Wissenschaft ist auch Courage, 
und zwar in dem Sinne: Wenn jemand zu feige ist, aus 
seinen Beobachtungen Positives zu sdhliessen, weil er 
allenfalls auf einem Fehlschluss ertappt werden könnte, 
und wenn er dann, um überhaupt von sich reden zu 
machen, blos einen Wust von unverdaulichen Thatsachen 
aufhäuft, oder wenn er sich gar jenen traurigen Nihilisten 
beigesellt, die alles positive Wissen zersetzen und es 
glücklich dahin gebracht haben, dass ein guter Teil des 
medizinischen Nachwuchses den Glauben an sich und 
ihre Kunst verloren, resp. gar nie gewonnen hat, dann 
wäre es, wie Rahl sagte, auch besser, er bliebe — • 
Zeichner. — Doch zurück zum Thema: 

„Mit dem Obigen will ich nur gesagt haben, dass 
ich Ihnen nicht eine Silbe mitteile, für die ich nicht gut- 
stehe, deren Wahrheit ich nicht sicher erlangte.* 

»Wie ich, der Normal sexuale, überhaupt auf die 
Spur der Existenz des Homosex ua Iis in us und seiner 
Sklaven geriet, von deren Vorhandensein ich bis dahin 
keine Ahnung hatte ? Leider sehr einfach, aber auch sehr, 
sehr traurig! — Ich hatte einen lieben, guten Jugendfreund, 
vor J abnormer Geschmacksrichtung ich mir im 



— 59 — 



Schlafe nichts träumen Hess, der sich aber 1840, kaum 
20 jährig, erschoss und Tags vorher seiner Mutter einen 
Brief an mich übergeben hatte. In diesem Schreiben ge- 
stand er mir seine, von Kindheit an ununterdrückbare 
Leidenschaft, durch die er plötzlich an einen „Prell er* 
geraten war, der ihn pekuniär völlig auszog und, da er 
nicht mehr geben konnte, ihm drohte, ihn vor Gericht 
zu denunzieren, und zwar jenes mit schwerer Strafe be- 
drohten „Lasters" wegen, bei dessen Verübung der 
Angeber doch selber Mitschuldiger war ! Genug, der ge- 
prellte Unglückliche zog es vor, sowohl sich selbst der 
Strafe und Entehrung als seine Familie der Schande zu 
entziehen, lieber ihr den tiefsten Kummer bereitend. Und 
in der That wurde der schöne, junge Mann auch einfach 
als „Selbstmörder aus unbekannten Gründen" begraben, 
und die Geschichte war aus. Mich aber betäubte der 
Vorfall so sehr und schmerzlich, dass ich einige Tage 
lang gar nicht verstand, von welchem „Laster" der Brief 
eigentlich spreche. Jedoch der Unglückliche bat mich 
in seinen Abschiedszeilen, ein paar seiner Freunde, die 
„auch so wären" und deren Adresse ich kannte, aufzu- 
suchen, sie von dem Vorfall zu unterrichten und sie eben- 
falls zu warnen — vor dem Preller. Jene — mir bis 
dahin völlig fernstehenden — jungen Herren — auch ein 
älterer war dabei — öffneten mir dann die Augen ver- 
blüffend aufrichtig. So erfuhr ich zuerst überhaupt von 
der Existenz einer solchen „Sekte", deren übrige Mit- 
glieder mir von da ab volles Vertrauen entgegenbrachten 
und mich „weiter empfahlen" — nebenbei bemerkt, schon 
an jenem Orte bis in sehr hohe Kreise. Ich sprach entschieden 
und ernst mein Wesen als Normalsexualer aus, gegen jede 
sofortige Zumutung kurz und trocken ein für alle mal 
protestierend; aber ebenso offen sprach sich meine tief- 
humane Weltanschauung aus und der mir angeborene 
Trieb, über jegliches Unrecht empört zu sein; da ich 



— 60 — 



aber damals eben Medizin zu studieren begann, so inter- 
essierte mich die abnorme Frage auch naturwissenschaft- 
lich. Damals erfuhr ich auch zuerst, dass noch in den 
meisten Ländern Europa's — Frankreich ausgenommen — 
das alles angeborene Naturrecht auf seinen eignen Körper 
verhöhnende Gesetz existiere, nach welchem derselbe sexuale 
Akt, geuau in derselben Form vollführt, zwischen Mann 
und Weib völlig straflos zwischen Weib und Weib gleich- 
falls straflos, aber zwischen Mann und Mann ein ungeheures 
Verbrechen sei, das mit Kerker, Entehrung, Zer- 
störung aller Lebensaussichten und des guten Rufes 
beider Verbrecher nebst deren Familien bestraft wird. 
Später dann wurde mir im Auslande noch der Nachweis, 
welch eine hübsche Zahl Normalsexualer in grossen 
Städten behaglich davon leben, dass sie zu solchen Akten 
provozieren, eben um durch Androhung von Denunziation 
Geld erpressen zu können, und das oft jahrelang, gleich 
regelmässiger Pension. Also das Gesetz gegen eingebil- 
dete Verbrechen erzeugt selber die wirklichen Verbrechen 
der Prellerei, des Einbruchs, des Diebstahls, sogar des 
Mords und der Herbeiführung unzählig vieler Selbst- 
morde. — Doch halten wir uns streng nur an die natur- 
wissenschaftliche Seite der Frage." 

„ Im gewöhnlichen Leben hört man manchmal öffentlich 
oder privat von irgend einem selbstverständlich älteren 
„verworfenen Individuum* sprechen das einen Knaben 
zu „widernatürlicher" Unzucht verführt haben soll, aber 
rasch gerechter Strafe überantwortet wurde. In der Ord- 
nung! sagt der Normalsexuale. Oder man vernimmt zu- 
fällig aus dem Volkeheraus unfläthige Witze über „warme 
Brüder". Oder aber ein „erfahrener Alter* erzählt halb- 
laut zu aller Grauen, er habe einmal „gehört", ein junger 
Mann sei grässlich gestorben, weil er sich „für ausser- 
ordentlich viel Geld" einem alten Wüstling ergeben habe. 
Man versteht noch immer nicht, von was eigentlich die 



— Gl — 



Rede sein mag. Man fragt seinen Hausarzt; der er- 
widert kühl, es sei nicht seine Sache, sich um solche 
Fragen zu kümmern; man fragt vielleicht auch einen be- 
freundeten Strafrichter. Der runzelt sofort die Stirne 
und sagt, nach dem Muster des Dr. Klose, orakelhaft: 
„Laster und Verbrechen zugleich! Nachsichtslos strenge 
Bestrafung, um die Menschheit von diesem Schandfleck 
zu befreien" (!) Das ist starker Toback; und unwillkür- 
lich fragt man sich innerlichst, ob man denn in den 18 
Jahrhunderten noch nicht genug Millionen Menschen ver- 
brannt und gerädert habe, angeklagt als Ketzer, Zauberer, 
Hexen! Und man entsinnt sich auch keines Uebels, von 
dem die Menschheit noch jemals durch Galgen und 
Kerker befreit worden wäre. Nun drängt es den Den- 
kenden erst recht, zu fragen, weshalb man denn von 
solchen Verhandlungen noch nie was öffentlich hörte, 
um sich über solcher Thaten Strafwürdigkeit selber ein 
Urteil bilden zu können! Da legt der Jurist den Finger 
auf den Mund und belehrt uns, solche Fälle können nur 
geheim rasch verurteilt werden, und — ihe rest is silence! 
Aber geheime Verurteilungen im 19. Jahrhundert ? Jetzt be- 
kommt man gar keine Antwort; und endlich vergisst 
man selber momentan aufgetauchte Zweifel. Plötzlich 
jedoch geschieht irgendwo in einer grossen Stadt ein, 
offenbar ungeheueres, Verbrechen mit einem kaum 
7- bis 8jährigen Knäbchen; und noch dazu auf die 
verrückteste, durch Nebenumstände, welche mit Wollust 
gar nichts zu thun haben, unerklärliche Weise. Die 
That ist evident. Aber man findet nicht sofort einen 
Thäter, weil man ihn nicht auf Gebieten sucht, die man 
sich nicht schon im Voraus einbildete. Wer denkt denn 
z. B. an russische Skopzen, findet man ein Mädchen mit 
ausgeschnittener Brust ? Der Verdacht auf Wollust liegt 
näher als der auf Fanatismus, That eines Verrückten u.s.w. 
Plötzlich hört man von einem nicht mehr ganz jungen 



— 62 — 



Wüstling, der sogar mit Soldaten offenkundig in sträf- 
lichen Verhältnissen stand. Mit wem? Nun, mit 20- 
bis 25 jährigen Soldaten. Ja, aber hier ist von einem 
völlig unreifem Kinde die Rede, und noch dazu von einem 
v Akte, der mehr auf sinnlose Verstümmelung ausging, als 
auf wirkliche Wollust. Hat er etwa auch schon Soldaten 
zerfleischt? ,Nein B , sagten die Untersuchungsrichter 
selber unter vier Augen (historisch) und fügten hinzu: 
„da die Vorliebe für Reifheit evident und bei diesem 
Individuum seit längsther bekannt ist, so lässt sich's 
schwer reimen, wie der Mann plötzlich auf Unreifheit, 
noch dazu mit Wut auf Blut, verfallen sein soll. Wir 
glauben es nicht/ Aber das mit Recht schon über die 
That selber empörte Publikum glaubt es, die Geschworenen 
oder ordentlichen Richter sprechen ihr Schuldig, und 
jeder ehrliche Staatsbürger hat nun kein Wort mehr zu 
sprechen. Der Verurteilte stirbt einige Jahre darnach 
im Kerker, noch auf dem Totenbette seine Unschuld ver- 
sichernd, oder auch reuig die That bekennend — 
aber von all dem erfährt das Publikum nichts mehr. Es 
hat Mos von nun an die Vorstellung, dass es einige wenige 
teuflische Menschen sporadisch gebe, welche kleine Knaben 
zerfleischen, und für die daher kein Galgen zu hoch ist. 4 
„Aber welche Rolle spielte bei dieser Entscheidung 
die Wissenschaft überhaupt und insbesondere die Natur- 
wissenschaft, die Anthropologie, auf deren Ausspruch doch 
in solchen Fällen alles ankommt? Und wir haben es 
auch hier nur mit solchen Vertretern der biologischen 
Menschenkenntnis zu thun, nicht mit dem herrischen Ur- 
teil, das über naturwissenschaftlicher Kritik steht. Nun, 
die gerichtliche Medizin und überhaupt die Anthropologie, 
sie kramten bei dieser Gelegenheit Anschauungen aus, 
welche noch weit hinter denen des Paul Zachias von 
1674 zurückstanden, und sich, travestiert, in den Aus- 
spruch zusammenfassen Hessen : „Die Naturgeschichte 



— 63 — 



weiss zwar, trotz ihrer angeblichen Naturgesetze, noch 
nichts davon, aber warum sollte es nicht doch einzelne 
abnorme Fälle geben können, in welchen ein Wiederkäuer 
mit Recht anzuklagen ist, ein Beefsteak verschlungen zu 
haben!* 

„In Frankreich ist man, kommt auf solche Themata 
die Rede, noch rascher fertig mit dem Urteile; man lacht 
und sagt: das sei ja das allgemein bekannte Geheimnis, 
der Verbindung8zweck und das intime Treiben der so 
mächtigen — „Franc-Maconnerie" (nämlich der wirklichen, 
vom Staate protegierten, und kann man diese Anschauung 
täglich in Paris, besonders im Volke hören) — daher 
denn auch dieses ft unfranzösische B Gelüste der Maurer 
(die Liebe zur Frau nennt der Franzose „Vatnour frangaise*) 
in Frankreich längst straffrei sei. — Der Engländer macht 
sichs aber noch kürzer; er erklärt einfach legislativ, in 
England könnte das Verbrechen des „nameless crime 11 
überhaupt gar nicht existieren, das sei nur auf dem Kon- 
tinent vorhanden. Er ist so glücklich, eine eiserne Stirne 
zu besitzen. Und in Flagrantifällen — wie 1874 mit den 
zwei als Damen verkleideten jungen Männern, Bulton 
und Park — verliert sich die sensationelle Gerichts- 
verhandlung plötzlich — durch eine Hinterthüre. Die 
wohlhabenden jungen Herren sollen jetzt in Lissabon sich 
und andere amüsieren. 41 

„Aber — fragt nun ganz ernsthaft der Naturforscher 
— von was ist denn eigentlich die Rede ? Und was ist 
in dem, was nun zur Sprache kommen soll, die volle 
nackte Wahrheit, sans phrase?* 

„Ich muss gestehen, dass, als mich der Verblichene 
zwang, seine Geschmacksgenossen aufzusuchen, mich dies 
ein paar Tage Kampf kostete. Ich, meiner Natur nach 
Normalsexualer, und damals, kaum zwei Dezennien alt, 
leidenschaftlicher Weiberliebhaber, hatte mir noch nie 
Rechenschaft über die Reinlichkeit und Aesthetik eines 



— 64 — 



Akts gegeben, der ja Naturgesetz ist. Um so mehr Ab- 
scheu hatte ich vor Neigungen, die mir nicht nur wider- 
natürlich erschienen, die meiner Geschmacksrichtung auch 
namenlos unflätig vorkamen. Denn ich hegte völlig das 
Volksurteil, es könne sich dabei nur um Imitation eines 
natürlichen Coitus handeln ; und überdies hielt ich jeden 
Männerkörper für entsetzlich ekelhaft, ohne daran zu 
denken, dass ich mich selbst eines Männerkörpers er- 
freute, und zwar eines schönen und gesunden, wobei ich 
überdies von meiner Geliebten verlangte, dass ihr dieser 
mein Körper ebenso göttlich erscheine, als nur der ihre. 
Wie aber sollte etwas dem eigenen Geschlechte ekelhaft 
sein, das Anspruch hat, vom andern Geschlechte gott- 
ähnliche Verehrung zu prätendieren, das andere Geschlecht 
wieder seinerseits als Götterwesen verehrend?* 

„Der erste Schritt, mit solchen Geschöpfen auch nur 
in gesellschaftlichen Rapport zu treten, war, wie gesagt» 
sehr schwer. Es sind seither 39 Jahre verflossen, die 
ich in Italien, Oesterreich, der Schweiz, Frankreich, den 
Niederlanden, England, Deutschland, den Donaufürsten- 
tümern, der Türkei, der Levante und Griechenland, und 
zwar wiederholt am selben Orte, verbrachte. Dagegen 
kenne ich persönlich nicht: Skandinavien, den gesamten 
slavischen Norden, sowie Spanien und Portugal, das 
Innere von Asien und Afrika, sowie Amerika und 
Australien, habe aber über diese Länder das Meiste ge- 
lesen. Genug, sobald ich den ersten Schritt zur Bekannt- 
schaft mit dieser „Sekte* that — denn es ist gegen meine 
innerste Natur, ohne Prüfung ein Urteil zu fällen — bis 
heute, also während eines Menschenalters — lernte ich 
an 1000 „ Homosexuale" in drei Weltteilen kennen. Sie 
haben bei näherer Bekanntschaft mit ihrem Wesen keines- 
wegs bei mir an Achtung gewonnen — die sogar wahr- 
haft grosse Männer in den Augen ihrer Kammerdiener 
verlieren. Aber ich bemitleide heute tiefstens diese un- 



— 05 — 



schuldigen Opfer des Spiels der Natur, diese gebundenen 
Sklaven eines angebornen Triebs, deren böseste Leiden- 
schaftlichkeit zehnmal harmloser, weil ohnmächtiger ist 
als die von nur Normalsexualen, und die endlich gleich- 
falls — wie die Monosexualen — der Menschheit nichts 
nützen, die aber auch, gleich den Onanisten, in ihrer Ge- 
samtheit der Menschheit noch nicht so viel schaden, als 
ein Normalsexualer, welcher die Syphilis ver- 
breitet!" 

«Das Resultat meiner Studien ist folgendes: 

„ 1) Gut 90 % aller Homosexualen sind nur M utuelle, 
d. h. gegenseitige Onanisten, haben im Geschlechtsverhält- 
nisse mit andern männlichen Individuen Genuss aus- 
schliesslich nur an deren Vorderseite, ekeln sich selber 
vor aller Afterseite, oder diese reizt si£ nur ihrer Plastik 
wegen, wie ja auch der Normale am Weibe jenen Teil 
brünstig liebt, welchen der Aesthetiker Vis eher als den 
„ pfirsichartig geformten* bezeichnet, dessen Göttin die 
Venus Kallipygos ist. Also bei dieser Geschmacksrich- 
tung an sich fällt der Vorwurf des Ekelhaften ganz weg. 
Denn es ist nicht abzusehen, weshalb männliche Formen, 
die dem Weibe göttlich erscheinen, ekelhaft sein sollen." 

,2) Allerdings giebt es auch in Europa Pygisten, 
und zwar aktive wie passive, welche vereint — wie es 
in der Gerichtssprache heisst: „den natürlichen Coitus, 
nur zwischen Mann und Weib möglich, widernatürlich 
imitieren". — Der Aktive muss unbedingt sehr jugend- 
kräftig sein, da stärkste Potenz Grundbedingnis. Es ist 
also geradezu Wahnsinn, bei älteren Personen schon eo 
ipso die Möglichkeit der That anzunehmen, lässt sich 
nicht direkte Potenz beweisen. Für Gerichtsärzte muss 
dies erstes Kriterium sein. Doch davon später, hier soll 
nur voraus bemerkt werden, dass Mutuelle und Pygisten 
sehr streng von einander zu scheiden seien." 

„3) In Europa wenigstens vergreifen sich sowohl 

Jahrbuch II. 5 * 



— 60 — 



Mutuelle wie Pygisten fast nie (wenigstens kennt 
man keinen konkreten erwiesenen Fall) an unreifen 
Kindern, ja, es ist eigentlich ihrem Triebe innerlichst 
entgegen, da ja alles Weibartige — und das unreife Kind 
ist das doppelt — abstossend auf sie wirkt, entgegen- 
gesetzt das Männliche und das dem Männlichen sich Zu- 
neigende allein und unwiderstehlich auf sie seinen Zauber 
ausübt. Sogar die so viel genannte und so schlecht ver- 
standene „Knabenliebe* der einstigen Griechen — .jSarnta 
paederastia" nannte sie J. M. Gesner 1779 in Bezug auf 
Sokrates — und die der heutigen Orientalen ist überhaupt 
nur denkbar in heissen Klimaten; im Westen, Osten, Norden 
Europas, ja sogar in unserem Süden kommen nur Fälle 
mit schon ausgereiften, der Sexualität fähigen Knaben 
zwischen 15 bis 17 Jahren vor, überwiegend aber mit 
jungen Männern zwischen 20 bis 26 Jahren (Soldaten, 
Kellnern, Barbieren, Handwerkern, Dienern u. s. w.), wie , 
der hierin berühmte Polizeirat Dr. Stieb er in seinen 
Erinnerungen an seine Strafgerichtspraxis eben so aus- 
führlich als eingehend beweist, nicht minder der Pariser 
Polizeibeamte Canl£r 1860, der Engländer Plint in 
seinem „Crime in England*) die bedeutendsten ärztlichen 
Autoritäten, wie Dr. Reyd eilet schon 1810, der, hierin 
erste Autorität, Dr. J. L. Caspcr, weiland in Berlin, 
1852—64; der Pariser Dr. Tardieu 1862 und auch Dr. 
Rosenbauer in Halle schon 1839 u. s. w. Also wir 
können mit Bezug auf unsere Kinder — sofern sie 
Knaben sind — ruhig schlafen ; freilich, auch die kleinsten 
Mädchen sind immerhin der Möglichkeit einer Brutali- 
tät durch — Normalsexuale ausgesetzt, wie so viele 
Notizen in der Tagespresse zu melden Anlass haben." 

„Ihre eigene Leidenschaft nennen sie — sonderbar 
genug — »Vernunft"; sich selber und überhaupt Ein- 
geweihte „ Vernünftige" ; also logisch die Nichteiugeweihten 
münftige", die Normalsexualität „das Unvernünf- 



— 07 — 



tige". So singt schon Graf Plate n ebenso poetisch schön 
und keck, als völlig unverständlich und rätselhaft für 
„Uneingeweihte* : 

„Was Verntinft'ge hoch verehren, 

Taugte Jedem, der's verstünde; 
Doch zu schwer sind ihre Lehren, 

Zu verborgen ihre Gründe. 
Sie (die Normalsexualen), die von der Tugend zehren, 

Ueberliessen uns (Homosexualen) die Sünde!" 

„Und Goethe's Schlussstrophen in dem allerdings 
höchst verdächtigen Gedicht „An den Mond" : 

„Breitest über mein Gefild 

Lindernd deinen Blick, 
Wie des Freundes Auge mild 

Ueber mein Geschick. 

Ich besass es doch einmal, 

Was so köstlich ist! 
Dass man doch zu seiner Qual 

Nimmer es vergisst! 

Selig, wer sich vor der Welt 

Ohne Hass verschliefst, 
Einen Freund am Busen hält 

Und mit dem ge nies st, 

Was, von Menschen nicht gewusst 

Oder nicht bedacht, 
Durch das Labyrinth der Brust 

Wandelt in der Nacht." 

sind das Morgen- und Abendgebet jedes gebildeten „Ver- 
nünftigen". Freilich, die „Unvernünftigen 1 * haben bis 
jetzt geglaubt, das sei das Lied eines Mädchens an 
ihren Geliebten. Aber Meister Goethe scheint es geliebt 
zu haben — nach Shak espeare's Vorbild in den 
Sonetten — über das eigentliche Geschlecht seiner Sänger 
in Zweifel zu lassen, und im zweiten Teil seines Faust 
schildert er plastisch derlei Triebe; er muss sich's daher 
gefallen lassen, kommt er in Verdacht, dass er, der «grosse 

7* 



— 08 — 



Nachempfinde r% Momente hatte, in denen er, künstlerisch 
objektiv, auch diese Sorte Liebe vorübergehend „nach- 
empfand". Shakespeare dagegen verrät sich — für den 
Eingeweihten — in jeder Zeile seiner Sonette." 

„Von uns pflegen Vernünftige auch zu sagen: „Er 
ist nicht so!" oder: „Das ist ja kein Wirklicher; er weiss 
aber alles.* 

„Unter sich nennen sie die Aktiven „Taschen", die 
Passiven „Tanten*. In einem Verhältnisse heisst der 
Aeltere „Onkel", der Jüngere „Neffe". Von den vielen 
direkt lasziven, doch sehr harmlos klingenden Ausdrücken 
zur Bezeichnung von Reizen soll gar nicht gesprochen 
werden. „Jeder Walfisch hat seine Laus", singt Heine; 
und der Homosexualen Ungeziefer sind die „Preller" — 
von denen besonders gesprochen wird — die man in Paris 
9 Chanteurs*, ihr Handwerk m Chantage u heisst, und den 
Jungen, den sie als „Lockvogel" ausstellen, nennen sie 
gar noch „fe Jesus!* — In allen grösseren wie mittleren 
Städten haben die Homosexualen — wenn nicht direkt 
kostspielige, schwer zugängliche „Clubs", wieMirabeau 
seiner Zeit von den Pariser Prälaten und hohen Gerichts- 
personen dieser Geschmacksrichtung vor der Revolution 
erzählte — doch zahlreiche öffentliche Lokale, wo sie sich 
zusammenfinden, „Novizen" vorfinden, neue Bekannt- 
schaften machen, selber „Neulinge" mitbringen und be- 
sondere Stuben erhalten, um ungeniert zu sein, während 
meist die Kellner, oft auch der Wirt, zu den Eingeweihten 
gehören. In gesellschaftlichem Verkehre ist es ihre 
Hauptleidenschaft, in — Weiberkleidern zu erscheinen und 
sich die Cour machen zu lassen. Historisch findet man 
diese Manie schon am Hofe Henri's III.; dann an dem 
James' L, von dem das Volk sagte: „Rex fuii Elisabeth, 
nunc est regina Jacobus;* weiteres bei dem schweigsamen 
Wilhelm von Oranien in seinem Verhältnisse zum jungen 
auux Albermarie, davon die Herzogin von Orleans so 



— 69 — 



viel erzählt; und wie wütend war Louis XIV., als man 
ihm diese Maskeraden seines eigenen Sohnes Vermandois, 
seines Bruders Orleans, des Prinzen Conti, des Kardinals 
Boullon, des grossen Cond£, des Vendöme, des Gramont, 
des Erzbischofs Tellier etc. hinterbrachte, ihre Gelüste 
verratend, und er ausrief: „La France devenue italienne!* 
Und dann die Komödie des Prinzen Heinrich zu Rheins- 
berg mit seinem Pagen; danach der Herzog August von 
Gotha, der Goethe soviel ärgerte, und der stets, als 
„Griechin" gekleidet, auf dem Sopha liegend, Audienzen 
erteilte — bis herauf zu den schon erwähnten Boulton 
und Park, die 1874 in Damenkleidern vor den Londoner 
Assisen standen, dann aber — verschwanden." 

»Und sobald man in den Kreis dieses Sexual-Frei- 
maurertums als Wissender tritt, welch ein Erstaunen er- 
greift einen, gelangt man zu einer Uebersicht der Zahl. 
Ich sagte in meiner „Statistik": auf eine Million Männer 
20,000 Mutuelle und Pygisten. Ja, aber London, Paris, 
St. Petersburg, Berlin, Wien u.s. w. haben ja alle schon 
über oder nahe an eine Million Einwohner! Hier hat 
man denn einen Massstab! Und gar, was die Stände be- 
trifft! Aus der Nähe der Throne herab beginnend, in 
der hohen wie in der bürgerlichen Gesellschaft, im Kauf- 
mannsstande, beim Militär, im Klerus, in der Beamtenwelt 
bis herab zu den Handwerkern, dem ungeheuren Tross 
der Dienenden, sogar bis zu den Bauern; dann unter den 
Staatsmännern, den Gelehrten, den Künstlern, besonders 
beim Theater — überall Einzelne dieser Maurerei!" 

„Ohne den traurigen Vorfall 1840 hätte ich die ganze 
Welt zehnmal durchreisen, alle sonstigen Geheimnisse des 
Alls ergründen können, ohne auch nur je im Schlafe da- 
rauf zu geraten, dass es Homosex uale giebt. Die ge- 
wöhnliche Gesellschaft denkt sich überhaupt gar nie was, 
bis ein öffentlicher Skandal geschieht; die Gerichte — 
sie hängen wie in Nürnberg nur die, die sie bekommen; 



— 70 — 



und leider fallen ihnen hin und wieder nur höchst Un- 
glückliche, Wehrlose, Unüberlegte, besonders aber Alte 
in die Hände, die sich durch ihr kindisch Wesen selbst 
verraten; und bestraft werden nur meist Mittellose, Ver- 
bindungslose, Unprotegierte; Leuten der „besseren Stände* 
hilft man gern durch, oder ihre Advokaten „hauen* sie 
durch, denn „nackte Skandale" meidet auch die Themis 
gerne, lässt sich nur irgend eine Handhabe dazu finden, 
oder stösst man in den Akten gar auf eine „hohe Person*, 
die durch solchen Prozess, wenn auch nur nebenbei, 
kompromittiert werden könnte. Endlich in „guten Kreisen* 
spricht man ja überhaupt nicht von solchen „Unfläthe- 
reien*, liegt aber ein bestimmter Fall als unausbleiblicher 
Gesprächsstoff vor, so sagen alle Humanen : „Nun, es wird 
sich wohl anders verhalten." Dazu reicht ihre Humanität 
aber nicht aus, auch nur zu denken: „Nun, und wenn 
doch; was weiter?" 

»Der Anthropologe, der Biologe, der Psychologe etc., 
sie mögen daher noch so vielseitig und auch praktisch 
gelehrt sein, sie ahnen von solchen Fragen nie etwas, so 
lange sie sich ausserhalb des Zauberkreises dieser Fragen 
bewegen. Doch trifft man zufällig auf den nächstbesten 
Ersten, der zu dieser Sekte gehört, und der irgend welchen 
Anlass hat, die streng gewahrte Maske vertrauensvoll zu 
lüften, so hat man sofort für alle Gesellschaftsstände 
der Welt den Schlüssel, um in derselben das „Benjamitter- 
tum* — wie die witzigste Frau des XVII. Jahr- 
hunderts, die Herzogin von Orleans, diese Sekte nannte, 
von der sie am Hofe ihres weibersüchtigen Schwagers, 
Louis XIV., so dicht umgeben war, den eignen Gemahl 
dazu zählend — zu erblicken, für das man bis dahin 
kein Auge hatte. Und nun erst erschrickt man über 
Niegeahntes. Denn durchreist man alle Städte Europas, 
dringt man in welche Gesellschaftsschichten immer — 
vom höchsten Palast bis zur niedersten Hütte, inmitten 



— 71 — 



Millionen von glücklichen Normalsexualen — so genügt 
ein Blick aus der Schule der Vertrautheit, ein Wort, 
das Eingeweihtheit verrät — und man erlebt eine Zauber- 
szene. Leute, mit denen man gar nicht gewagt hätte zu 
sprechen, behandeln einen nun plötzlich als alte Bekannte, 
und entgegengesetzt: Leute, von denen man sichs wahr- 
lich nicht versieht, angesprochen zu werden, wagen dies 
plötzlich. Wie viele Hunderte erklärten mir später: „Als 
Sie mich so eigentümlich scharf ansahen, mit feuchtem 
Blick, wusste ich sogleich, wieviel's geschlagen hat" Und 
wie erstarrte ich, als einmal ein Lakai, der hinter seinem 
Herrn, einem Prinzen, einherschritt, mir im Vorbeigehen 
leise, mit vielsagender Miene zuflüsterte: „Wenn Euer 
Gnaden nähere Auskunft wünschen, bitte sich nur an 
mich zu wenden!" Wahrhaftig, das ist ja ein 
förmliches Freimaurertum, das — wie das echte, 
staatlich privilegierte — r durch ganz Europa, durch 
alle Gesellschaftskreise geht, von dessen Existenz 
aber nur die Eingeweihten wissen. Ja, einstmals setzte 
ich sogar irgendwo bei einem Minister eine Zivilsache 
durch, indem ich ein Wort fallen Hess, dass mir einen 
scharfen Blick zuzog; aber das bisher Verweigerte wurde 
sofort bewilligt. Und so könnte ich Ihnen noch ein paar 
hundert Geschichtchen erzählen. Anfangs wusste ich mir 
die Ursache dieses Zaubers selber nicht zu erklären, bis 
ich die Natur dieser Leute studierte. Sie haben alle eine 
angeborene Meisterschaft, sich in nichts vor der Welt 
zu verraten, und geradezu ins Gesicht gefragt, antworten 
sie mit eiserner Stirne, und man schwört darauf, sie ver- 
stehen gar nicht mal, um was man sie fragt. Aber sie 
haben insgesamt die Schwäche, dass, sobald jemand nur 
durch ein Wort ihrer Geheimsprache zu erkennen 
giebt, auch er sei ein „Eingeweihter", sie sofort vom 
höchsten, vorsichtigsten Misstrauen ins grenzenloseste, oft 
albernste Vertrauen überschlagen. Von diesem Jargon 



— 72 — 




wird sogleich die Bede sein. Dies plötzliche Vertrauen 
ist dann aber ein um so aufrichtigeres, jemehr sie im 
weiteren Gespräche merken, dass ihr neuer Freund zwar 
völlig eingeweiht, aber „nicht selber so sei*, d. h. nicht 
auch gleicher Leidenschaft Sklave, jedoch tolerant, daher 
ehrenwert und zuverlässig sei. Denn — und hier das 
dritte Wunder — ihre ganze Phantasie ist zwar ge- 
schwängert von Vorstellungen ihrer geheimen Lüstern- 
heit, und sind sie unter ihres Gleichen, so schwatzen sie 
nur von diesem Thema — aber tiefst geheim fühlen sich 
die Meisten höchst unglücklich über das Spiel der Natur, 
verdammt zu sein als m anima mulicbris in corpore mas- 
culino*, wie sie ihr Hauptverteidiger bezeichnete, sie 
„Urninge" nennend — über ihre Zwitterstellung auf den 
Rangstufen der Natur, über ihre Abnormität, die sie ver- 
heimlichen müssen wie einen Mord. Welch Labsal daher 
für sie, können sie endlich einmal, und wenn nur für 
eine Sekunde, die Maske lüften und ihr Herz vor einem 
Unparteiischen ausschütten, von dem sie nichts zu fürchten 
haben, vielmehr mit ihrer zeitweiligen Sentimentalität gar 
noch auf Teilnahme, Mitleid rechnen können, das ich 
solch* Unglücklichen nie verweigerte, besonders nicht, da 
ich in 39 Jahren beinahe an 100 Selbstmorde erlebte, 
bei denen ich, direkt oder indirekt, die eigentlichen Motive 
kannte — gerade, indem ich diese Zeilen schreibe, liegt 
mir ein eben empfangener Brief vor, der vertrauliche Mit- 
teilung über solch einen Vorfall macht" 

„Also für gewöhnlich genügen sich die Homosexu- 
alen unter sich selbst, wenn auch die Ueberzahl fast täg- 
lich mit ihren Geliebten und Liebhabern wechselt, oder 
eigentlich alle zusammen gleich lieb hat, nur dass sie 
eben mit dem sich begnügen, der an jedem Tage zu- 
f ii 1 1 i g tinterk om mt, * 

„Jedoch das hauptsächlichste Wild aller beiden Sorten 
von Homosex ualen sind die — Normalsexualen. 



— 73 — 



„Wie," werden Sie sagen, „das ist ja gar nicht möglich! 
Das ist schon an sich ein Widerspruch im Wesen beider 
Triebe, und überdies ein Widerspruch gegenüber bisher 
Gesagtem.* 4 — Diese beiden scheinbaren Widersprüche 
werden sehr leicht durch das, was nun zu sagen kommt, 
gelöst sein." 

„Es versteht sich von selbst, dass ein Homosexualer 
nicht um die „Liebe" eines Normalsexualen werben, noch 
sich der Hoffnung hingeben kann, dieser werde sich ihm 
wirklich uneigennützig, in wirklicher Sympathie, und 
wirklich blos „pour les beaux yeua? hingeben. Ja, ist der 
Homosexuale auch noch so schön, liebenswürdig, bezaubernd, 
und der Normalsexuale ihm noch so sehr freundschaftlich 
zugethan, dass er, aus blosser Neigung für den Freund 
sich etwa auch einmal zur Befriedigung von dessen ab- 
sonderlicher Passion hergiebt, er thut's gewiss nicht wieder, 
wenigstens freiwillig, uneigennützig nicht wieder; denn 
einenteils befriedigt den Normalsexualen weder der 
aktuelle, noch gar der passive oder aktive pygistische 
Akt, und derselbe Akt auch mit dem unbegehrenswertesten 
Weibe ist ihm hundertmal lieber, und zweitens, mag er 
auch alle Freundschaft für seinen Freund haben, er hat 
keine Sympathie für dessen Körper und mag dieser noch 
so schön sein; ein Weiberkörper allein reizt sexuell den 
Normalen. Das hab' ich oft genug Homosexualen, die 
mir sonst ganz lieb waren, entschieden ins Gesicht gesagt, 
merkte ich, das blos die Idee in ihnen auftauchte, etwa 
mir selbst Zumutungen zu machen. Und wir blieben ganz 
gute Freunde. Besuchten sie mich, so fanden sie meine 
„Meine" vor, die ich in alles eingeweiht, die vor solchen 
Zeugen zu küssen, ich mich also gar nicht scheute, und 
die es auch ungefährlich fand, sich vor solchen Freunden 
nicht zu genieren. Besuchte ich aber Homosexuale — 
so genierten sich diese gleichfalls nicht, waren eben 
Geliebte von ihnen anwesend. Der Kompromiss ergab 



— 74 — 



sich ohne Schiedsrichter. Aber völlig anders ist der 
Homosexualen instinktives Verhalten in der Gesellschaft. 
Es giebt ja auch .Mädchen und Frauen, die entweder in 
alle hübschen Männer oder blos in einen sterblichst ver- 
liebt sind, deren ganze Phantasie von diesem Idol erfüllt 
ist, die im Traume murmeln: „Ach, könnte ich diesen 
Halbgott nur einmal in den Armen haben!" die sich aber 
wohl hüten, auch nur durch eine Miene, einen Blick oder 
gar ein Wort diese geheime Glut zu verraten. Noch 
weitaus vorsichtiger und zurückhaltender muss sich der 
Homosexuale in auch nur halb guter Gesellschaft von 
Normalsexualen verhalten, denn er riskiert nicht nur 
kälteste Abweisung, niederschmetternde Verachtung, ja 
von Brutalen schmerzlichste und entehrendste Thätlich- 
keiten, er riskiert, sogar schon beim blossen Verdachte 
seines eigentlichen Wesens, für immer Verlust seines 
guten Rufes, Ausschliessung aus jeder besseren Gesell- 
schaft — auch wenn er Prinz ist. Er wird zur Zielscheibe 
des infamsten Witzes, Gerüchte verbreiten sich über ihn, 
als litte er an einer Seuche. Darunter leidet sogar sein 
bürgerliches Fortkommen, sein Geschäftsverhältnis, und 
endlich erfährt den Ruf auch die Behörde. Und unver- 
sehens kann's ihm passieren, dass man ihn bei einem 
Falle zur Verantwortung zieht, ja blind verurteilt, der 
ihn ganz und gar nichts angeht, an dem er absolut un- 
schuldig ist, — jedoch seinem Rufe nach traut man ihm 
eben alles zu. Das ist der Schlüssel zu dem Geheim- 
nisse, dass manche, besonders höhere Gesellschaft oft 
direkt durchspickt ist von Homosexualen, ohne dass die 
Gesellschaft selber das Geringste davon ahnen würde. 
Ein sehr scharfer Beobachter vermag die feine Bemerkung 
zu machen, dass oft in Mänuerkreisen, in denen laszive 
Weibergeschichten erzählt werden, sich Einzelne vorfinden, 
welche dabei ein Gesicht machen, wie Hunde, zu denen 
man spricht und die nicht sonderlich Witziges an solchen 



Geschichten finden. Dann weiss man aber freilich noch 
nicht, ob solche „Kühle 14 Monosexuale oder Homosexuale 
sind. Aber unter sich erkennen sich Homosexuale leicht, 
auch in buntester Gesellschaft, und ohne sich persönlich 
zu kennen. Und im Kreise der Homosexualen kennt 
man tausendmal mehr, als es eine geheime Polizei könnte, 
die Namen fast aller andern Homosexualen derselben 
Stadt, desselben Landes, ohne die Mehrzahl derselben je 
zu Gesicht bekommen zu haben/ 

„ Wenn nun in einer Grossstadt auch nur 1000 Mutuelle 
und Pygisten sich befinden, die sich doch wenigstens 
mit — wie wir weiter sehen werden — 2000 Personen 
sexuell was zu schaffen machen, während doch das Jahr 
über kaum 3—4 Fälle in einer Stadt zu gerichtlicher 
Verhandlung kommen, diese Fälle aber fast immer nur 
arme Teufel, alte Leute oder höchst Unvorsichtige be- 
treffen, die sich öffentlich oder durch bösen Zufall er- 
tappen lassen oder die Opfer von Denunziationen durch 
„Preller* sind — wenn wir all das bedenken, so können 
wir uns die juridischen, sozialen, moralischen, psycholo- 
gischen Schlussfolgerungen von selber machen. Es 
scheinen also .offenbar keine schreienden, ununterdrück- 
bare Untersuchungen notwendig nach sich ziehenden, 
Skandal erregenden Folgen vorzukommen — wenigstens 
nicht der Öffentlichkeit bekannt werdende, — während 
man doch fast wöchentlich in den Journalen was liest 
von Gewaltakten mit unreifen Mädchen, Notzucht u. d., 
verübt von Normalsexualen. — Der österreichische 
Reichstagsabgeordnete Otto Hausner versendet soeben 
durch den Buchhandel das Programm eines grossen 
statistischen Werkes „Das menschliche Elend", in dem 
er auch den statistischen Ausweis geben will von: „Not- 
zucht, Unzucht mit Minderjährigen und schreckliche Ver- 
mehrung derselben in den letzten Jahren, Sodomie, Blut- 
schande, Abtreibung der Leibesfrucht, Ehebruch und Un- 



— 76 — 



zulänglichkeit desselben für die Statistik, Kuppelei, Pro- 
stitution und ihre Regelung, Syphilis, übertriebene Strenge 
der älteren Strafgesetzgebung und deren Folgen.* Man 
sieht also, der Wortlaut der Gesetze ist noch heute 
schärfer als die Praxis; zugleich aber auch, wie sehr sich 
diese geheimen Triebe und ihre Befriedigung der Auf- 
merksamkeit der Gerichte, der Gesellschaft, überhaupt 
der Oeffentlichkeit — und schon durch ihre Natur — 
entziehen, noch mehr, indem sie keine so äusserlich 
wahrnehmbaren Folgen wie z. B. die Syphilis nach 
sich ziehen, welch letztere — nach einem andern statist- 
ischen Ausweise — in blos 60 Spitälern während eines 
Jahres durch 32,215 Kranke vertreten war, indess geringst 
gerechnet, mehr als 1 Million Personen sich privatärztr 
lieh behandeln lassen und zwar unter 16 Millionen Ein- 
wohnern. Kein Wunder daher, dass auch die Natur- 
forschung bisher kaum was weiss vom Vorhandensein 
des verhältnismässig so zahlreichen Abnormalsexualismus 
unter Männern; und die Gerichtsmedizin weiss von gar 
nichts als blos von jenen Auswurfsf allen, die ihr so spo- 
radisch zur Beurteilung vorgeführt werden. Unsere 
Aerzte denken aber gar nicht einmal daran, bei den ver- 
schiedenen Krankheiten und Kranken zugleich auch nach 
dem geheimen roten Faden zu suchen, der in manchen 
Fällen bis in die Kinderjahre als sexuale Wurzel zurück- 
reicht.* 

„Aber mit was nähren diese Mutuellen und 
Pygisten ihren Trieb? Suchen sie, und ausschliesslich, 
Befriedigung ihres Triebs nur unter Ihresgleichen, den 
Homosexualen, oder greifen sie auch hinüber in die 
ungeheure Mehrheit der Normal sexualen? Leider! 
Besonders unter den Mutuellen — sporadisch sogar unter 
den Pygisten — giebt es in der That Verhältnisse 
zwischen zwei Homosexualen, die Jahre hindurch andauern, 
von so merkwürdiger Zärtlichkeit wie fast zwischen Manu 



— 77 — 



und Weib, ja wo das Gemüt mit ins Spiel kommt und 
wo — wie in der Ehe — nachdem die Leidenschaft schon 
längst erloschen, noch gegenseitige Zärtlichkeit, Gewohn- 
heit der Zusammengehörigkeit, sogar gleiche Vermögens- 
rechte bis ins höhere Alter, bis zum Absterben des Einen, 
fortverbleiben. Freilich kommen solche dauernden Ver- 
hältnisse, die beiderseitig auf gutes Gemüt hinweisen, auch 
bei Normalsexualen nicht in absoluter Regel vor, 
auch nicht innerhalb legitimer Ehe — man weiss ja, wie 
entsetzlich viele schlechte Ehen weiter geschleppt, wie 
viele Ehescheidungen jährlich verlangt werden. Und unter 
der grossen Zahl unverehelichter Normalsexualer giebt es 
gar Wenige, welche ihr lebelang derselben Geliebten treu 
bleiben; die allergrösste Mehrzahl liebt, ob nun Normal- 
oder Homosexuale — die Abwechslung." 

„Die kulturhistorische Seite all dieser Fragen kann 
hier nicht besprochen werden. Es sind hier nur so kurz 
als möglich faktische Thatsachen zu geben, damit der Natur- 
forschung überhaupt bisher übersehene Stoffe für ihre 
Schlussfolgerungen geboten werden. Hoffentlich werden 
nachfolgende Bemerkungen nicht ausserhalb der Forscher- 
kreise missverstanden werden. Man darf es schon wagen 
zu sagen, dass sogar einzelne Könige z. B. den Pocken er- 
lagen, ohne damit gesagt haben zu wollen, dass alle 
Könige der Welt zu Pocken inklinieren." 

„Bei unseren modernen Verhältnissen hat sich unter 
andern auch jener Stand vermehrt, dessen weibliche wie 
männliche Mitglieder sich als freie Menschen unter gegen- 
seitigen Bedingungen auf Zeit vermieten, um den Mietern 
alle möglichen Dienste zu leisten. Kurz, es ist von der 
dienenden Klasse die Rede. Was die weiblichen Per- 
sonen dieser Kategorie betrifft, so kann nur ein Dumm- 
kopf oder ein Mucker zweifeln wollen, dass man bei 
zahlreichen — gemerkt nicht bei allen — Köchinnen, 
Stubenmädchen, Dienerinnen u. s. f. durch „kleine Ge- 



— 78 — 



schenke", wenn nicht glattweg durch Geld ebenso leicht 
zu Genusszielen gelangt, als bei der ausgesprochenen 
Prostitution. Ebenso verhält es sich unter den Männern. 
Die Homosexualen suchen sich zumeist „Willfährige" 
(Concedcntes) in dem überaus zahlreichen Stande der 
Bedienten, Kellner, Hausknechte, Lauf burschen 
Friseure, Barbiere etc., wie jener Handwerker, w r elche 
unmittelbar mit Kunden zu thun haben, wie Schneider, 
Schuster, Tischler — bei all diesen Jugend bis zu 25 
Jahren vorausgesetzt. — Dann kommt die zweite Gruppe 
junger Handelsbeflissener, einzelner Studenten, junger Be- 
amten. Endlich — wie schon Geheimrat Dr. Stieber 
in seinem Buche betonte, nicht minder Dr. Casper — 
bietet bei der ungeheuren Steigerung der Kriegsmacht 
aller europäischen Staaten der Soldatenstand die 
reichlichste und leichteste Auswahl für Leute, welche ge- 
neigt sind, „einem jungen Freunde* nicht nur das Taschen- 
geld zu verbessern, sondern auch sonst bescheidenen 
Wünschen desselben zu entsprechen, bei Dienern durch 
gutes Trinkgeld, bei jungen Leuten höherer Ansprüche 
durch gute Diners und Soupers und durch Einführung 
in fröhliche Kreise. Von all diesen Leuten verlangt die 
bürgerliche Gesellschaft ganz trocken und nüchtern für 
bares Geld, für meist kärglichen Lohn die schwersten, 
oft schmutzigsten , erniedrigendsten, gesundheitsschäd- 
lichsten oder aufreibendsten mechanischen Arbeiten, ohne 
Rücksicht auf etwaigen Bildungsgrad, und nennt alle diese 
Arbeiten und mit Recht „ehrenwerte", erfüllt der Dienende 
seine Pflicht. Denn es ist in der That ehrenwerter, sogar 
wenn man seinen Leib verkauft, oder ihn als Strassen- 
reiniger, Gossenreiniger, zuletzt sogar als Henker ver- 
mietet, als man wird Vagabund, Betrüger, Dieb, zuletzt 
etwa auch Mörder. Also eine Gesellschaft, welche be- 
rechtigt solche Grundsätze aufstellt, in allen Fällen, wo 
ihr ein Dienst geleistet wird, darf nicht verurteilen, wenn 



einer ihrer Diener mit freiem Verfügungsrecht seinen 
Körper hin und wieder auch an die Lust verkauft, ohne 
seinen andern Pflichten gegen die Gesellschaft untreu zu 
werden, und ohne für die Gesellschaft so böse Folgen 
hervorzubringen, als ihr vielfach der gefällige Teil der 
weiblichen Dienerschär zufügt." 

„Unter jenen jungen Leuten, welche sich die intime 
Freundschaft eines, oft auch noch sehr jungen „Onkels* 
gefallen lassen, entpuppen sich in solchen Verhältnissen 
gar viele als selber zum Homosexualismus gehörend. 
Aber die grösste Ueberzahl sind reine „unentvvegbare* 
Normalsex u ale. Sie geben geduldig ihre Reize preis, 
geschieht ihnen doch nichts Schmerzerregendes, im Gegen- 
teile: sie fühlen ja selber, wenigstens halben Genuss da- 
bei. Aber ihre volle Brunst, ihre sexuale Sympathie ge- 
hört ausschliesslich dem Weibe. Sobald sie daher nach 
solchem „Gefälligkeitsdienst" sich nur wieder potent 
fühlen, verwenden sie die erhaltenen Mittel dazu, sich 
voll am weiblichen Busen zu entschädigen. Sie selber 
verhehlen das nie, und ihre Liebhaber können ihnen das 
nicht übel nehmen; im Gegenteile, gar viele dieser 
Willigen bekommen von ihrem „Freunde" mit der Zeit 
sogar noch Aussteuer, um sich sorglos verehelichen zu 
können; und dann ist nicht mehr die Rede vom alten 
Verhältnisse. Der junge Mann hütet sich wohl, seiner 
Frau Geständnisse in dieser Richtung zu machen, und 
stellt den einstigen Freund objektiv als den alten Wohl- 
thäter vor." 

„Dagegen jene Sorte von Burschen, denen wüster 
Charakter schon angeboren, sie geben sich zwar für 
Geld ebenso gleichgültig einem alten geilen Weibe, wie 
einem Homosexualen preis. Aber sobald die That voll- 
führt ist, werden sie zu Vampyren, treten mit unersättlichen 
Ansprüchen auf, und wenn sie auch noch so befriedigt 
werden, sie kommen immer wieder, stets unverschämter, 



-SO- 



mit Denunziation drohend — obgleich sie wissen, dass 
solchen Falles sie selber die gleiche Strafe mit träfe! — 
und sich als arme Verführte erklärend. Genau dasselbe 
Manoeuvre, das Jemand erlebt, dem man eine Vaterschaft 
aufdisputieren will. Aber gar oft verbinden sich mehrere 
solche Willige, oder auch ein Williger mit einem nächst- 
besten Spekulanten, und nun geht man mit ., vereinten 
Kräften" dem Opfer zu Leibe, ja. schliesslich auch ganz 
unschuldigen Familienvätern, denen man droht, auch sie 
solcher Dinge anzuklagen, wenn sie nicht blechen, was 
diese Esel meist auch thun, in Todesangst, nur nicht vor 
Gericht und in so abscheulichen Ruf zu kommen. So 
bilden sich denn — besonders in Paris und in Berlin — 
ganze Banden von handwerksmässigen Prellern oder 
Chanteurs heraus, die förmlich reichliche Pensionen be- 
ziehen. Dr. Tardieu erzählt einen Fall mit einem be- 
rühmten französischen Gelehrten, der nicht den Mut hatte, 
sofort zu Gericht zu gehen, sondern 30 Jahre hindurch 
seinen halben Gehalt opferte, bis es zuletzt herauskam, 
dass der ursprüngliche Willige längst nicht mehr lebte, 
aber sein Erpressungsrecht an andere völlig Indifferente 
als „Clientel" verkauft hatte, die es als „Geschäft" weiter 
fort ausbeuteten. Ein berühmter Diplomat musste zwei- 
mal auf andern Posten versetzt werden, um diesem Un- 
geziefer zu entgehen. Der Mörder des Erzbischofe von Paris, 
Sibour, Namens Berger, war seinerseits Überwiesenein Will- 
fähriger; wie in Genf der junge Maurica Elcy, der mit 
seiner Chanteurbande jahrelang die ganze Republik 
tyrannisierte, bis er zuletzt den Uhrmacher ermordete. 
Und eben wird wieder ein ähnlicher Mord aus Oesterreich 
gemeldet Und all diese waren Normal sexuale, die 
sich für Geld Homo sexualen ergaben.* 

„So erzeugt das Gesetz gegen ein eingebildetes Ver- 
brechen wirkliche Verbrechen!" 

„All das bisher Gesagte beweist uns, die wir aus- 



— 81 — 



schliesslich auf dein Standpunkte der Naturforschung 
stehen, eben noch weiter nichts, als dass es in unserer 
europäischen Gesellschaft und besonders in der Gegen- 
wart, eine verhältnismässig grosse Anzahl von Männern 
aller Stände, bis zu den höchsten und niedersten giebt, 
welche, wie es scheint, eigentlich nur aus Raffinement, 
aus Blasiertheit oder angeborenem schlechten Geschmack 
sich sexual vom Weibe abwenden und unter sich selbst 
Unflätereien vollbringen, welche ebenso zwecklos sind, 
als sie die körperliche wie geistige Gesundheit schädigen. 
— Es fragt sich nun, ob das eine Willkür ist, eben so 
frech als sinnlos, wie ja alle Moden, welche die Mensch- 
heit schon so oft seuchenartig ergriffen, aber nach kurzer 
toller Wirtschaft plötzlich wieder, gleich einem Nichts, 
verschwanden, — oder ob dies ein pathologischer Zustand 
einzelner Individuen ist, die, indem sie sich von Jugend 
an durch Selbstbefleckung schwächten, — und das ist die 
Anschauung der meisten Untersuchungsgerichte — , des 
Weibes nicht mehr fähig und zu feig sind, zu versuchen, 
Weibern gegenüber den Mann zu spielen, daher sie zu 
dem elenden Surrogat onanistischen Genusses halten oder 
gar zur widernatürlichen Imitation des Coitus greifen?* 
„Oder aber, drittens, ist es ein angeborener un- 
unterdrückbarer einseitiger Trieb, den gewissen Indivi- 
duen einzuimpfen die Natur sich das herzlose Spiel er- 
laubte, indem sie ja bekanntlich innerhalb ihrer strengen 
und schönen Gesetze sich die Rücksichtslosigkeit ge- 
stattet, ihrer eigenen Ordnung Hohn zu sprechen und 
auch Abnormitäten Existenz zu verleihen? Nur in diesem 
Falle hat die Naturwissenschaft ein Interesse, ein Recht 
und eine Pflicht, sich auch noch um solche Fragen, ebenso 
gewissenhaft als frei von aller Prüderie, zu kümmern, 
welche bisher noch keinen anständigen Menschen ver- 
lockten, sie in die Reihe der prüfenswerten Fragen zu 
stellen." 

Jahrbuch II. (J 



— 62 — 



„Aber wer kann das Angeborensein eines Triebes 
beweisen, und mit welchen Argumenten?" 

„Sehen Sie, Verehrtester, diese Frage stellte ich mir 
selber schon tausendmal seit den 39 Jahren, in welchen 
ich dies Phänomen und so vielseitig beobachtete. Sie 
können mir bezeugen, wie leicht es mir fiel, Ihnen die 
vielseitigsten Beobachtungen über das sexuale Wesen 
des Weibes mitzuteilen; und welche Fülle ich Ihnen 
hierüber zur Disposition stellte, wähnend, ich allein wäre 
auf jene scharfsinnige Entdeckimg verfallen, es war doch 
kaum Eine Observation darunter, die Sie nicht schon 
längst selber gefunden, und deren Ursachen Sie nicht 
schon weit gründlicher wussten, als ich. Wir normalen 
Männer kennen eben das Weib durch und durch schon 
aus Instinkt. — Nicht viel mehr Schwierigkeiten fand es 
dann, meine Anschauungen über den Monosexualismus 
beim Manne und beim Weibe begreiflich zu machen und 
mich klar darüber auszudrücken. Aber über den Homo- 
sexualismus habe ich Ihnen nun schon private ein 
dickes Manuskript zusammengeschrieben, jedoch noch 
nicht einmal die Hälfte von den Daten und Schluss- 
folgerungen mitgeteilt, die sich mir während 39 Jahre 
langer Beobachtungen in drei Weltteilen aufdrängten, mir 
im Gedächtnis haften blieben, ohne dass ich den Schlüssel 
zu diesem Rätsel gefunden, welches schon dadurch dop- 
peltes Rätsel ist, weil man es seit Jahrhunderten noch 
nicht der Mühe wert fand, es mit dem vollen Ernst der 
Wissenschaft, also frei von jeglichem Vorurteil und von 
individueller Antipathie oder Sympathie anzusehen." 

v Sie müssen aber ja nicht glauben, dass noch Niemand 
über dies Rätsel geschrieben. Im Gegenteil, allein 
schon aus der Literatur der Griechen liesse sich eine 
ganze Bibliothek zusammenstellen. Dann wieder eine 
Bibliothek für sich machen seit christlicher Aera jene 
Humanisten und Philologen aus, welche sich bestrebten 



- S3 — 



das Helenentum bis ins geringste Detail zu verherrlichen, 
die aber, sobald sie von Schritt zu Schritt auf die Rätsel 
stiessen, in zimperlicher Vorsicht zur Schönfärberei griffen 
und sich abmühten, die hinkendsten Beweise zu liefern, 
wir missverstünden die Frage, denn es habe sich nie um 
etwas anderes gehandelt, als um reinsten Piatonismus so 
edler Art, den zu verstehen wir heute gar nicht fähig 
sind (hat man doch auch schon hunderte übergelehrte 
Kommentare geschrieben, um zu beweisen, Shakespeare 
habe in seinen Sonetten nicht einen schönen jungen 
Freund verherrlichen wollen, sondern in ihnen — sich 
selbst, seinen unsterblichen Geist besungen!!) — Endlich 
übersende ich Ihnen anbei eine — nicht entfernt komplete 
— Bibliographie — nachweisend die meisten Werke, 
welche — vom Standpunkte der Philosophie, der Rechts- 
geschichte, der gerichtlichen Medizin, der Gesetzgebung 
aller Länder, der Prostitutionsgeschichte u. s. w., — über 
Homosexualismus beider Geschlechte handeln, sowie eine 
reiche Liste von Memoiren, Geschichtswerken, Reise- 
schilderungen, biographischen Lexiken u. dgl., in denen 
Sie jede Angabe uon mir historisch nachgewiesen finden. 
Es sind 173 Titel, und daneben fehlt noch mehr als die 
Hälfte der schon früher notiert gewesenen. Aber ich er- 
schöpfte auch möglichst alle literarischen Quellen über 
diese Frage. Was ist das Resultat dieser Forschung?" 

B a) Soweit unsere Geschichtskenntnis zurückreicht, 
finden wir Daten über Homosexualismus. Nicht nur bei 
Homer und in der Bibel, auch in allen indischen Quellen. 14 

,,b) Griechenlands Kultur blühte etwa 1500 Jahre, 
die Weltherrschaft Roms gut 2000 Jahre, und es durch- 
sickerte in beiden Kulturepochen der Homosexualismus 
kontinuirlich, die hervorragendste Rolle spielend; die 
Majorität des Griechen- und Römertums pflanzte sich 

ebenso kontinuirlich stets reichlich fort, und dieser Welt- 

6* 



— 84 - 



Staaten endlicher Verfall ist in allen andern Ursachen, 
nur nicht ausschliesslich in sexualer Entartung zu suchen." 

„c) Für ganz Asien nimmt man 700 Millionen Be- 
wohner au, und ihre Geschichte kennen wir seit 5000 Jahren. 
Es gab nun nie und giebt heute noch keinen Asiaten, 
welchen Yolksstamms immer, der nicht Homosexualis- 
mus, passiv und dann aktiv, erduldete und verübte. 
Aber so sehr auch die einzelnen Völker in ihrem Da- 
sein wechseln — ganz Asien ist seit 5000 Jahren nicht 
entvölkert. 11 

,dj Aber wahrscheinlich, sagt man, war und ist 
M onosexualität immer nur Giftblüte allerhöchster 
Kultur, des Raffinements, und das gesunde Volk muss 
erst dazu angesteckt werden. Nun wir haben aus dem 
15. — 17. Jahrh. die zahlreichen Reisewerke gleich nach 
Entdeckung Amerikas von Gomora, Ramusio, Garzia 
über die Indianer, von Gacilasso über die Inkas, 
von Flacourt über Madagaskar, von Rochefort, 
von Hennepin über Louisi ana, von Garlevoix über 
Paraguay, von De la Potherie, Lafiteau, Paur, 
Virey über's übrige Südamerika: überall, von Urzeit 
an, war Hoinosexualismus eingewurzelt. Stell er fand 
ihn bei den Kam tschadalen, Reineggs überall im 
Kaukasus. Neugriechenland und Italien gehören ihm 
ganz, und seine Herrschaft in Portugal schilderte schon 
Byron, der selbst zu diesem Kultus zählte. Man trifft 
auf seine „Willigen" bei allen „Büeblen" der Schweizer 
Alpen, wie bei den Bauerburschen der Steycrmark, 
im einsamsten Hochschottland und auf den ameri- 
kanischen Prärien oder ungarischen Puszten. Serben 
und Rumänen sehen dies Amüsement als ein National- 
recht an, das sie sich nicht antasten lassen. Den jungen 
Zigeuner braucht man gar nicht zu fragen, man be- 
fiehlt ihm. BertholdSeemann erzählte lustige homo- 
noxuale Geschichten von den Fidschi-Inseln, Kapt. 



— 85 - 



Morris von Kalifornien, Dr, Comba von Brasilien. 
Wo man hinsieht, in allen 5 Weltteilen, überall auch 
Homosexuali6mus neben Normalsexualismus; und zwar 
von Urzeiten her, instinktiv." 

„e) Die Kirche erklärte diesen Trieb für „Todsünde, 
Laster und Verbrechen", und ganze Bögen reichten nicht 
aus, all* die Päpste, Kardinäle herzuzählen, welche die 
Sache offen betrieben, und jeglicher Klerus stand von 
jeher unter dieser Anklage; und die Jesuiten Benedicti, 
Sanchez, Beroalde im 16. Jahrhundert erwarben sich 
durch ihre Schriften den Namen als „Klassiker der 
Sodomie".*' 

„f) Schlagen wir endlich — die Griechen und 
Römer gar nicht beachtend — die Blätter der Geschichte 
der letzten 18 Jahrhunderte auf, und wir finden den Hohen- 
staufen Friedrich I., die Templer, Juan II, Cosimo 
v. Medici, Papst Giulio III., Charles IX., Henri III., 
James L, Wilhelm von Oranien, Peter den Grossen, 
Friedrich den Grossen, Karl XII., Karl von Lucca; 
oder Macchiavelli, Consalvez de Cordova, Con- 
fadio, Shakespeare, Moliere, Jodella, Palla- 
viani, Lully, Vendome, Cond£, Corregio, Michel 
Angelo; oder den Schöpfer des französischen Code, 
Cambac^r es, Winkelmann, Johannes von Müller, 
A. W. Schlegel, Byron, Custine, E. Sue; oder 
Jffland, Wurm, Kunst, Hendrichs, v. Stern berg, 
Graf Platen — um nur Einige aus tausenden altbe- 
rühmter Namen zu nennen — angeklagt des Homo- 
sexualismus und meist auch mit solchen Belegen und 
Dokumenten, die schwer anzufechten sind uud deren viele 
sogar in Meyers Konv.-Lexikon übergingen.* 

„Wahrlich: , 9 Le diahlc in empörte! ils sout toits fous; 
ou s'ils ne Ic sont pas: misericordc, mon Dicv 9 t'est moi 
qui le suisl" 

„Also die Geschichte lehrt uns, dass dieser Trieb des 



— 8(5 — 



Hoinosexualismus — wie in einzelnen Fällen auch der des 
Monosexualismus — ein angeborener sein muss. Soweit 
unsere historische Kenntuisse zurückreichen — siehe : Ed. 
S e 1 1 o n's Schriften über das alte Indien, London 1863—65, — 
bei allen wilden, bei allen primitiven, wie bei allen hoch- 
kultivierten Völkern finden wir seit Jahrtausenden und 
bis heute diesen Trieb, der noch dazu, auch wo er am 
freiesten sich ausbreiten konnte, insofern seine Gegner 
hatte, dass man ihn nie dem Norm als exualismus völlig 
gleich stellte. Aber schon das Altertum bestrebte sich 
wiederholt, diesen Trieb entweder zu Kulturzwecken aus- 
zunützen, oder noch mehr, ihn für Staats vorteile zu dis- 
ziplinieren. Die Lehre Christi hat auch kein Wort gegen 
diesen Trieb, erklärt vielmehr: eher wird 10 solchen 
Leuten vergeben werden, als auch nur einem Pharisäer. 
Erst das historische Christentum — von jener unheil- 
vollen, naturwidrigen Verachtung alles Irdischen, Körper- 
lichen ausgehend — erklärte Wollust für teuflisch, diese 
aber insbesonders ; es verfluchte sie und verfolgte sie mit 
Feuer und Schwert. Doch jedes Volk, das sich dem 
historischen Christentum anschloss, brachte das „Laster" 
mit — wie Tacitus, noch weitmehr aber Engiritus 
von den alten Germanen erzählt. — So entstand der 
Begriff des Ketzertums, wobei unter Atheismus Unzucht, 
unter Unzucht Atheismus verstanden wurde." (? Jaeger.) 

„Und nun der zweite, noch viel stärkere Beweis des 
Angeborenseins. Seit 19 Jahrhunderten sind sogar 
Vatermord und frechster Raub nicht so verachtet, ge- 
hasst, lange sogar mit Feuertod, dann doch noch mit 
schwersten Strafen, mit Entehrung, Brotlosmachung, Zer- 
reissung aller Verwandtschaftsbande etc. noch heute be- 
droht wie der Homosexualismus, ja, der blosse Ruf, 
demselben zuzuneigen. Und siehe da — von antiker 
Welt gar nicht zu sprechen — die Geschichte aus dem 
modernen Zeitalter weist uns evident eine Reihe von 



— 87 — 



berühmten Männern nach, welche die Welt mit ihren 
edlen Ideen erfüllten, als Menschen und als Bürger gleich 
gut waren und gut wirkten, und die sich doch nicht so 
weit beherrschen konnten, ihre geheime Leidenschaft 
nicht zu verraten. Und dort: Fürsten, Mächtige und 
Reiche, die sich willkürlichst ganze Weiberharems hätten 
halten oder sich zu willigsten Sklaven von Maitressen 
hätten machen können, bei freiester Wahl unter allen 
Schönen der Welt — aber auch sie ergaben sich dieser 
sie brandmarkenden Leidenschaft. Kann man sich ein 
schlagenderes Argument für das Angeborensein denken?" 

„Jedoch, bevor ich auf ein weiteres Argument über- 
gehe, das ich aus eigener Erfahrung schöpfte, will ich 
die zwei Hauptcharakteristiken dieser unglücklichen In- 
guinität (ich weiss nicht, ob ich das rechte Wort wähle) 
scharf hervorheben." 

.,a) Kein geborener Homosexualist ergab sich jemals, 
auch nicht in frühester Jugend, der sogenannten ein- 
samen Onanie, denn sobald in ihm der Trieb erwachte, 
suchte er stets schon Kameraden, mit denen er den 
Akt verübte — also der diametrale Gegensatz zum 
M o n o s e x u a 1 e n. Es lässt sich daher kein ärgerer Fehl- 
schluss denken, als der gewisser Richter und Verteidiger, 
die Homosexualität sei die Folge zu übertriebener ein- 
samen Onanie, die zum Genuss des Weibes unfähig mache. " 

,,b) Ich glaube die Beobachtung gemacht zu haben, 
dass die meisten Homosexualen — wenigstens unter denen, 
die ich studierte, — fast immer die Letzten ihrer, oft 
sogar Jahrhunderte hindurch überfruchtbaren Familien, 
oder doch jenes Zweiges derselben waren, der, selbst- 
verständlich, mit ihnen ausstarb. Ich bitte, mich ja nicht 
misszuverstehen, und nicht an jenen hübschen Witz junger 
Mediziner zu denken, dass sich manchmal die Unfrucht- 
barkeit von der Mutter auf die Tochter vererbe. Wer 
je Genealogie studierte, besonders die so wenig gekannte 



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89 — 



dabei. — Vor ein paar Jahren besah ich mir einmal inv 
dichten Gedränge zwischen anderm Publikum die jetzt 
in Mitteleuropa so viel gezeigten Nubier. Dabei fixierte 
ich die drei jüngsten der Burschen, und richtig, sofort 
warfen sie kokette Blicke auf mich, griffen sich, nach 
mir deutend, an die Scham und lachten unbändig, in ihrem. 
Kauderwelsch offenbar mich betreffende Bemerkungen 
austauschend; plötzlich aber wendeten sie sich alle drei 
um, und suchten was am Boden, um ihre Hinterteile 
plastisch bloßzustellen. Ueberaus gutmütige, elastische 
Geschöpfe, erlauben sie sich nie Unhöflich keiten gegen- 
über dem andern Publikum. Aber fast alle Nubier sind 
geborene Homosexuale.* 

„Besonders Mutuelle und die passiven Pygisten 
— die aktiven im Gegenteile — lieben meist ganz- 
schwärmerisch ihre Mütter, halten sich überhaupt gern 
an Weiber, tratschen um die Wette mit diesen in deren 
Gesellschaft — sind aber schroff gegen Mädchen — 
haben förmliche Wut, sich in Weiberkleider zu stecken, 
iticken, stricken, nähen — ich kannte in Köln einen alten,, 
viel belachten Major, der den ganzen Tag am Stick- 
rahmen sasa und wirklich hübsches leistete. T , -Jugend - 
renriniazenx*, pflegte er affektiert diese sonderbare Passion 
u entschuldigen* Udingens teilen sieh die Mut Hellen 
nfern in Aktive und Passive, als bei diesem Verhält- 




— 88 — 



in bürgerlichen Familien, den sogenannten Patriziern, und 
beim Adel, der streng auf reines Blut hielt, wird das 
Gesetz erkannt haben, dass sich Familien oft durch Jahr- 
hunderte kräftig fortpflanzten durch 1 — 3 Söhne, dass in 
diesen Familien aber plötzlich, nachdem sie wiederholt in 
10 — 12 Kindern sich auszweigten, die letzte so überfrucht- 
bare Generation überwiegend mehr Töchter hatte, dagegen 
ihre Knaben entweder während der Entwicklungszeit oder 
später in kinderloser Ehe starben, oder auch, dass Einzelne 
davon dem Wahnsinne oder stillem Hinsiechen verfielen, 
während der allerletzte sich gar nicht mehr verehelichte. 
Ich bin natürlich weit davon entfernt, dies Vorkommen 
als das alleinige zu bezeichnen; jedoch ich habe diese 
Beobachtung frappierend oft gemacht, um sie nicht der 
Beachtung zu empfehlen." 

„Das Angeborensein des Triebes lässt sich schon beim 
Kinde ersehen. Es hat Lieblingskameraden, schmiegt 
sich körperlich an diese, berührt sie an gewissen Stellen 
wie unwillkürlich, oder lässt sich wie zufällig berühren, 
kokettiert — aber nur männlichen, nie weiblichen Indi- 
viduen gegenüber — durch Entblössung des Hintern, 
durch ungeniertes Harnen etc. Erst oh 11 längst beobachtete 
ich einen solchen Fall bei einem elfjährigen Knaben, der 
mit mir, da ich ihn scharf ansah, lächelnd sein Spiel 
treiben wollte. Und als ich seine Mutter darauf auf- 
merksam machte, meinte sie, das sei harmloser Ueber- 
mut, und rühmte es noch, dass er sich mit den Nachbars- 
mädchen keinerlei Unziemlichkeiten zu erlauben pflegte. 
Es ist bei dem Kinde auch wirklich bloss erst Instinkt. 
Vber Kinder fühlen schon instinktiv das Recht oder Un- 
recht selbst eines Spasses, und als der Kleine das that, 
hatte sein, blos ein Jahr älterer Bruder sofort ein „Pfui!" 
zur Hand, obgleich ich blos dazu lächelte; und seine 
Mutter sagte mir, der Kleine spiele am liebsten mit 
fremden Knaben allein und habe nicht gerne seinen Bruder 




89 — 



dabei. — Vor ein paar Jahren besah ich mir einmal inv 
dichten Gedränge zwischen anderm Publikum die jetzt 
in Mitteleuropa so viel gezeigten Nubier. Dabei fixierte 
ich die drei jüngsten der Burschen, und richtig, sofort 
warfen sie kokette Blicke auf mich, griffen sich, nach 
mir deutend, an die Scham und lachten unbändig, in ihrem. 
Kauderwelsch offenbar mich betreffende Bemerkungen 
austauschend; plötzlich aber wendeten sie sich alle drei 
um, und suchten was am Boden, um ihre Hinterteile 
plastisch bloßzustellen. Ueberaus gutmütige, elastische 
Geschöpfe, erlauben sie sich nie Unhöflichkeiten gegen- 
über dem andern Publikum. Aber fast alle Nubier sind 
geborene Homosexuale.* 

„Besonders Mutuelle und die passiven Pygisten 
— die aktiven im Gegenteile — lieben meist ganz- 
schwärmerisch ihre Mütter, halten sich überhaupt gern 
an Weiber, tratschen um die Wette mit diesen in deren 
Gesellschaft — sind aber schroff gegen Mädchen — 
haben förmliche Wut, sich in Weiberkleider zu stecken, 
sticken, stricken, nähen — ich kannte in Köln einen alten,, 
viel belachten Major, der den ganzen Tag am Stick- 
rahmen sass und wirklich hübsches leistete. „ Jugend- 
reminiszenz pflegte er affektiert diese sonderbare Passion 
zu entschuldigen. Uebrigens teilen sich die Mutuellen 
insofern in Aktive und Passive, als bei diesem Verhält- 
nisse der eine stets etwas älter ist als der andere, und 
der A eitere sich — sehr oft süsslich und schleichend, 
daher „warmer Bruder* genannt — auch mit lüsternen. 
Blicken an nichts ahnende Normalsexuale macht, während 
der Passive sich solchen gegenüber mehr lockend ver- 
hält. Aber alle, am stärksten die passiven Pygisten, 
haben etwas sonderbar Weibisches an sich — daher sie 
schon die Alten direkt „Fftcminati" nannten, und noch 
heute die Franzosen „E/fcmmwes" — sind affektiert,, 
kokett, nicht immer physisch, aber stets moralisch feig,- 



— 90 — 



wie in geheimem Schuldbewusstsein, werden gar oft die 
Zielseheibe schlechter Witze entschiedener Männer, die 
aber nichts ahnen von der eigentlichen Natur der Ge- 
hänselten. Letztere sind dann zänkisch, schmollen über 
jeden auch harmlosen Spass, „ verbitten* sich denselben 
4ind gehen vornehm thuend ab. a 

„Am merkwürdigsten für den Naturforscher ist aber 
•das Verhalten der Weiber gegenüber den Homo- 
sexualen. Jungfrauen würdigen dieselben kaum eines 
Blickes, halten sich dieselben eiskalt ab. Frauen schwatzen 
gerne mit ihnen, thun sogar so vertraut mit ihnen, als 
wüssten sie, dass es Eunuchen sind. Ich fand sogar, dass 
Frauen Homosexuale in allerlei häusliche Fragen ein- 
reihten, sie um Rat bei direkt häuslichen Arbeiten frugen, 
ja und mit den jüngsten über Schwangerschaft und Kinder- 
aufpäppeln plauderten, aber keine Spur eines koketten 
Blickes, eines gefühlvollen oder zärtlichen Tons, oder gar 
eines jener tausend Zeichen sinnlicher Liebe des Weibes 
.gegenüber dem Manne wurde je an diese oft sehr schönen 
Hämmlinge vergeudet. Und noch dazu wusste ich oft 
allein, dass es Hämmlinge seien. Bei solchen Beobach- 
tungen griff ich mir oft an den Kopf und monologisierte : 
„Den Kukuk noch einmal, riechen denn die Weiber diese 
Impotenz ihnen gegenüber, oder sehen sie es jenen Leuten 
an den Mienen an?" (Die meisten dieser Frauen werden 
wohl gerade nichts mit der Nase wahrgenommen haben, 
das Geheimnis ist nichts andres als die Wirkung des 
■ ; iij:eatmeten Duftes auf das körperliche Gefühl. Jaeger.) 

„Und nun erst das Verhalten der Homosexualcn 
-Hinüber den Weibern!" 

„Wie gesagt, die Homosexualen verkehren sehr gern 
mit Weibern, denen gegenüber sie sich nicht sowohl als 
M rinner benehmen, vielmehr als wären auch sie Weiber, 
fcssch, häusliche Arbeit und Sorgen liebend und an- 
bfnglich wie Schwester an Schwester. Aber keine Spur 




Oi — 



sinnlichen Reizes, unfähig jeden Tons der Leidenschaft 
des Mannes zum Weibe. Der berühmte Heldendarsteller, 
weiland Hendrichs, besonders in seiner Jugend ein 
prachtvoller Mensch, war in Liebesroilen hinreissend bis 
zu dem Momente, wo er zu sagen hatte: „Ich liebe dich!* 
Das war stets gefühllos, ebenso sein Kuss kalt, hatte er 
ihn auch der schönsten Schauspielerin zu geben, die ihn 
aber auch eben so kalt zurückgab. Manche seiner Part- 
nerinen in solchen Rollen gestanden mir, er sei so lieb 
und geistreich, auch wahrhaft berauschend durch grosses 
Pathos, aber kein Weib könne an seiner Seite warm 
werden. Und auch in seinen schönsten Jugendtagen, wie 
er mir selbst sagte, erhielt er nie von Damenseite einen 
Liebesbrief, obgleich man lange nichts von seiner Passion 
wusste, und er auch blos Mutualer war. Noch auffallender 
erschien dies einige Dezennien vorher bei dem herrlichen, 
wenn auch etwas koulissenreissenden Heldendarsteller, 
weiland Wilhelm Kunst, der sogar auf ein paar Tage 
Gatte der grossen Tragödin Sophie Schröder wurde 
— um ins Wiener Burgtheater zu gelangen, was fehl- 
schlug — dann aber geradezu aus der Gattin Haus ge- 
jagt wurde, da er sich empörend betrug. Also kein 
Homosexualer ist dem Weibe sexualsympathisch.* (Dazu 
gehört eben unbedingt die Einatmung eines adä- 
quaten Männerdufts, und über einen solchen verfügt dem 
Weibe gegenüber nur der Normalsexuale. Jaeger.) 

„A 11 e Homosexualen erklären dasWeib für 
antipathisch riechend. Besonders die Brüste sind 
ihnen fatal, sowohl plastisch, als noch mehr der Ausdünst- 
ung, oft auch des Milchgeruches wegen. Sie haben einen 
Horror vor dem weiblichen Körper und seinen Reizen, 
sie sind überhaupt des Weibes nicht fähig, und auch ein 
ganzer Harem der schönsten nackten Weiber kann, selbst 
mit allem Raffinement, bei ihnen ebensowenig eine sexuale 
Regung erzielen, als beim Monosexualen. Doch darauf 



— 92 — 

werdeich beim aktiven Pygismus nochmals zurückkommen.* 
(Die obige Bemerkung, dass sie trotzdem sich gerne in 
Weiberkreisen bewegen, ist kein Widerspruch, sondern 
Umschlag verdünnten Ekelduftes in Lustduft durch ge- 
nügende Distanzierung. Jaeger.) 

„Von den Beziehungen der Homosexualen unter 
sich und gegenüber Normalsexualen, auf die sie 
lüstern werden, gilt ganz dasselbe in sexualer Beziehung,, 
wie zwischen normalen Männern und Frauen. Ein Homo- 
sexualer sieht Hunderte seines Gleichen und Tausende 
hübscher, junger Normalsexualer ganz gleichgültig an y 
bis ihn plötzlich der Hundertste oder der Tausendste 
geradezu verrückt macht. Er scheut nun weder Demütig- 
ungen noch brutalste Zurückweisungen, noch Opfer, 
Liebesdienste oder Geld. Wie oft wundert man sich 
schon bei Normalsexualen, von denen manchmal einer 
für eine bestimmte Maitresse Hunderttausende vergeudet, 
während er für wenige Thaler dutzendweise Schönere 
erlangen könnte; ja längst überdrüssig der Reize der 
Teuren, zahlt er, weder durch Gesetz noch durch Sitte 
hierzu gezwungen, Pensionen. Ebenso handelt der reiche 
Homosexuale; er adoptiert fast den Liebling — und fast 
alle Adoptierungen jüngerer Leute durch ältere Personen, 
mit denen sie nicht blutsverwandt sind, haben diese Wurzel 
— sorgt, wie schon gesagt, dass der Liebling, dessen 
man satt geworden, gut ausgeheiratet werde, oder ist's 
selber ein Homosexualer, dass er eine gute Lebensstellung 
erhalte etc. Man könnte hier aus der Geschichte merk- 
würdige Beispiele zitieren, wie z. B. weiland Herzog 
Karl von Lucca oder der weiland holländische Gesandte 
Baron Heckeren für ihre Lieblinge sorgten, die heute 
in verschiedenen Staaten hohe und sozial wie politisch 
berühmte Positionen einnehmen und „in der Welt- 
geschichte mitmachen 0 . 

„Bei den letzen Ausführungen muss besonders bemerkt 



— 03 



werden, dass alle Homosexuale — die Mutuellen wie 
«die Pygisten — sich in zwei scharf zu unterscheidende 
•Gruppen sondern, nämlich in Aktive, welche in solchem 
Verbände den Mann repräsentieren, und in Passive, 
welche der weiblichen Hälfte entsprechen." 

„Am positivsten ist das natürlich bei den Pygisten 
betont, obgleich es auch solche giebt, welche mit der 
aktiven und passiven Rolle gegenseitig wechseln. Aber 
auch bei den blossen Mutuellen (den gegenseitigen 
Onanisten), die ja im Vergleich zu den Pygisten in über- 
grosser Mehrzahl sind, besteht dieser Unterschied sehr 
deutlich. Nie sieht man ein Verhältnis zwischen zwei 
Oleichalten. Stets ist der eine, meist der Passive, jünger, 
und wenn bloss um ein Jahr; und eben der Passive, der 
auch bei blosser Onanie sich weibisch Hingebende, ist, wie 
schon früher geschildert worden, der Effeminierte, von 
weibischem Charakter, anlockend und sich sofort ergebend, 
aber nie der keck Angreifende; während der Aktive, der 
Aeltere, sowohl um Homosexuale als um Normalsexuale 
wirbt, sich an sie herandrängt. Diese Aktiven der 
Mutualität sind in der grössten Mehrzahl von 16 — 50 
Jahren; doch auch später lassen sie, oder richtiger lässt 
■der Trieb sie nicht los, und sie sind Verführer bis ins 
hohe Alter hinein, auch wenn sie selber gar nicht mehr 
fähig sind, wo sie dann um so mehr die jugendlichen 
lebenswarmen Körper lieben und mit ihnen gerne spielen. 
Jedoch einen alten aktiven Pygisten, bleibt er auch potent, 
giebt es nicht, denn zu solchem Akte gehört vollste 
Jugendkraft; sie werden also zuletzt aktive Mut uelle, frei- 
lich auch hierbei mehr an die Rückseite sich haltend." 

„Hier muss ich wiederholen und noch besonders 
betonen — weil das bei den aktiven Pygisten als Haupt- 
rätsel ausführlicher besprochen werden wird — , dass 
sich wenigstens in unserem Klima auch die aktiven 
Mutuellen nie an Kindern vergreifen, nie an Knaben, 



welche noch nicht gehöriger Ejakulationen fähig sind. 
Schon der grosse Praktiker, der Geheime Polizeirat Dr. 
Stieb er, erwähnt dies ausdrücklich und ziemlich be- 
stimmt von Berlin, dass man dort nur Burschen oder 
Jünglinge, besonders Soldaten, von 15 — 25 Jahren als 
Passive sucht; und auch Medizinalrat Dr. Casper macht 
diese Bemerkung, gleichfalls etwas verblüfft darüber. 
Die Lösung dieser Frage ist eine höchst einfache, in der 
Natur der Sache liegend, von der aber freilich unsere 
Gerichtsärzte noch nichts träumen. Der homosexuale 
Trieb wird ja eben dadurch charakterisiert, dass 
er ausschliesslich auf das jugendlich Männliche ausgeht, 
dessen Duft ihm allein sympathisch ist und ihn in Erek- 
tionen versetzen kann — genau so, wie die Tribade 
(s. d.) nur auf das schon ausgesprochen Weibliche los- 
geht. Dem männlichen Homosexualen beider Genres ist 
ja das Weibliche so entschieden antipathisch (wie der 
Tribade das Männliche), und dem Homosexualen muss 
ein unreifer Knabe als doppelt noch weibisch, übelriechend, 
unmännlich reizlos erscheinen. Es ist um so unbegreif- 
licher, dass man bisher dies so deutliche Naturgesetz so 
sehr raissverstand und gar nicht daran dachte, dass ja 
der männliche wie der weibliche Homosexuale an seinen 
Trieb gebunden und keiner Freiheit des Willens hierin 
fähig ist. Der Homosexuale, auch wenn er den festen 
Willen hat, ein Weib zu begatten, bringts gar nicht zur 
rechten Erektion, um selber einen Genuss dabei zu haben 
— wie mir mehrere Homosexuale sehr im Detail ver- 
sicherten, die sich durch Verhältnisse verlocken Hessen, 
/Ai heiraten, stets Schande erlebten und stets in wenigen 
Wochen oder Monaten sich zur Scheidung gezwungen 
-:ihen, wie es ja auch jedem Monosexualen ergeht, der 
ein Ehebett besteigt. Und wie erst sollen sie sich an 
unreifen Knaben vergreifen, die gar keinerlei Reiz ihren 
Gelüsten bieten, wie denn auch die Tribade gar oft von 



— 95 — 



einem Manne, besonders ist sie Ehefrau, bezwungen wircL 
und es erdulden inuss, aber weder Genuss dabei empfindet, 
noch sich es je ein zweites Mal wünscht. " 

„Es ist also grobe Ignoranz, wenn ein Unter- 
suchungsrichter bei Schändung oder Verstümmelung eines 
unreifen Kindes nach Jemand greift, der oder gar weil 
er im Rufe eines Homosexualen steht, und es ist von einem, 
Gerichtsarzt Gewissenlosigkeit, wenn er, ohne Proben, 
darüber anzustellen, welcherlei Personen erektiv auf ihn 
wirken, ein Urteil giebt. Im Gegenteil, nur der Nor- 
malsexuale, dem in Vollkraft seines Triebes freigestellt 
ist, welchen Akt er verüben will: Onanie, gegenseitige 
Onanie, beide Formen des Pygismus, wie die Entjungferung* 
und alle Sorten, das Weib zu gemessen — der nicht wie 
der Monosexuale und der Homosexuale an ein bestimmtes 
Gelüste gebunden ist, er vermag auch jede Art von. 
Kinderschändung zu verüben, ja sogar Sodomie mit Tieren- 
und Schändung von Leichen, er ist bestialisch genug, denn 
er hat ja die ungebundene Kraft dazu. Und was be- 
sonders zu erwähnen ist, nur der Normalsexuale ist 
manchmal brutal genug, sein Opfer als Steigerung der 
Wollust auch noch grausam zu quälen, ja nach Blut zu 
lechzen — was ja auch bei manchen Tieren während der- 
Begattung eintritt. Man frage nur öffentlich Dirnen, was^ 
sie von den „Blutern", d. h. den allerdings selten vor- 
kommenden Liebhabern halten, welche während des Akts r 
im Momente der Brunst, die Geliebte blutig beissen, sie 
verwunden — ja auch Weiber thun das bei leidenschaft- 
licher Umarmung. Und dass solche Brunst in gewissen 
Fällen sogar zu Morden führt, hat doch die grässliche 
Geschichte des Herzogs von Praslin-Choiseul in 
Paris 1864 bewiesen, der seine junge Gattin, die Tochter 
des General Sebastiani, während des Coitus erdrosselte. 
— Die Geschichte und die Literatur bewahrten uns die 
Erinnerung an die sexualen Greuelthaten zweier Unge- 



— 96 - 



heuer. Der eine war der Marschall de Retz im 17. Jahrh., 
der andere jener berüchtigte Autor der so bodenlos un- 
züchtigen und vielbändigen Romane, der Marquis de Säde 
(Urenkel von Petrarka's Laura!), beide in Frankreich. 
Ueber letzteren, der erst 1824 starb, nachdem ihn Napo- 
leon I. für lebenslänglich nach Bicetre unter die Narren 
hatte sperren lassen, schrieb Jules Janin ein besonderes 
•und charakteristisches Buch. Waren diese beiden etwa 
Homosexuale, obgleich sie auch genug der Männer, Jüng- 
lmge, Knaben, ja Kinder grausamst missbrauchten? Nein, 
es waren entschieden und .vehr potente Normalsexuale, 
denn sie gebrauchten hunderte und hunderte von jungen 
Mädchen, Frauen, ia alten Weibern, die sie während des 
Coitus oder darnach, niederstachen, niederschossen, schwer 
verwundeten, dann ihre Leichen mit denen der noch 
scheusslicher ermordeten Knaben und Kinder in Sümpfe 
-warfen, oder sie in Kellern vergruben." 

„Also was soll das Geschwätz, gegenüber wissen- 
schaftlicher Forschung unserer Zeit, dass gewisse Arten 
von Schafen gefährlicher seien als Stiere in Brunst!" 

„Also Passive sind überall bereits Geschlechts- 
reife, nur mit dem Unterschiede, dass im Orient, im 
Süden, wie bei uns unter den Zigeunern, ja vielfach auch 
unter den Dorf juden, der Knabe schon mit 10 — 12 Jahreu 
geschlechtsreif ist, ja sogar heiratet; in unserem Norden 
aber der Bursche oder Jüngling indogermanischer Rasse 
erst mit dem 15.— 18. Jahr sich sexual fühlt, zur 
Verführung lockt und ihr leicht zugänglich ist Die 
meisten Passiven stehen bei uns in dem Alter des Studenten, 
des Soldaten, des Ladendieners, des Kellners etc. Erst 
vor einigen Monaten wurde in Berlin eine ganze Gesell- 
schaft Mutualer freigesprochen, weil von ihren Anklägern 
keiner unter 18 Jahren war, also jeder Bewusstsein genug 
hatte, um zu wissen, zu was er sich preisgab. Die Be- 
zeichnung »Knabenliebe * ist also in jeder Konsequenz 



— 97 — 



falsch, war sogar, anthropologisch gesprochen, bei den 
"Griechen nicht, ist bei den Orientalen etc. nicht vor- 
handen, denn in jenen Kliinaten sind Knaben schon so 
früh nicht mehr Knaben in unserem Sinne, sondern schon 
Burschen, Jünglinge — der junge Grieche zog schon mit 
in die Schlacht, wie Pin dar es verherrlicht. Für uns 
Naturforscher ist es das Allerwichtigste, zu wissen, dass 
auch in der Homosexualität erst der Geschlechtsreife — 
und trete diese Periode noch so früh ein — sexual reizt, 
wie ja auch in der Normalsexualität der Backfisch selbst 
den geilsten Mann kalt lässt. Dass aber trotzdem — wie 
Hausner sagt — jetzt so gesteigert Kinderschändung 
beider Geschlechter vorkommt, lässt sich nur durch die 
Verwilderung und immer mehr zunehmende Zügellosigkeit 
gewisser Normalsexualer erklären, die vielfach, tierisch 
berauscht, oder, wenn nüchtern, so hellerlos und ver- 
lumpt, dass sie Erwachsenen keinen Antrag machen können^ 
aber krankhaft geil, und nur Befriedigung ihrer eigenen 
Geilheit suchend, nicht Gegenliebe, sich an wehrlosen 
Kindern vergreifen — oft sogar selber geschlechtskrank, 
also gewiss Normalsexuale! — aber ebenso gleichgiltig, 
aus Mangel an Besserem, sogar mit Tieren vorlieb 
nehmen. — Also unsere Handbücher der gerichtlichen 
Medizin bedürfen in dem Stück einer gründlichen Um- 
arbeitung. " 

Ich unterbreche nun die Auslassungen meines Korre- 
spondenten durch eigene Bemerkungen. 

Eine weitere naturwissenschaftlich höchst interessante 
Scheidung der Homosexualen ist die in Mu tu eile, welche 
•die überwiegende Mehrzahl bilden, und in Pygisten, 
die aber allerdings höchstens 2 — 3 Prozent der Gesamt- 
heit repräsentieren. Die Auf klärung über diesen Unter- 
schied liegt in dem, was ich über den Regionalduft 
<les Körpers gesagt habe. Es duften nie alle Duftprovinzen 
«des Leibes gleich; und eine idiosynkrasische Regel, von 

Jahrbuch II. 7 



— 98 — 



der es nur verhältnismässig wenig Ausnahmen giebt, 
lautet: 

„Einem Partner duften nicht alle Duft- 
provinzen eines und desselben Leibes idiosyn- 
krasisch gleich; er bevorzugt stets eine bestimmte 
Provinz; ich nenne sie: die positive Duftprovinz 
oder die Sympathieprovinz, und dieser steht stets 
eine negative oder ant i pathische oder Ekelprovinz 
gegenüber. Dieses Gesetz fand ich bei allen Personen, 
die ich untersuchen, resp. befragen konnte, bestätigt. 

Die Variationen sind hier zahlreich. Entweder ist nur 
eine einzige Duftprovinz sympathisch, alle anderen sind 
unsympathisch, oder es sind mehrere sympathisch, dann 
aber stets die eine ganz besonders. Sind aber alle sym- 
pathisch — und dieser Fall ist ganz besonders vor- 
handen bei Sympathie zwischen Mutter und Säugling, 
bei der es keinen Punkt am Körper des Säuglings giebt, 
den die Mutter nicht in Sympathie leidenschaftlich 
abküsste — so ist doch stets einer am wenigsten sym- 
pathisch. — Im Verhältnis zwischen Erwachsenen ist es 
aber meist so, dass den sympathischen Provinzen einige 
unsympathische Provinzen gegenüberstehen, unter denen 
dann die eine geradezu Ekel- oder Greuelprovinz 
ist. In der Begel ist diese Greuelprovinz der After, 
aber durchaus nicht immer. Selbst im Verkehr 
zwischen zweierlei Geschlechtern stösst man bei genauer 
Prüfung auf das Gegenteil; es giebt sogar Rassen und 
Völker, bei denen die „St eissliebe" ganz besonders häufig 
zu sein scheint. Mein Korrespondent sagt: „Bei der 
jüdischen, griechischen, italienischen und teilweise der 
französischen Nation zählt — und nicht blos bei Freuden- 
mädchen, auch in der Ehe und bei Liebschaften neben 
dem Schoosskuss auch der Steisskuss (siehe Martial und 
das vortreffliche Werk des Dr. Rosenbaum) zu den 



— 99 — 



Raffinements beim natürlichen Coitus. Ja, es giebt bei 
der Normalsexualität direkt ein Raffinement durch 
i Exkrementenduft«, und ganz Wien erzählt sich noch 
heute nach 50 Jahren von einem altberühmten baronisierten 
weiland Bankier, von dem die Dirnen, welche er ge- 
brauchte, aussagten, sie hätten ihm ihre Notdurft unteres 
Kinn auf die Brust verrichten müssen, da erst dieser Duft 
ihn erektierte. Dr. F. A. Forberg erzählt übrigens in 
seinem Hermaphrodit us des Pannormilanus genug 
solcher Geschichten auch von den römischen Cäsaren bis 
in seine Zeit; und noch weitaus mehr der ekelhafte Mar- 
quis de 8 ade in seiner »Justine«." 

Nun, dieser Gegensatz kommt auch bei den Homo- 
sexualen scharf zum Apsdrucke in der Scheidung 
zwischen Mutuellen und Pygisten. Dem Mutuellen, 
der die übergrosse Mehrzahl ausmacht, duftet nur die 
Vorderseite seines Geliebten und dessen Genitalien 
angenehm — „bouillonartig", — wie sich so viele über- 
einstimmend gegenüber Dr. M. ausdrückten — lange bevor 
ich meine Aeusserung über den „B°iiillonduft" beim 
lebenden Menschen machte. — Und sie tasten zwar auch 
sehr gerne, im plastischen Genüsse, den Hintern ihres 
Objekts ab und lassen sich am eigenen Hinterteile aus 
gleichen Gründen abtasten, dagegen der After selber 
ist den Mutuellen in der Regel überaus ekelhafte Greuel- 
pro vinz, wie etwa auch für sie die Zumutung, die 
Vulva eines Weibes zu berühren ! Wenn der M utuelle 
schon als Kind anderen Knaben oder direkt jungen 
Männern ganz ungeniert und naiv nach den Genitalien 
greift, so ist das — naturwissenschaftlich gesprochen — 
gerade so instinktiv, wie das Kraulen des Liebenden in 
den Haaren der Geliebten, wenn der Kopfduft die positive 
Sympathie begründet! Der merkwürdigste Teil der Homo- 
sexualen sind die Pygisten, und hier ist die Sache 

7* 



— 100 — 



nicht so einfach wie bei den Mutu eilen, die ja nur 
gegenseitige Phallizismen treiben. Wir müssen daher die 
P y g i s t e n gesondert betrachten, und zwar die Aktiven 
für sich und darnach besonders die Passiven; denn der 
Unterschied zwischen beiden ist ein sehr grosser. Ich 
lasse zunächst Dr. M. das Wort: 

„So oft ich einen Aktiven frug — und wie oft ge- 
schah das! — behauptete jeder stets dasselbe: Das Weib 
rieche übel, d£goutant, schon allein an den Brüsten, 
die auch plastisch ekelhaft sind; besonders aber stinke 
ihr Schoossduft wie Käse, wie Fussscb weiss. Ueberhaupt 
sei die ganze Atmosphäre der Weiber anwidernd, und sie 
duften ja an sich auch viel stärker als der Mann, daher 
sie soviel Parfüms gebrauchen. Und jener Knabe habe 
instinktiv Recht gehabt, der in Frauengesellschaft plötz- 
lich ausrief: »Hier riecht's nach Weiberfleisch !t Nun, 
wenn ich an meine eigenen hundertfachen Abenteuer mit 
— nicht feilen — Mädchen und Frauen zurückdachte, so 
musste ich mir gestehen, das9 ich — besonders in der 
Kegion der Mittelstände, auf manch ein reizendes Wesen 
stiess, das allerdings »verflucht pikante roch — besonders? 
wie ja schon von mir eigens betont wurde, gerade solide 
weibliche Personen absichtlich an jenen Stellen sich nicht 
waschen, um nicht für Dirnen zu gelten. Aber gerade 
dieser dubiöse Geruch errektiert ja uns Normale ganz 
ungemein, obgleich er Hauptschuld des rasch nachfolgenden 
bekannten *Post cöitum* etc. sein mag, welchen sexualen 
Katzenjammer ich bei jenen herrlichen Frauen der höheren 
Stände nie erlebte, die sich so sorgsam baden und waschen. 
Und schon unter uns etwas erwachsenen Jungens gab 
man sich gegenseitig eine grüne Pflanze zum Beriechen 
herum — deren botanischen Namen ich nie erfuhr — 
die aber veritabel wie eine Vulva roch, was uns sehr reizte." 
(Chenopodiura vulvaria.) „Wenn ich dann solche Aktive 
höhnisch frug, ob etwa der After nicht auch übel rieche, 



— 101 — 



ja noch viel übler? so bekam ich stets dieselbe Antwort: 
»O, das ist was ganz anderes! Der After bei der Jugend 
ist meist geradezu verblüffend rein und trocken — nur 
der älterer und nicht besonders propre sich haltender 
Männer ist vielfach schmierig uud feucht, so übel wie ein 
Weiberschooss. Aber ein Junge von 15 — 25 Jahren ist 
von Natur aus, und sei's ein Strassenjunge, gerade an 
jenen Stellen reiner als eine Jungfrau. Der Junge, der 
sich schon selber mit seinen Genitalien zu schaffen 
machte und nicht als Phimosist geboren wurde, ist am 
Glied ebenso rein und trocken wie am After und wie 
wohl nie ein Weib!" — Wenn ich topographisch-ana- 
tomisch diese Behauptungen überdachte, so konnte ich 
im Punkte der natürlichen Reinlichkeit des Afters nicht 
gut widersprechen, denn derselbe ist ja durch seine 
Konstruktion und Funktion selbstverständlich reiner als 
der weibliche Schooss, wird letzterer nicht ganz besonders 
gepflegt. Der After stösst ja mit Muskelkraft alles aus, 
was zwischen dem drei Zoll langen Kanal vom sphineter 
ani internus bis zum sphineter externus sich ablagert und 
schliesst darin so fest, dass keine Gährungfermente in ihn 
eindringen, wie dies so leicht beim Schooss des Weibes 
stattfindet, dass, um nicht noch stärkere Ausdrücke zu 
gebrauchen, die Vagina »verflucht pikant« duftet und, 
wie schon gesagt, gerade bei anständigen Frauen, — das 
ist auch ein merkwürdiger Beweis, wie der Instinkt alles 
auf die Duftstoffe Bezügliche ganz unbewusst herausbringt. 
Denn, wie ich Ihnen schon früher schrieb, die Lustdirnen 
waschen sich sorgfältig — schon aus Sanitätsrticksicbten 
— und eben durch diese Geruchlosigkeit verrät sich 
die Dirne im Vergleiche mit dem anständigen weiblichen 
Wesen." 

So weit Dr. M. 

Also die Eine Seite beim aktiven Pygisten ist nicht 
etwa — wie doch beim kotliebenden Normalsexualen — , 



— 102 — 



-dass ihm der Afterduft — der doch immerhin, wenn auch 
sehr gering, vorhanden sein muss — das positiv Sym- 
pathische am Passiven wäre; er gesteht blos zu, dass der 
After ihm kein Greuel ist, dagegen aber das ganze 
Weib. 

Gerade deshalb wählt aber auch der Aktive den 
After des jungen Mannes und nicht den des Weibes. 
Es giebt zahlreiche Weiber — besonders in Serbien — , 
welche ganz besondere Lust daran finden, sich in den 
After koitieren zu lassen, und andere, z. B. in Italien, 
die es verlangen, um sicher vor Befruchtung zu sein. 
Endlich jede Lustdirne lässt, gegen gute Bezahlung, mit 
sich machen, was mit ihr vorgenommen wird. Und — 
unglaublich, aber wahr — nie war ein solcher Afterakt, 
verübt vom Normalsexualen am Weibe — strafbar, nicht 
einmal in der Carolina. Wäre es also dem aktiven 
Pygisten nur darum zu thun, rein mechanisch in eine 
engere Oelfnung zu koitieren, als gewöhnlich die Vagina 
ist — nun, er könnte ja bei Weibern spielend leicht dies 
Gelüst befriedigen, straflos, mühlos, folgenlos und ohne 
Angst und Zittern. Aber ihm ist eben die ganze Atmo- 
sphäre des Weibes antipathisch, die des Jungen sym- 
pathisch. Schon Martial lässt einen Ehemann, der aber 
aktiver Pygist ist, seiner Frau höhnisch antworten, die 
Bich selber ihm als Ganymed antrug, um ihn von Knaben 
abzuhalten: »Das verstehst du nicht! Weiber haben gar 
keinen Anus — blos zwei Vaginen*. 

„Der aktive Pygist — im Gegensatze zu allen an- 
dern Homosexualen — fühlt sich — gleich dem Normal- 
sexualen — als Mann; er ist eine durchaus aktive 
Natur. Er ist nie — weder in seinem Aussehen (oft 
sogar schon mit Vollbart!) noch in seinen Manieren und 
in all seinen Geschmacksrichtungen „weibisch", — was 
doch alle andern Homosexualen — auch die aktiven 
Mutuellen — sind. Solch ein aktiver Pygist ist in der 



— 103 — 



Mehrzahl ein — zwischen 20—30 Jahre alter, richtiger 
gesagt junger Mensch, so völlig ungeniert, wie jeder 
Normalsexuale, Damen gegenüber zwar kühl, aber sehr 
weltgewandt, oft auch liebenswürdig ohne Sinnlichkeit, 
jungen Leuten gegenüber aber so offenherzig keck heraus- 
fordernd, direkt zugreifend, dass sein Opfer eher an über- 
sprudelnden Jugendübermut glaubt als an überlegte Ver- 
führung und direkt homosexuale Absicht. Hören Sie 
nur folgende kurze Schilderung eines wahren Monstrums 
von aktivem Pygisten, der in einer Weltstadt vor 14 
Monaten starb, volle 55 Jahre alt, aber von jedermann 
für einen Dreissiger gehalten, so gesund, natürlich jugend- 
lich (nicht gefärbt) sah er aus, und er starb am Auf- 
bruch alter Kniewunden, die er sich 1848 als Offizier im 
Gefecht geholt hatte, und man begrub ihn, ohne dass er 
noch ein graues Haar hatte. Er hiess Valerian Schober. 
Früh verwaist, nahm den Knaben Schober ein Pfarrer 
(ein aktiver Mutueller) zu sich, der ihn erzog und 
verzog, bis der Junge 20 Jahre alt geworden. Er 
wurde ein blendend schöner Bursche; zuletzt Erbe 
seines Wohlthäters, trat er in bester Gesellschaft auf 
und hatte rasch einen Kreis junger Kavaliere und 
reicher Bügerssöhne um sich. Bis dahin passiver 
Mutueller des Priesters, entwickelte er nun plötzlich seine 
Leidenschaft als aktiver Pygist. Alle seine Kameraden 
verfielen ihm, und von da ab volle 35 Jahre hindurch 
verging keine Woche, in der er nicht ein- bis zweimal 
wenigstens sein Gelüste stillte., am liebsten mit jungen 
Handwerkern, sowie mit Soldaten, die bei ihm schliefen, 
ihn aber andern Tags nie mehr fanden, da er stets sein 
Nachtlager wechselte und 6 Wohnungen hatte. Trafen 
sie mit ihm später zufällig öffentlich zusammen, so be- 
nahm er sich höchst ungeniert, war grossmütig oder kurz 
angebunden, oder nahm seinen Liebling wieder für eine 
Nacht in ein andres seiner Quartiere mit. Stets trug er 



— 10t — 



ein Flacou feinstes Oel mit sich, um beim Akte alle Ver- 
letzungen zu vermeiden. Schober war stets sehr ge- 
schmackvoll, doch vornehm bescheiden gekleidet, blühend 
jung, gesund und schön, von unwiderstehlichem Humor,, 
in allen besten Gesellschaften, nicht reich, doch unab- 
hängig wohlhabend, glücklicher Börsenbesucher, bei dem 
man über alle Geschäfte sich Rats erholte, wie so viele 
Familienväter ihn über ihre Söhne und Töchter zu Rate 
zogen — und waren die Söhne hübsch, so waren sie ihm 
rasch verfallen, und ihm dann treu anhänglich. Und so 
ahnte denn 35 Jahre niemand etwas von dieses sehr 
strammen Mannes geheimer Leidenschaft, im Gegenteil 
man hatte ihn als furchtbaren Weiber-Don Juan im Ver- 
dacht. Ein paar Mal hatte er Fatalitäten mit Normal- 
sexualen — und nur solche suchte er sich aus, 
nie passive Pygisten — die darnach mit Anzeige 
drohten. Da ergriff er aber gleich selber die Initiative, 
lief keck und mutig zur Polizei, beschwerte sich energisch 
wegen solcher Zumutung, und man gab ihm lächelnd 
Recht, denn sein Aeusseres schon und sein Benehmen 
Hess keinerlei Verdacht aufkommen, um so weniger, als 
er 1848 tapfer für die Ordnung gekämpft hatte und ver- 
wundet worden war, und zuletzt war er ganz sicher, als 
er heiratete. Das that er aber freilich nur in Aussicht 
auf eine Erbschaft, der zu Liebe er auch wirklich seine 
Frau befriedigte. Doch wie er selbst öfter erzählte, er 
hielt es nur ein Jahr neben der schönen Frau aus, dann 
war ihm alles Weibertum so sehr zum „Ekel* geworden, 
dass er sogar die Aussicht auf die Erbschaft aufgab, sich 
von seiner Frau trennte und sich um so leidenschaftlicher 
dem alten Gelüste ergab. Er starb zuletzt, ohne dass 
seine Verwandten oder das Publikum je was ahnten, noch 
jetzt ahnen. Und so könnte ich Ihnen noch ein paar 
hundert junger Leute herzählen — lieferte Ihnen auch 
schon Dutzende solcher Charakteristiken — welche 



— 105 — 



zwischen ihren 20. — 40. Jahren leidenschaftliche aktive- 
Pygisten waren, ohne dass jemals jemand das von ihnen 
ahnte. Schober war nur hierin die einzige, phänomenale 
Ausnahme, dass seine Potenz wie sein jugendliches Aus- 
sehen bis in das ziemlich hohe Alter von 55 Jahren aus- 
hielt, und dass er dazwischen faktisch auch des Weibes 
fähig war, freilich nur durch grosse Selbstbeherrschung 
und unter beständigem Ekel. 

Es ist daher nichts lächerlicher, als die so allgemein, 
verbreitete Ansicht, Päderasten seien nur alte gebrech- 
liche, gegen jeden andern Sinnenkitzel schon abgestumpfte,, 
impotente Leute. Man giebt sich gar nicht die Mühe 
nachzudenken, denn dann müsste man von selber zu dem 
Schluss geraten, welche volle Jugendkraft und Potenz, 
zur Verübung solch' eines Akts gehört! Nur Geheirarat 
Dr. Stieb er erkannte bisher das klar und riet noch da- 
zu der Polizei, bei solchen Fällen lieber ein Auge zuzu- 
drücken, oder alle beide, „denn ein Beweis sei äusserst 
selten herzustellen und die Thäter meist vornehme junge 
Herren, ja oft sehr hohe Persönlichkeiten, und übergrosser- 
Eifer führe nur zu Verdriesslichkeiten." 

Hieran knüpfe ich (Jaeger) Folgendes: Wenn ich 
das mir übersandte Portrait des Schober mit den Portraits- 
passiver Pygisten, die mir Dr. M. schickte, vergleiche, 
so ist klar: Schober ist in jeder Linie ein Mann, in de&- 
Wortes verwegenster Bedeutung, die Passiven haben 
weibische weichliche Physiognomien. Solche aktive 
Pygisten sind % superviril* , sie sind dem gewöhnlichen 
Mann ebenso überlegen, wie dieser dem Weibe „durch 
Duftwirkung*, daher die dominierende Stellung Schobers. 
Das Weib steht einem solchen etwa so fern, wie uns 
Normalsexualen ein Backfisch. Die Supervirilität 
Schobers spricht sich auch darin aus, dass er nicht die- 
weibischen passiven Homosexualen, sondern gerade Normal- 



— 106 - 



sexuale auswählte. Ueber den Unterschied des aktiven 
Pygisten vom Mutuellen sei noch Folgendes gesagt. 

Die aktiven Pygisten sind herrische, leidenschaftliche 
Menschen, die auch beim Geschlechtsgenuss ein sich 
ihnen völlig unterwerfendes passives Objekt brauchen, 
wenn ihr Trieb gestillt werden soll, während die Mutualität 
als ein viel zu passiver zahmer Akt sie absolut unbe- 
friedigt lässt. Man wird also sagen, das sei somit doch 
bewusstes Raffinement, und das Instinktive sei nur die 
Abneigung gegen das Weib, während ihr Unterschied vom 
Mutuellen andere Gründe haben müsse. Das halte ich 
für falsch, und ich will die Erklärung etwas ausführlicher 
geben, weil sie ein schlagender Beweis für meine ganze 
Seelenlehre ist und stets zum richtigen Verständnis der- 
selben beiträgt. 

Wie ich bei dem normalsexualen Wollustaffekt aus- 
führlich schilderte, funktionieren bei der Begattung 
mehrere Organe als Duftquelle, nämlich ausser den 
Generationsdrüsen erstens das Begattungsglied, der 
Schwellkörper, zweitens die Muskulatur. Von dem 
Grad der Zersetzbarkeit des Eiweisses hängt es nun ab, 
ob die Duftstoffentbindung leicht oder schwer vor sich 
geht JDie aktiven Pygisten sind nun meines Dafür- 
haltens Leute mit schwer z ersetzbarem Ei wei ss: 
der Schwellkörper braucht eine starke Friktion, bis es 
zum Friktionsaffekt kommt, und die Muskeln müssen 
stärker angestrengt werden, um den Muskelaffekt zu ent- 
binden. Das ist nun bei der Mutualität nicht möglich, 
hier sind die Reize zu schwach, und deshalb greift der 
aktive Pygist zum After, welcher die höchste Aktivität 
verlangt, denn der Wollustaffekt ist eben nicht perfekt, 
wenn sich nicht der Schwellkörper- und Muskelaffekt 
dazu gesellen. Zu dieser schwereren Zersetzbarkeit des 
Eiweisses stimmt das ganze übrige Bild des kräftigen, 
kecken, aktiven Pygisten im Gegensatz zu dem weibischen 



— 107 — 



Mutuellen und passiven Pygisten: der Unterschied zwischen 
Mann und Weib ist aber hauptsächlich der, dass das 
Eiweiss des ersteren schwerer zersetzbar ist als das des 
letzteren. Warum nicht der After des Weibes gewählt 
wird, ist klar: das Weib ist ihm antipathisch, ekelhaft. 

Ueber die passiven Pygisten schreibt mir mein 
Korrespondent: 

. „In der That, es ist geradezu verblüffend, wenn man 
bedenkt, dass sich jemand, und wenn für noch so viel 
•Geld und schöne Worte, freiwillig dazu hergiebt, einen 
Akt an sich vollziehen zu lassen, der nach gemeinem 
Menschenverstand entsetzlich schmerzen muss, dem Er- 
clulder selbst keine Wollust zu gewähren scheint, im 
Gegenteil von den übelsten Folgen bedroht ist. Aber 
noch verblüffender ist es, wenn man weiss, dass es zahl- 
reiche schöne, junge Männer giebt, Männer, welchen die 
halbe Frauenwelt zu Gebot stünde und die doch sich 
nicht etwa blos freiwillig gebrauchen lassen, sondern 
geradezu dafür noch bezahlen und die Sache Jahre lang, 
selbst weit ins reife Alter hinein treiben." 

„Nachdem ich mich endlich durch die ausführlichste 
Beobachtung und Befragung vollständig überzeugt hatte, 
dass die Schmerzhaftigkeit des Aktes nicht blos nicht 
existiere, sondern im Gegenteil beim Passiven wegen der 
Reizung der am Mastdarm anliegcuden Samenbläschen 
ein höchst intensiver Wollustaffekt, sogar mit mehr- 
maliger Ejakulation erfolge, verfiel ich in die entgegen- 
gesetzte Vermutung, ich dachte: die äusserst angenehme 
Erfahrung einer erstmaligen Erduldung des Aktes werde 
zur bewussten Ursache einer jetzt unwiderstehlichen 
Leidenschaft. Allein auch davon musste ich zurück- 
kommen, als ich passive Pygisten kennen lernte, von 
<lenen es undenkbar war, dass sich jemand erstmals an 
sie gewagt und sie verführt hatte." 

,Dass es sich um etwas Instinktives handeln müsse, 



— 108 — 



war mir also klar, und ich sah jetzt immer mehr: der 
Passive ist ein Weib, ist „effeminiert*; er ist Weib in 
Gaug, Gesten, Tracht. Neigungen, sogar in der Stimm- 
lage, treibt das Weibische so weit, dass er sich schminkt, 
und jetzt war nuYs klar: der Blick des Wissenden er- 
kannte sie auf den ersten Sitz, auch die Polizei kennt sie 
meistens, aber das grosse Publikum ahnt nichts davon, 
belustigt sich an ihrer WeibiscKkeit, bewundert etwa ihre 
Frauenarbeit, was sogar ihre Eltern thun, die Geschick- 
lichkeit ihres Sohnes preisend, und merkwürdig, es ist 
ein Stand, der sie ganz vorzugsweise in sich schliesst: 
Friseure und Barbiere, und zwar so sehr, dass ich 
die passiven Pygisten bald nur stereotyp Ä Bar bier- 
gesellen" nannte. Dieses Gewerbe ist wie geschaffen 
für passive Pygisten, diese Weiber in Mannesgestalt, es 
ist eine weibische Beschäftigung und biingt sie zu der ihnen 
sympathischen Männerwelt in angenehme Beziehungen. 11 
„Man denke aber ja nicht, dass jeder Friseur oder 
Barbier sich von Homosexualen an den Leib kommen 
lässt und effeminiert ist. Im Gegenteile, die meisten sind 
entschiedene Weiberliebhaber. Und dann gehört ja ein 
gewisser Grad von Schönheit dazu, um überhaupt ver- 
führt zu werden. Hässliche Gesellen fallen also ganz 
ausserhalb dieser Behauptung. Aber dieser Leute höchst 
intime Beschäftigung mit dem männlichen Körper macht 
es doch selbst begreiflich, dass Homosexuale leichtes 
Spiel mit hübschen jungen Gesellen haben, die sie zu 
sich kommen und von denen sie sich alles Mögliche am 
Körper verrichten lassen. Aber die meiste Konkurrenz 
hierin machen die Kellner, besonders in den Gasthöfen; 
selbstverständlich wieder nur die jungen und hübschen. 
Sie bedienen auf den Stuben und — sind Trinkgeldern 
zugänglich. Ich glaube, man könnte ganz Europa durch- 
reisen und sicher sein, in jedem der tausende von Hotel» 
wenigstens auf 1—2 „Willige - zu stossen, ist es auch zu- 



— 109 — 



meist ein Normalsexualer, der aber für Geld gern »Mäd- 
chen für alles« ist. Jedoch auch die geborenen Homo- 
sexualen sind zahlreich, die, wenn sie älter werden, sich 
durch ganz besonders affektierte Manieren und weibische 
Allüren dem Eingeweihten kenntlich machen, während 
solch einen Burschen der Uneingeweihte für einen »sehr 
höflichen Mann« hält, da sie meist auch sehr gewandte 
Kellner sind. Dann kommt die lange Reihe der Soldaten, 
besonders Kadetten, Schneider, Schuster, Tischler — 
bei denen allen man leicht etwas bestellen und sich's 
auf die Stube bringen lassen kann." 

„Doch zurück zur Weibesnatur des passiven Py- 
gisten!* 

„Schon Aristophanes im Symposion des Plato 
stellte bekanntlich die Hypothese von der „Verwechsiung 
der Seelen" bei der Erzeugung auf, und so komme es, 
dass oft eine Männerseele den Leib eines Weibes be- 
herrsche, noch mehr aber komme es vor, dass eine 
Weiberseele in einen männlichen Körper eingeschlossen 
werde, und das seien dann die „Moles", die leidenschaft- 
lichen Lustknaben und überhaupt die passiven Pygisten.* 

„Die Philologen haben selbstverständlich diese ganze 
Stelle für einen ironischen Witz eines fingierten Aristophanes 
erklärt, denn der wirkliche könne gar nicht beim Sym- 
posion gewesen sein.* 

„Aber die Rabbiner der ersten christlichen Jahr- 
hunderte stellten dieselben Lehre auf und suchten sie sehr 
im Detail zu beweisen, das „anima muliebris in corpo- 
re virili.* 

„Auf alles das erwiderten dann deutsche Philo- 
sophen, man möge zuerst die Existenz einer Seele 
beweisen, dann wolle man die Verwechselungsmöglichkeit 
glauben. Nun, sie haben mit ihrer Entdeckung diese 
Forderung erfüllt, und so denke ich, wird Aristophanes 
Recht behalten." 



— 110 — 



Ich gebe nun aus der reichen Auswahl von Charak- 
teristiken bestimmter Personen, die mir mein Korrespon- 
dent übermittelte, zwei Fälle, von denen uns der erste 
noch eine ganz eigentümliche, übrigens, wie wir sehen 
werden, auch bei Normalsexualen vorkommende Variation,, 
die Senilophilie, vorführt. 

1. Giovanni Campi, von italienischer Abkunft,. 
Marchand de Mode in einer deutscheu Grossstadt, der so 
seinen Geschmack beim Einkauf entwickelte, dass er schon 
mit 20 Jahren wohlhabend war. Er war nicht üj>er 
Mittelgrösse, fein und aristokratisch gebaut, jugendlich 
schön von Gesicht, doch schon nervös, bartlos, am ganzen 
Leibe schön und rein, aber mädchenhaft, selbst jedoch 
in nichts affektiert, leidenschaftlicher aktiver Pygist, 
aber nie mit Jüngeren, sondern stets mit 
Aelteren, als er selbst war! Ich konnte ihn recht 
gut leiden, aber wie oft musste ich lachen, wenn er sogar 
vor mir kniete, flehend, ihn zu erhören, und er schliess- 
lich wütend über meine Weigerung von dannen lief, um 
wochenlang mit mir zu schmollen. Vergeblich entblösste 
ich vor ihm die hübschesten Mädchen. Nur allein mit 
mir, der ich ihn doch nie erhörte,, war er glücklich oft 
stundenlang, mir, der ich damals schon Dreissiger war,, 
zärtlichst die Hände küssend, und solch ein Trieb sollte 
kein angeborener sein? 

2. Heinrich Kittmann, damals 22 Jahre, mittel- 
gross, schlank, nicht schön, blos hübsch, bartlos, ungemein 
freundlich mit jedermann und bescheiden, daher bei allen 
wohlgelitten; ein aussergewöhnlich fleissiger, pünktlicher, 
stets Ordnung haltender Beamter, der sehr getreu seine 
etwa 50jährige Mutter versorgte, welch letztere nicht da» 
geringste von seinen geheimen Trieben ahnte. Jedoch 
so harmlos und züchtig aller Welt Gunst erwerbend H. 
im öffentlichen Leben war, um so leidenschaftlicher, geiler 
und unzuchtmässiger — doch stets humoristisch — war 



— 111 - 



er im Kreise Vertrauter. Er gesellte nach und nach ein- 
Dutzend alter wie junger „ Vernünftiger" um sich, wusste 
alles, was homosexuell in der ganzen grossen Stadt vorging, . 
kannte zu Tausenden jede Person gleichen Triebes bis 
hinauf in die höchsten Gesellschaftsschichten und bis 
hinab zum Strassen] ungen. Er selbst, sagte er mir stets, 
gebe sich jedem passiv hin, der ihn pygistisch oder mutual 
benutzen wolle, auch diene er gern aktiv, immerhin doch 
lieber passiv, »denn er sei Weib«. Und in der That war 
seine Stimmlage eine höhere, fast wie die eines Mädchens, 
am Körper dagegen war er keinenfalls auffallend weibisch. 
Damals ahnte ich noch nichts von Ihrer Geruchs theorie, 
jedoch ich erinnere mich noch ganz genau, dass ich später 
nie wieder so geruchlos angenehm riechende 
Körper gefunden habe, als von diesem und dem vorigen. 
H. war passiv gesucht bis in die höchsten Kreise. Ich 
staunte ihn oft eine Weile an, was das für ein gutmütiger,, 
lieber Kerl sei, der wie ein Spiessbürger harmlos aussah 
und doch so fieberisch geil war. Von Krankheitssymp- 
tomen bemerkte ich nie etwas /nehr an ihm, als dass ihn 
zeitweise ein Magenkrampf überfiel. Plötzlich wandelte ihn 
eine förmliche Satyriasis an, er gab sein gutes Amt, in 
dem man ihn so sehr achtete, auf und ging — als Frater 
in ein Mönchskloster, nicht aus Religiosität, sondern — 
um Liebhaber zu finden. Und er fand sie auch fast 
während 8 / 4 Jahren. Jedoch der Skandal wurde ruchbar 
— man jagte ihn davon. Von da an erfuhr ich nichts 
mehr von ihm, nur vor ein paar Jahren, dass er ca. 40 
Jahre alt an Lungenschwindsucht gestorben sei. — Ist 
das nicht ein psychologisch wie physiologisch höchst merk- 
würdiger Charakter und war bei dem die Homosexualität 
nicht direkt angeboren? Er gestand mir, nie ein Weib 
berührt zu haben, er „liebe nur ältere, ja ganz alte Leute 1 . 
So oft ich ihm zuredete, es doch einmal mit einem 
Mädchen zu versuchen, er ging nie darauf ein, erklärte 



— 112 — 



sie für reizlos für seinen Trieb. Gesellschaftlich war er 
aber um so lieber in dieser Weibergesellschaft, gab allen 
Atout vor in Schwatzen und Witzemachen, verstand 
sich auf Stricken, Sticken, alle Weibermoden. Die Weiber 
.nannten ihn stets »einen lieben Menschen <, aber keine 
wurde von ihm sexual angezogen, sie betrachteten ihn 
»als Ihresgleichen«. Jetzt bitte ich, mir dies sonderbare 
Rätsel zu lösen!" 

„Eines steht fest; alle diese Abnormitäten des Ge- 
schlechtstriebes werden, positiv oder negativ, durch den 
•Geruch beherrscht, angezogen oder abgestossen. Diese 
Thatsache weist allein schon auf das Instinktive hin. 
Hierzu kommt noch die Intensität des Triebes. Wir 
wissen, es gab Fürsten, reiche Leute, Denker, Dichter, 
Künstler, mit gewiss logischer Zurechnungsfähigkeit, 
Kenntnis des Guten und Bösen, des Gesunden oder Schäd- 
lichen, und ihrer Viele sonst ganz ehrenhafte Charaktere, 
gute Bürger, moralische und humane Menschen, ja 
Einzelne sogar der Stolz ihrer Zeit und der Menschheit, 
und alle diese sind Sklaven ihres Triebes, als beherrschte 
sie ein Dämon. Die Hohen, die Reichen, die Jungen, 
die Klugen könnten sich ja ganze Harems von Weibern 
halten oder sich glücklichst verehelichen, während sie bei 
ihren Trieben in der Selbstbefleckung nur Austrocknung 
von Leib und Seele, Zehrkrankheiten, Erblosigkeit, die 
Homosexualen noch Spott, Schande, Verachtung, ja Ehr- 
verlust, Verlust des Broterwerbes, sogar brutalste Strafen 
erwarten. Trotzdem lassen sie nicht von ihren Trieben, 
können eben nicht lassen, so wenig als der Normalsexuale 
von seinem. Und das soll kein Instinkt sein? Alle 
diese Triebe sollten nur bewusst beabsichtigte, erst an- 
gewöhnte Laster sein, blosse verirrte Frivolität, Ueber- 
mut Geiler? Das ist ja Unsinn, Beleidigung des gesunden 
Menschenverstandes ! M 

Vollständig richtig gesagt: das ist einer der ekla- 



tan testen Falle, welch mächtige Rolle die bisher von aller 
Forschung übersehene „Riechseele" im Körper spielt, 
wobei der Geist, der Seele gegenüber, machtlos ist, 
höchstens quantitativ einschränkend, Unersättlichkeit hin- 
dernd, niemals qualitativ umändernd einwirken 
kann. Dies ist ein Beispiel, welch würdiges, merkwürdiges 
Objekt diese „Seele* für die Naturforschung ist, und 
jeder Gelehrte, dem es nicht blos um Kultivierung seines 
Steckenpferdes zu thun ist, sollte mit Energie darauf 
dringen, dass die Wissenschaft endlich diesem mächtigsten 
Faktor des menschlichen und tierischen Leibes die ge- 
bührende Beachtung schenkt. 

Nun noch einiges über die weiblichen Horaosexualcn 
die sogenannten Tribaden (von gr. tribo = reiben). Ich 
gebe hierüber Herrn Dr. M. das Wort: • 

„Ueber die Tribaden giebt es eine ziemliche Literatur, 
die ich Ihnen unten zusammengestellt habe: die eigent- 
lichen „viragines" mit tiefer Stirne, vierschrötigem Knochen- 
hau, Bartanflug bis starkem Bart, auch meist starker 
Pubcs, sind keine Tribaden, sondern im Gegenteil sehr 
männersüchtig, was ich bestimmt weiss. Was sind, was 
thun also Tribaden? Da Männer ihnen Gräuel sind, so 
habe ich nur sehr wenig Selbsterfahrung darüber, doch 
ganz fehlen auch sie mir nicht, da ich nichts unversucht 
Hess, um hinter alle Sexualitätsverhältnisse zu kommen. 0 

„Schon in frühester Gricchen«eit kam diese Leiden- 
schaft vor und hatte ihre besondere Göttin. Ihre Dich- 
terin war Sappho, weshalb man diese Form auch die 
„sapphische*, oder, weil sie auf der Insel Lesbos besonders 
häufig gewesen sei, die „lesbische 44 Liebe nannte. Es 
werden auch einige neuere historische Persönlichkeiten 
dieses Triebs beschuldigt, mit wie viel Recht, weiss ich 
nicht. 11 

Den vorstehenden Ausführungen meines Korrespon- 
denten möchte ich noch einiges Thatsächliche aus eigener 

Jahrbuch II. 8 



— 114 — 



Erkundung und Beobachtung zufügen, zunächst über die 
Tribadie: 

Da an dieser Sache, wie Dr. M. richtig sagt, die 
Männer nicht beteiligt sind, ist es für einen Mann schwer, 
etwas zu erfahren. Am besten gelingt es noch in Theater- 
und ähnlichen Kreisen, und da erfährt man denn genug 
von Personen, die bei der Tribadie den aktiven Teil 
spielen, also den „ Superfemininen*, umsomehr, da sie gleich 
ihren Kollegen auf dem männlichen Gebiet, den v Super- 
virilen", immer eine hervorragende, beherrschende 
Rolle spielen, eben kraft ihrer seelischen Natur; sie sind 
geborene „Heroinen*. Das Bemerkenswerteste und für 
die Deutung Wichtigste ist, dass diese Ä Superfemininen" 
nicht von Männern umworben werden, sondern von 
weiblichen Personen; namentlich die weibliche 
Jugend schwärmt für sie, überschüttet sie mit Liebes- 
briefen, und zwar sicher, ohne dass die meisten auch nur 
eine Ahnung von dem haben, was sie so anzieht, und in 
aller Unschuld. Es ist also nicht „Wissen", nichts, was 
mit „Erfahrung", also mit irgend etwas Geistigem zu- 
sammenhängt, sondern lediglich — Du ft Wirkung! Ich 
weiss von einem Fall, wo eine solche öffentlich auftretende 
„Artistin" in einer grösseren Stadt die Frauenwelt der- 
gestalt aufregte, dass alles davon sprach, aber fast nie- 
mand auch nur die entfernteste Ahnung von dem „ warum" 
hatte. 

Eine weitere Erkenntnisquelle wurden für mich 
meine öffentlichen- sogenannten „Weinproben**) mit 
Anthropin (wie ich den spezifischen Riechstoff des 
Menschen, den Riechstoff, der den Hund befähigt, seines 
Herrn Spur überall zu folgen, nannte). Allerdings war 



proben hielt ich in etwa 70 Städten Deutsch- 
lind der Schweiz, wobei Überall die Stadt- 
mecker erschienen. G. J. 



- 115 — 



auch diese spärlich, da hierbei meist nur Männer er- 
schienen, aber diese zeigten doch den Weg, und zwar so: 
Für die Normalsexualen wird ein Wein immer ent- 
schieden angenehmer, milder, blumiger, wenn man ihm 
eine (homöopathisch kleine) Gabe weiblichen Anthropins 
(gleicher Komplexion oder Rasse) beifügt Ich stiess 
aber dabei immer auf einzelne Männer, bei denen das 
Gegenteil stattfand, Manner, für die der weiblich huma- 
nisierte Wein widerwärtig, abstossend bis ekelhaft war. 
Die Erkundigung ergab immer, dass es „Junggesellen" 
oder geradezu stadtbekannte „Weiberfeinde* waren. 
Bei ihnen machte ich keine Gegenprobe mit männlichem 
Anthropin — aus begreiflichen Gründen, aber ich be- 
nützte die selteneren Fälle, wo Damen zur Stelle waren. 
Bei ihnen nahm ich natürlich zur Veränderung des Wein- 
geschmacks männliches Anthropin. Während dies nun 
bei den meisten Damen ebenso geschmacksverbessernd 
wirkte, wie bei den Herren das weibliche, stiess ich 
einigemal auf eine Dame, bei der das Gegenteil der Fall 
war, also auf eine „Männerfeindin". Da machte ich dann 
die Gegenprobe: ich gab ihr, natürlich ohne es zu ver- 
raten, weibliches Anthropin in den Wein und jedesmal 
mit ausgesprochenem Erfolg: „Ja, das ist entschieden besser 
geworden!" In einem Fall konnte ich nachher im engeren 
Kreise auch Näheres erfahren: die betreffende „alte 
Jungfer" lebte mit einer jüngeren „Nichte" zusammen. 
Die Welt findet an diesem tausendfach vorkommenden 
Fall gar nichts, weil sie nichts erfährt. 

Es erhebt sich hier unwillkürlich die schwer wiegende 
Frage: „Sind alle „Weiberfeinde" unter den Männern 
und alle „Männerfeinde* unter den Weibern Homo- 
sexuale?* Gewiss nicht! Einmal sind unter ihnen die 
Monosexualen, die man auch „Menschenfeinde* 
heissen kann, weil sie weder Mann noch Weib zu lieben 
vermögen. Sicher stellen auch diejenigen ein grosses 

8* 



Kontingent, die dem andern Geschlecht aus Gründen ab- 
geneigt sind, die mit dem Instinktleben nichts zu thun 
haben, aber unter dem, was man als „Männerfeindin 11 
unter den Weibern und „Weiberfeind" unter den Männern 
bezeichnet, stecken die Homosexualen. 

„Alle?" Auch wieder nicht! Worauf schon Dr. M. 
hinwies, mischen sich die passiven männlichen Homo- 
sexualen häufig mit Vorliebe in 'Weibergesellschaft, ja 
lieben weibische Beschäftigungen und werden von den 
Weibern als ihresgleichen betrachtet Das scheint da- 
gegen zu sprechen, dass Liebe zum gleichen Ge- 
schlecht notwendig verbunden sei mit „Feindschaft" 
gegen das andere, und scheint weiter dagegen zu sprechen, 
dass es in allen Fällen auf den Person alduft ankommt 
Hierüber ist zweierlei zu sagen: 

1. Ein Grundgesetz der Duftstoffwirkung ist: In 
zu grosser Konzentration wirken alle Düfte abstossend 
und umgekehrt giebt es keinen abstossenden Geruch, der 
nicht in genügender Verdünnung das Abstossende ver- 
lieren, ja entgegengesetzt wirken würde. 

2) Ein Grundgesetz der sexualen Duftentwick- 
lung ist, dass alle Geschöpfe im Zustand der Brünstig- 
keit auffallend stärker duften als sonst 

Ein männlicher Homosexualer, besonders ein Passiver, 
kann also ganz gut mit Weibern gesellschaftlich verkehren, 
der weibliche Duft hat in diesem Falle nichts Aufdring- 
liches; dies tritt aber sofort ein bei so grosser Annähe- 
rung, wie es der geschlechtliche Umgang erfordert und 
vollends, wenn der Partner in Brunst gerät 

Die Besprechung der Homosexualität in meinem 
Werk „Entdeckung der Seele" (Bd. L Kap. 22), war 
Anlass, dass sich einige Homosexuale teils schriftlich, 
teils mündlich an mich wandten. Alle bestätigten mir 
übereinstimmend, dass sie der Ausdünstungsgeruch weib- 
licher Personen anwidere, während sie an männlichen 



— 117 — 



entweder gar nichts von Geruch (bcne olct f quod non olet 
oder entschiedenen Wohlgeruch wahrnehmen. Einer davon 
versicherte mir, es gäbe für ihn — er war schon ein 
alter Mann — nichts herrlicheres als den Geruch einer 
vom Exerzieren heimkehrenden Soldatentruppe. 

Ueber den Ausdünstungsgeruch Homosexualer 
kann ich nur das mitteilen: Mir, einem Normalsexualen, 
riechen alle reifen männlichen Normalsexualen scharf, 
brenzlich, säuerlich und nicht angenehm, weshalb ich mir 
Personen, die einem dicht ins Gesicht sprechen, vom Leib 
zu halten suche. Dieser eigentümliche männliche Geruch 
fehlte den paar Homosexualen, die oder deren eingesen- 
detes Haar ich zu beriechen in der Lage war; ich kann 
ihren Geruch nur als fade bezeichnen, doch bin ich tiber- 
zeugt, dase das bei einem „Supervirilen" anders ausfallen 
würde. So ist ja bekannt, dass der ausgesprochene 
Supervirile Alexander der Grosse für die Männer 
wie Veilchen duftete. 

Zum Schluss noch eine Bemerkung aus dem Tier- 
reich. Bei männlichen Hunden trifft man sehr 
häufig homosexuale Akte. Das ist ja grossen Teils 
die Folge davon, dass es ihnen ausserordentlich an Weib- 
chen mangelt, allein eine eigene Rolle spielen hierbei die 
Kastraten. Ich hatte selbst Jahre lang einen solchen. 
Dieser wurde von allen Hunden als Femininum behandelt, 
und umgedreht behandelte er sie auch als Femininum: 
er hatte seine Freunde, von denen er es sich gefallen 
liess, stand ihm aber ein Bewerber nicht zu Gesicht, d. h. 
richtiger gesagt: „zu nahe*, so schüttelte er ihn genau so 
ab, wie es eine Hündin mit einem ungebetenen Liebhaber 
macht, und das Hessen sich selbst an Stärke weit über- 
legene Rüden ebenso feig mit eingeklemmtem Schwänze 
gefallen, wie sie es sonst nur von einer Hündin hin- 
nehmen. Also auch hier zeigt sich die Homosexualität 



— 118 — 



als das Ergebnis einer natürlichen Veränderung und 
nicht als ein Ausfluss freien Beliebens, 



Mono- und Amphisexualität. 

Es folgen hier noch einige dieses Kapitel betreffende 
Mitteilungen von Dr. M., die ich meinem Buch „Ent- 
deckung der Seele'* einzuverleiben unterliess. 

„Ich bin ein prinzipieller Gegner aller symptomato- 
logischen Kategorisierungen, welche zu sehr an die Hexen- 
prozesse erinnern, denn dasselbe System kann ja hundert 
verschiedene Ursachen haben. Sie bemerkten doch schon 
genug der jungen Leute — Aeltere beobachteten Sie 
bisher nicht — welche an Zwinkern der Augen, Zucken 
der Gesichtsmuskeln, Grimassenschneiden, mit Verrenken 
oder Zurückwerfen des Kopfes, Schnauben und dergleichen 
leiden, oder besonders gerne sich die Fingernägel bis ans 
Blut abnagen — kommt aber auch bei grübelnden Ge- 
lehrten, Mathematikern, Schachspielern vor — und um 
mich selber daran zu verhindern, Hess ich mir von Jugend 
an die Nägel lang und rosig wachsen, was man mir als 
Eitelkeit auslegt. — Nun verstehen Sie mich wohl : Nicht 
alle diese Grimasseure sind Onanisten, viele sind glück- 
lich verehelicht und Väter. Aber die Wurzel dieser 
Nervosität ist stets die in der Jugend getriebene Onanie!* 

„Mit der Zeit ruinieren sich diese Leute gewöhnlich 
durch die fortgesetzten Exzesse. Erst vor einem Jahr 
begruben wir einen solchen Unglücklichen, über 60 Jahre 
alt^ dreifachen Millionär, jedoch sehr geizig; damit man 
ihm nicht stets seinen Geiz vorwürfe, trug er sich von 
Jugend auf zwar sehr reinlich, aber so ärmlich, dass man 
in Versuchung kam, ihm ein paar Groschen zu schenken. 
Er war ein gutmütiger Mensch, aber in ewiger Unruhe, 
trieb sich stets an allen öffentlichen Orten herum, jedoch 



— 119 — 



selten mit jemand sprechend und nur lakonische Ant- 
worten gebend, auch in Gesellschaft guter Freunde wort- 
karg, stets zerstreut, ass auffallend viel, aber nur höchst 
wohlfeil. Am Tage seines Todes ging ich in sein Wohn- 
haus, um mich von der Wahrheit des Gerüchtes zu über- 
zeugen. Ich stiess auf meinen alten Freund, der ein 
Vierteljahrhundert des Verstorbenen Leibarzt war. Der 
Doktor fasste mich am Arm, führte mich ins Totenzimmer, 
wo die Leiche schon nackt auf dem Tische lag, schlug 
die Tücher zurück und sagte zu mir: «Sehen Sie hier 
die Leiche eines Esels, wie ich noch keinen zweiten 
kennen lernte! schauen Sie dieses grosse, missgestaltete 
Glied, diese Magerkeit der Arme u. s. w. Dieser drei- 
fache Millionär berührte nie im Leben ein Weib — aus 
Geiz!" O nein, lieber Doktor, die Geldfrage war jeden- 
falls nicht die Grundursache, der Mann war ein Mono- 
sexualer! Sie müssen aber nicht meinen, dass das ein- 
zelne abnorme Fälle sind. Fehlte es mir hier nicht an 
Raum, so würde ich Ihnen noch eingehend von einem 
etwa 36jährigen hübschen Millionärssohn erzählen, der 
Mitglied einer Kammer ist und dem sich sein Vater 
schon öfter zu Füssen warf (wörtlich), ihn beschwörend, 
er möge als einziger und reicher Sohn die Familie doch 
nicht aussterben lassen. Vergeblich! Schon spricht das 
Publikum von seiner onanistischen Manier. — Und nicht 
minder kenne ich einen heitern Cavalier, jetzt schon an 
die 50, die Seele aller Männergesellschaften, der mit ihnen 
in allen Bordellen umherläuft, überall das grosse Wort 
führt, auch zuerst stets mit einem Mädchen sich zurück- 
zieht; aber mehr als ein Dutzend seiner intimsten Jugend- 
freunde versicherten mich aufs Vertraulichste, er habe 
noch nie einen Weiberkörper berührt, er „komme schon 
mit sich selbst aus." 

„Und der so unglückliche geniale Lenau, dieser ge- 
borene Onanist, wie kämpfte er gegen diesen Fehltrieb 



— 120 - 



an, wie viel Liebschaften mit Damen knüpfte er an, die 
alle platonisch blieben, und als er sich endlich selber 
energisch zur Ehe zwingen wollte, wurde er, im Bewusst- 
sein dieser Impotenz, verschärft durch materielle Sorgen 
um seine Zukunft, plötzlich wahnsinnig. Und welchen 
tierischen Sexualexzessen ergab er sich im Wahnsinn! 
Das grosse Publikum braucht davon nichts zu wissen — 
denn gesegnet sei sein Andenken — und etwa noch lebende 
Freunde haben Recht^ wenn sie rundweg alles leugnen. 
Doch der Anthropologe hat sich nur um seine eigene 
Aufgabe zu kümmern und diskret seine Quellen zu 
verschweigen.* 

Ueber Amphisexualität besitze ich nur ein 
Fragment aus der Hand meines Korrespondenten. 

„Ja, es gab und giebt wirklich und ziemlich viele 
Männer, welche glücklich verheiratet sind, mit ihrer Frau 
Kind auf Kind zeugen, daneben aber es doch mit Jüng- 
lingen, selten mit jungen Männern, treiben, mit der Frau 
stets aktiv, mit den »Mignonsc fast nur mutual. Was 
ist das wieder für ein neues Naturrätsel!" 

„Ich könnte Ihnen eine lange Namensliste solcher 
> Doppelten t schreiben, von J. Cäsar und Horaz an 
bis zu Shakespeare und Moli Ire. Einen selbst er- 
lebten Fall will ich anführen." 

„Karl, heute 82, erzählte mir 1853, also damals 
56 Jahre — : Sie wissen, dass ich zweimal und zwar 
sehr glücklich verheiratet war, ich kann nicht sagen, 
welche der beiden Frauen ich leidenschaftlicher liebte. 
Mit jeder derselben hatte ich eine gesunde Tochter, deren 
eine, von ihrem Gatten angebetet, mich bereits mit drei 
Enkeln beschenkte. Ich war beiden Frauen gegenüber 
sehr potent, trotzdem fehlte mir auch beim erschöpfendsten 
Genüsse ein gewisses Etwas, meine Wollust voll zu 
machen, was ich mir nie erklären konnte. Noch muss 
ich bemerken, dass ich in meiner Jugend nie onanierte. 



— 121 — 



Eines Abends in Gesellschaft stürzte ein Bekannter herein 
und erzählte empört, es sei doch niederträchtig, wie un- 
geniert so verfluchte Päderasten sich draussen herum- 
treiben, eben habe ihm ein solch elender Kerl Anträge 
gemacht. Ich hatte bis dahin nicht die entfernteste 
Ahnung von dieser Passion. Die Nachricht schlug wie 
ein Blitz in mich ein: das ist's, was du suchtest! Ich 
nahm meinen Hut, ging an den Ort, nahm einen mit, der 
bei mir schlief, und von da ab habe ich — damals erst 
44 Jahre und sehr potent — nie wieder ein Weib berührt.* 



Endurteil. 

Bei diesem will ich mit Weglassung der Mono- und 
Amphisexualität nur von der, den Streitgegenstand 
bildenden Homosexualität sprechen: 

1) Die Homosexualität ist jedenfalls nicht in allen 
ihren Formen ohne Weiteres als etwas Krankhaftes, 
Abnormes, auf Entartung Hinweisendes zu bezeichnen, 
also nicht wie Prof. Krafft-Ebing es thut, kurzweg 
zur Psychopathie zu rechnen. Mindestens sind die 
Supervirilen (und -femininen) es nicht; Männer wie 
Alexander der Grosse, Friedrich der Grosse, 
der letzte Wikinger Karl XH., die Humboldt und so 
fort sind keine Psychopathen gewesen. Eher könnte man 
bei den Passiven (den Eifemminls) daran denken, da sie 
öfter in geistige Störung verfallen (z.B. König Ludwig II.) 
Allein das kann man sich auch als Folge ihrer moralischen 
Zwangslage, des Widerspruchs zwischen „Soll* und „Sein" 
denken. 

2) Ebensowenig gehört die Homosexualität an sich 
zu den Lastern, die von der menschlichen Gesellschaft 
bekämpft werden müssen, und die Gefahr, in ein Laster 



— 122 — 



auszuarten, ist bei der Homosexualität geringer als 
bei der Heterosexualität 

3) Sie ist eine so regelmässige, nicht blos bei Kul- 
turvölkern, sondern auch bei allen Naturvölkern ver- 
breitete Erscheinung, dass sie als ein Stück göttlicher, 
also auch zweckmässiger Naturordnung angesehen 
werden muss, wie die Geschlechtslosigkeit bei Bienen, 
Ameisen etc. 

a) Weil die Nichtbeteiligung an der Fortpflanzung 
ein Hemmschuh gegen die das Menschengeschlecht zu 
Zeiten bedrohende Uebervölkerung ist. 

b) Noch mehr, weil die Homosexualen der Sorge um 
die Familie enthoben, viel ungehinderter sich in den Dienst 

.des Gemeinwohls stellen können, gerade wie die Krieger 
und Arbeiter in den Ameisen- und Bienenstaaten. 
Die Einf ührung des Cölibats in der römisch-katholischen 
Kirche hat den geschichtlichen Beweis geführt, dass auch 
in der menschlichen Gesellschaft der Ehelose ein 
wundervolles Werkzeug zur Beherrschung der mensch- 
lichen Gemeinwesen ist 

c) Im Gegensatz zu den von dem Hochmutsteufel 
der Kultur blos aufgeblasenen „Uebermenschen* 
Nietzsche's sind die Super vi rilen (und -femininen) 
die wahren naturgeborenen und oft gewiss mit Recht 
als gottgesandt betrachteten „Uebermenschen*, 
die von jeher, sei es in engerem oder weiterem Kreise eine 
leitende, beherrschende Rolle gespielt haben und noch 
spielen. Allerdings, das kann auch ein solcher „Ueber- 
mensch", gerade wie der Normalsexuale nur werden, 
wenn er seinen Naturtrieb beherrscht und sich 
nicht von ihm unterjochen lässt. Ueberhaupt, man ver- 
stehe mich nicht falsch: Wenn ich einen Mann super- 
viril oder ein Weib superfeminin nenne, so wird 
damit nicht ohne weiteres die Beschuldigung des ge- 
schlechtlichen Umgangs mit Gleichgeschlechtlichen aus- 



— 123 — 

gesprochen; so gut ein Normal sexual er seinen Trieb 
so beherrschen kann, dass er sich des Weibes ganz ent- 
hält, kann dies auch ein Homosexualer thun. 

Dies veranlasst mich, die religiöse Seite der Frage 
zu streifen — wohlgemerkt, nur zu streifen, denn eine 
allseitige Besprechung ist nicht Sache des Naturforschers. 
Ich beschränke mich auf folgende Punkte: 

1. Das Heidentum legt seinen Erkennern gegen- 
über den Naturtrieben keinerlei Zwang auf, sondern ver- 
abscheut nur ein Uebermass, die Ausschweifung. So- 
k rat es und Plato trieben, trotzdem sie „ Busenfreunde tt 
hatten, sicher keine Ausschweifungen. 

2. Beim Christentum wird die Sache anders. Zu- 
nächst ist festzustellen, dass hier uns der Mann sofort 
in seinen zweierlei Formen als Hetero- oder Nor- 
malsexualer und als Homosexualer entgegentritt, 
ersterer in dem Apostel Petrus, der verheiratet war, 
letzterer im Apostel Paulus, der zweifellos von Natur 
ein Homosexualer war und auch deutlich genug darüber 
spricht (1. Corinther 7, 1 — 7). Seinem Nichtgebundensein 
an eine Familie und der Ueberlegenheit über den Mit- 
menschen, welche die Supervirilität verleiht, verdankt er 
seine hohe Eignung zu dem, was er vorzugsweise ge- 
worden, zum Heidenapostel. 

3. Das Neue auf dem Gebiet des Christentums ist, 
dass es eine weitergehende bis schliesslich radikale Be- 
kämpfung der Naturtriebe verlangt. Wie aus dem kleinen, 
untenstehenden, aus der Feder eines Theologen stammenden, 
Nachtrag erhellt, bezog sich letzteres anfangs keineswegs 
auf den Normal sexualen, sondern nur auf den Homo- 
sexualen. Erst im Lauf der Entwicklung, in der die 
Vorteile der Ehelosigkeit beim Kampf mit den das 
Christentum hindernden Mächten klar zu Tage trat, 
wurde die Niederkämpfung des Naturtriebs gottgefälliges 
Ideal und schliesslich im Cölibat strenges Gebot für die 



— 124 — 



Priesterscbaft, dem sich auch der Normalßexuale zu 
unterwerfen hatte. Acusserl ich wurde hierdurch natür- 
lich der Unterschied zwischen beiden verwischt; man 
konnte den Normalsexualen, der seinen Trieb zum Weibe 
unterdrückt, yon dem Homosexualen, der diesen Trieb 
gar nicht besitzt, nicht mehr unterscheiden. Innerlich 
blieb aber der Gegensatz bestehen: Musste der Normale 
seinem Trieb zum Weibe entsagen, so hatte der Homo- 
sexuale dies mit seinem Triebe zum Manne zu thun, und 
beide konnten das — wenn sie wollten! 

Das ist der springende Unterschied: die 
Ausführung des geschlechtlichen Umganges ist Aus- 
fluss einer geistigen Thätigkeit, Gegenstand des freien 
Willens, die Richtung, in der das geschieht, die Objekt- 
wahl ist nicht frei, sie ist gebunden an die Harmonie 
der Seelen, d. h. dessen, was man im Gegensatz zu 
dem „Geist" seit jeher „Seele* nennt und von dem 
ich in meinem Werk „Entdeckung der Seele" mit 
den verschiedensten Mitteln und nach den verschiedensten 
Richtungen nachgewiesen habe, dass es im Gegensatz zum 
Geist „stofflicher" Natur ist, also unseren stofflichen 
Sinnen, dem Geruch und Geschmack, sich ohne 
weiteres offenbart, auf allen Gebieten, die man gewöhn- 
lich „seelisch" oder „instinktiv" nennt, ganz besonders 
greifbar auf dem des Geschlechtslebens. 

6. Jaeger. 



Nachtrag. 



Es ist der Mühe wert, den Standpunkt Christi 
(Matth. 19, 3—12) und den des Apostels Paulus (1. Cor. 7) 
zu vergleichen: Christus kennt und nennt auch solche, 
die aus religiösen Gründen auf das eheliche Leben ver- 
zichtet haben oder von Haus aus dafür nicht angelegt 



- 12Ü - 



sind, aber das Leben in der Ehe ist ihm das Normale, 
und er deutet nicht mit einer Silbe ein Lob der Ehe- 
losen auf Kosten der Verheirateten an. Paulus dagegen 
giebt der Ehelosigkeit aus verschiedenen Gründen ent- 
schieden den Vorzug, wobei seine Worte allerdings den 
Charakter eines wohlgemeinten Rats auf Grund einer ihm 
eigentümlichen Meinung, nicht eines vom Herrn aus- 
gehenden, vom Apostel weitergegebenen Gebots haben 
sollen. Uebrigens rät er entschieden zur Ehe, wo Neigung 
und Drang dazu besteht. Er selbst hat offenbar für das 
Weib keine Schwäche (1. Cor. 7, 1 — 7). Dass er den Ge- 
schlechtsverkehr zwischen Angehörigen des gleichen Ge- 
schlechts scharf verurteilt, zeigt Rom. 1, 26 — 27. 

Wie sich aber die Gesetzgebung zu diesem Ge- 
schlechtsverkehr zu stellen hat, das ist eine andere Frage, 
und wir verweisen in dieser Beziehimg auf die aus unserer 
Feder stammenden diesbezüglichen Ausführungen, die das 
„I. Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen", Jahrg. 1899 
auf S. 269 f. zum Abdruck gebracht hat. 



Päderastie und Tribadie bei den Tieren 
auf Grund der Literatur 

zusammengestellt von 
Dr. F. Karsch, Privatdozent in Berlin. 

Vor siebenunddreissig Jahren erklärte der berühmte 
Gerichtsarzt Casper die Päderastie und Tribadie für 
einen traurigen Vorzug der Menschenspezies, da seines 
Wissens etwas derartiges weder bei männlichen noch bei 
weiblichen Tieren vorkomme. Diese Annahme entspricht 
jedoch nicht den Thatsachen; denn ein sorgfältiges 
Studium der zoologischen Literatur beweist nicht nur 
eine ungemein weite Verbreitung der Päderastie und 
Tribadie in der Tierwelt, sondern sie zeigt auch, dass die 
Kenntnis dieser Thatsachen älter ist als unsere Zeit- 
rechnung. 

Eine leichte Uebersicht über das nachgewiesene Vor- 
kommen von Geschlechtsakten zwischen Männchen mit- 
einander einerseits und Weibchen miteinander andererseits 
unter den Tieren, soweit solche Akte in der Literatur 
mehr oder weniger eingehend behandelt wurden, zu ge- 
winnen, scheint mir eine systematisch-zoologische 
Anordnung aller bemerkenswerten, auf ganze Gruppen 
oder auf einzelne bestimmte Tierarten bezüglichen An- 
gaben am besten geeignet und ich stelle in der Reihen- 
folge die in ihren Körperbau dem Menschen ähnlicheren 
und in ihren psychischen Verrichtungen uns verständ- 
licheren Säugetiere voran. 



— 127 — 



Unter den höheren Wirbeltieren, bei Säugetieren 
und Vögeln, wurden päderastische und tiibadische Hand- 
lungen schon im Altertume so überaus häufig wahr- 
genommen, dass solcher Erscheinungen von Aristoteles 
(384 — 322 vor unserer Zeitrechnung) in seiner Schrift 
über die Tiere als allbekannter Thatsachen gedacht werden 
konnte; analoge Vorkommnisse bei den Wirbellosen 
jedoch fanden erst im 19. Jahrhunderte die Beachtung 
der Gelehrten und betreffen fast ausschliesslich Insekten. 

Säugetiere (Mammalia) 

Bei den Affen (Primates) finden sich Andeutungen 
von Päderastie in Gestalt wechselseitiger Bespringungs- 
versuche besonders junger Männchen ; und dass auch tri- 
badische Akte vorkommen, wurde Moll (S. 369) durch 
einen ungenannten erfahrenen Beobachter mitgeteilt. 

Unter den Kaubtieren (Carnivora) sind in der 
Familie der Hunde (Canidae) 'vielfach uranische Akte 
zur Beobachtung gelangt; nach Krauss (S. 180) hätte 
der Mensch vor dem Hunde nur das voraus, dass die 
Unzucht ausführbar ist. Ellis-Symonds fügen den 
von ihnen aufgenommenen Mitteilungen Deville's über 
den Trieb zu Begattungsversuchen unter eingesperrten 
männlichen Hunden, die nach Zulassung weiblicher Hunde 
auf diese gingen, die Bemerkung hinzu, Jedermann könne 
beobachten, dass junge Hunde, wenn sie untereinander 
spielen, geschlechtlich erregt werden und dass dasselbe 
bei einem Hunde eintrete, welcher mit seinem Herrn 
spielt, auch dann, wenn der Hund Hündinnen gegenüber 
sich normal verhält. Lacassagne (S. 37) geht so weit, zu 
behaupten, beim Hunde gingen allen normalen geschlecht- 
lichen Beziehungen auch bei voller Freiheit der Tiere 
geschlechtliche, wenn auch ungeschickte Versuche am 
eigenen Geschlecht voraus. Moll berichtet (S. 309) einen 
Fall von Geschlechtsakten zwischen zwei blutsverwandten 



— 128 - 



männlichen Hunden, Vater und Sohn ; der eine rieb sein 
Glied am Körper .des anderen so lange, bis Samenent- 
leerung erfolgte. 

Die Nagetiere (Rodentia), Familie der Hasen 
(Leporidae). Wie Lacassagne (S. 38) und Moll (S. 372) 
mitteilen, sah Cornevin ein Kaninchen, welches unter 
vollständiger Nachahmung des Geschlechtsaktes eine 
Katze besprang. 

Paarzeh ige Huftiere (Artiodactyla). Unter den 
Wiederkäuern (Ruminantia) scheinen die Horntiere 
(Cavicornia) besonders stark zur Tribadie zu neigen. Die 
vorliegenden Angaben beziehen sich auf Rindvieh 
(Bo v in ae), Ziegen und Schafe (Ovinae) und auf Anti- 
lopen (Antilopinae). Beim weiblichen Rindvieh muss 
der Trieb, die Rolle des Männchens zu spielen, sehr aus- 
geprägt sein; schon Aristoteles (II, Seite 69) bemerkt 
„auch springen die Kühe auf die Stiere, laufen ihnen 
überall hin nach und bleiben bei ihnen stehen" und Moll 
(S. 374) teilt mit, nach Seitz hätten zweijährige weibliche 
Zebu's (Bos indicus) ein junges Männchen ständig be- 
sprungen, infolgedessen alsdann dieses gereizt worden 
sei, seinerseits die jungen Weibchen zu bespringen und 
zu belecken. Von da bis zur tribadischen Kuh ist der 
Weg nicht mehr weit, de B uffon (Vierf. Tiere I, S. 341) 
findet die Merkmale der Brunst an einer Kuh gar nicht 
zweideutig; sie brüllt alsdann viel öfter und stärker als 
gewöhnlich; sie springt selbst auf Kühe, Ochsen und 
Stiere. Mit dieser Schilderung übereinstimmende Be- 
obachtungen finden sich später bei Sehe itlin (II, S. 287), 
Hegar (S. 965 [41]), Krauss (S. 180) und Moll 
(S. 370). Auch junge Stiere (Bos taurus) machen 
Beöpringbewegungen auf andere Männchen ihrer Art, 
wie, nach Deville und Lacassagne, Ellis- 
Symonds und Moll (S. 372) berichten. Unter den 
Ovinen muss Uranismus sehr häufig sein bei Ziegen und 



— 129 — 



Schafen. Seitz beobachtete nach brieflicher Mitteilung 
an Moll (S. 374) zwei Männchen der Haus z lege (Capra 
hircus) in engem Behälter ohne Weibchen; sie reizten 
sich ununterbrochen; das grössere besprang das kleinere 
bis zum vollen Samenergusse; ob bei diesem Akte der 
Penis in die Analöffnung des kleineren eindrang, konnte 
nicht festgestellt werden. Nach D e v i 1 1 e (S. 109) führen von 
weiblichen Schafen (Ovis aries) getrennte Widder, be- 
sonders in engen Räumen eingeschlossen, geschlechtliche 
Akte aus, und ebenso treiben es, vom Widder getrennt, 
die weiblichen Tiere; beide Geschlechter kehren nach 
der Wiedervereinigung zum normalen Akte zurück (auch 
von Ellis-Symonds, F£r£ S. 496 und Moll S. 372 
mitgeteilt). Von Ovis steatopyga berichtete Seitz an 
Moll (S. 374) bezüglich eines mit 13 Tieren derselben 
Art, 10 Weibchen und 3 jungen Männchen, zusammen- 
gesperrten alten Bockes, dass er seit Mitte Oktober 1896 
die Weibchen nicht mehr besprang, statt dessen jedoch 
zwei junge Männchen, dass dabei der Penis weit hervor- 
gestülpt wurde und starkes Abtropfen von Sperma statt- 
fand. v Wahrscheinlich sind sämtliche Weibchen tragend 
gewesen; bei einigen war dies mit Sicherheit anzunehmen tt 
(Seitz). Junge Weibchen von Antilope cervicapra bespringen 
nach Seitz's Mitteilung an Moll (S. 374) planlos und 
ungeschickt junge Männchen und alte Weibchen. Forstels 
Beobachtung an einem vierjährigen Weibchen der Elen- 
antilope in einem Tierparke am Cap der guten Hoffnung, 
welche Antilopen und sogar einen im selben Gehege be- 
findlichen Strauss besprang, von de Buffon (Vierf. Tiere 
XII, S. 221), Lacassagne (S. 38) und Moll (S. 372) 
mitgeteilt, ist eine weitere Ergänzung zu den oben über 
die Bovinen gebrachten Angaben des Aristoteles und 
de Buffon's. 

Unpaarzehige Huftiere (Perissodactyla). In der 
Familie der Pferde (Equidae) haben Pferd und Esel 

Jahrbuch II. 9 



— 130 — 



uranische Neigungen (F6r£, S. 496); nach Lacassagne 
(S. 37) sind es besonders jugendliche männliche Fohlen, 
welche in Ermangelung von weiblichen Fohlen Bespring- 
bewegungen bei anderen Männchen ausführen. 

Auf Säugetiere im Allgemeinen scheint sich die Be- 
merkung von Seitz bei Groos (S. 234) beziehen zu 
sollen, wonach schon in sehr grosser Jugend Bespring- 
bewegungen unternommen werden, bei denen bisweilen 
die Geschlechter ihre Rollen vertauschen und die Männchen 
koquettieren, die Weibchen zudringlich sind und be- 
springen. 

Vögel (Aves) 

Nach de Buffon's Schilderung sind die Vögel über- 
haupt hitziger als die vierf üssigen Tiere (Vögel I, S. 43) } 
es sind schon oft Vermischungen unter ihnen vorgekommen, 
derart, dass in Ermangelung eines Weibchens derselben 
Art, dessen Stelle durch den ersten Vogel, der sich findet, 
ersetzt wurde ; die Notwendigkeit, sich zu paaren, fühlen 
die Vögel als ein so dringendes Bedürfnis, dass man die 
meisten, welche diesen Trieb unbefriedigt lassen müssen, 
entweder krank werden oder gar sterben sieht; »und 
wer kann wohl sagen, was in dichten Gehölzen für 
Liebes Verständnisse dieser Art vorgehen?* — Uranische 
Akte oder Neigungen wurden beobachtet bei Gangvögeln, 
Tauben, Hühnervögeln, Klettervögeln und Schwimmvögeln. 

Gangvögel (Passeres). Moll(S. 373) erfuhr durch 
einen ungenannten, nur männliche Vögel haltenden Herrn, 
dass sich eine männliche chinesische Nachtigall (Familie 
Drosseln, Turdidae) und ein Finkenmännchen (Familie 
Finken, Fringillidae), welche sich zusammen mit anderen 
männlichen Vögeln im selben Bauer befanden, vielfach 
liebkoseten und schnäbelten; der Fink habe die werbende 
Rolle gespielt, die Nachtigall den umworbenen Teil ab- 
gegeben; eigentliche Begattungsversuche seien jedoch 
nicht zur Beobachtung gekommen. 



— 131 — 



Tauben (Columbina). Bei Schilderung der Begattung 
der Tauben teilt Aristoteles (II, S. 13) mit, sie hätten 
die Eigentümlichkeit, dass ein Weibchen auf das andere 
steigt, wenn kein Männchen da ist, und sich mit jenem 
ebenso schnäbelt, wie ein Männchen; hernach legten sie, 
ohne dass sie einander einen Stoff mitteilten, Eier und 
zwar deren mehr als sie nach einer Befruchtung zu legen 
pflegten ; es seien dieses aber sämtlich Windeier, aus denen 
daher ein Junges nicht hervorgehe, de Buffon (Vögel 
VI, S. 379) will nur einen einzigen Umstand als Beweis 
anführen, wie feurig die Tauben in ihrer Liebe sind: 
wenn man nämlich in einem Bauer lauter männliche, in 
einem anderen lauter weibliche Turteltauben einsperrt, so 
werden sie sich in jedem dieser Behältnisse so gut, als 
ob sie von beiderlei Geschlechts wären, zusammen ver- 
einigen und paaren; diese Art von Ausschweifung pflege 
indessen eher und öfters bei den Taubern, als bei den 
Tauben vorzufallen; der Zwang und die Beraubung diene 
daher oftmals, die Gefühle der Natur in Unordnung zu 
bringen, aber nicht, sie zu ersticken. Unter Brieftauben sah 
Muccioli bei den Weibchen Tribadie, bei den Männchen, 
und zwar in Gegenwart von Weibchen, Päderastie. 

Hühnervögel (Gallinacea). Uranisches Treiben der 
echten Hühner (Phasianidae) und der Feldhühner 
(Tetraonidae) ist schon dem alten Stagiriten Aristoteles 
bekannt gewesen. Denn von den Hühnern berichtet er 
(II, S. 323), dass die Hennen, wenn sie über die Hähne 
gesiegt haben, anfangen, das Krähen der Hähne nach- 
zuahmen und Versuche anstellen, zu treten; zugleich 
erhebe sich bei ihnen der Kamm und der Steiss, wodurch 
es recht schwer werde, zu erkennen, dass es Hennen 
seien; bei manchen zeigten sich auch kleine Spuren von 
Spornen ; es gäbe aber auch andererseits Hähne, die von 
Hause aus so weibisch seien, dass sie sich sogar von den 
Hühnern treten Ii essen; diese Erscheinungen veranlassen 

9* 



— 132 — 



ihn zur Formulierung des Lehrsatzes: „So wie sich die 
Handlungen der Tiere nach ihren Zuständen richten, so 
verändert sich hinwiederum mit ihren Handlungen auch 
ihr Charakter, bisweilen sogar manche Organe.* Höchst 
drastisch wirkt des Aristoteles Erzählung an einer 
anderen, vom Steinhuhn handelnden Stelle (II, S. 285), 
woselbst es nebenbei vom Haushuhn heisst: „In den 
Tempeln, wo die geweihten Hähne ohne Hennen sich be- 
finden, ist es Regel, dass der neue Ankömmling von allen 
besprungen wird." Plutarch (50 — 130 unserer Zeit- 
rechnung) lässt zwar den Gryllus (S. 2917) behaupten: 
„Darum haben die Begierden der Tiere bis jetzt auch 
noch nicht zu Vermischungen der Männchen mit Männchen 
und der Weibchen mit Weibchen verleitet, während bei 
Euch (Menschen) dergleichen Verimingen den ange- 
sehensten und wackersten Männern begegnet sind 4 *; — 
allein wenige Zeilen später (S. 2918) legt er demselben 
Gryllus die Worte in den Mund: »Wenn ein Hahn in 
Ermangelung einer Henne einen Hahn besteigt, so wird 
er lebendig verbrannt, weil ein Wahrsager oder Zeichen- 
deuter diesen Fall für eine ausserordentliche und schreck- 
liche Vorbedeutung erklärt." Der englische Ornithologe 
W'illughby (1676, S. 120; giebt an, dass die Hühnervögel 
sehr geil und durch die Kopulationen unter ihren Männchen 
abscheulich seien. Edwards hielt dieses so lange für 
eine Fabel, bis er selbst eine solche Beobachtung machte. 
Er hatte (S. XXI) drei oder vier junge Hähne an einem 
Orte zusammen eingesperrt, wo sie eine Gemeinschaft mit 
irgend einer Henne gar nicht pflegen konnten. Sie hatten 
ihren feindseligen Stolz gegen einander in dieser Lage 
sehr bald vergessen und fingen an, statt aller sonst ge- 
wöhnlichen Kämpfe, jeder seinen nächsten Kameraden zu 
treten, obwohl der getretene Hahn dabei wenig Zufrieden- 
heit spüren Hess. Edwards kann sich nicht enthalten, 
diesen Anlass zu einer Nutzanwendung auf menschliche 



— 133 — 



Verhältnisse zu verwerten, indem er (S. XXI — XXIV) 
die Methode der vollständigen Abschliessung der Ge- 
schlechter der Schuljugend und in den Internaten einer 
sehr abfälligen Kritik unterzieht, de Buffon (Vögel I, 
8. 43) legt dar, auf den Hühnerhöfen werde man gar oft 
gewahr, wie ein von seinen Hühnern getrennter Hahn 
sich eines anderen Hahns, eines Kapauns, eines Puters 
oder einer Ente anstatt seiner Hühner bediene; und 
ferner (Vögel IV, 8. 118), der Hahn bediene sich sogar 
des ersten Hahnes, den er auf seinem Wege antreffe, 
wenn er ein Weibchen nicht fände; Edwards habe diese 
Beobachtung selbst angestellt und ausserdem werde sie 
durch ein von Plutarch angeführtes Gesetz bestätigt, 
welches jeden Hahn, der dieser widernatürlichen Aus- 
schweifung überführt werde, zum Tode verdammte. 
— Von den Feldhühnern kannte schon Aristoteles 
das Steinhuhn (ein Rebhuhn, Perdix saxatilis) und 
die Wachtel (Coturnix dactylisonans) als uranischen 
Akten stark zugeneigt; vom Steinhuhn erzählt er 
(II, S. 235): habe sich ein Weibchen entfernt und brüte, 
so sammelten die Männchen sich unter Geschrei und 
kämpften miteinander; solche Männchen nenne man 
„ Witwer"; derjenige Witwer, welcher im Kampfe besiegt 
werde, begleite den Sieger und würde von diesem allein 
besprungen ; doch komme es auch vor, dass den Besiegten 
noch der zweitstärkste oder irgend ein anderer Witwer 
im Geheimen bespringe, ohne dass der Sieger es gewahr 
würde; diese Ereignisse trügen jedoch nicht stets sich 
zu, vielmehr nur zu gewissen Zeiten des Jahres und kämen 
in gleicher Weise auch bei den Wachteln vor. Eine 
schwierige, verschiedenartig übersetzte Stelle bei Aris- 
toteles am Schlüsse des 8. Kapitels des 6. Buches lautet 
nach Sundevall (S. 140): „wenn er (der Hahn des 
Steinhuhns) die Jungen zum ersten Male aus dem Neste 
führt, so tritt er sie. 44 de Buffon sucht alle Angaben 



— 131 — 



des Aristoteles, so viele ihrer auch als Volkssagen in 
Umlauf gewesen und von Aristoteles lediglich wieder- 
erzählt sein mögen, als unumstössliche Wahrheiten zu 
retten, indem er (Vögel VI, S. 50) darlegt, er habe selbst 
schon mehr als ein bewährtes Beispiel von solcher Aus- 
schweifung der Natur angeführt, vermöge deren ein 
Männchen sich eines anderen Männchens, oder jeder an- 
deren Sache, statt eines Weibchens bedient habe und dass 
diese Ausschweifung wohl vornehmlich unter so geilen 
Vögeln, wie die Rebhühner sind, vorkommen müsse, deren 
Männchen, wenn sie einmal erhitzt seien, nicht einmal 
die Stimme ihrer Weibchen ohne Verlust von Samen* 
feuchtigkeit hören könnten . . . . u. s. w. 

Klettervögel (Scansores), Familie Papageien 
(Psittacidae). Gestützt auf private Mitteilungen berichtet 
Moll (S. 373) über in einem Bauer längere Zeit gehaltene 
männliche Papageien: sie erregten sich einander hoch- 
gradig geschlechtlich; einer trat selbst auf den anderen, 
als ob dieser ein Weibchen sei; bei diesem Akte hielten 
beide gleichzeitig durch Wendungen de& Kopfes mit den 
Schnäbeln einander fest und es könne ein Samenerguss 
seitens des Tretenden erfolgen. Aehnliches sei auch bei 
weiblichen Papageien in gleicher Lage vorgekommen und 
dem Berichterstatter auch von anderen Vögeln angegeben 
worden. 

Schwimmvögel (Natatores), Familie Siebschnäb- 
ler (Lamellirostres). Als unbedenklich uranischer Natur 
ist mir nur ein einziger Fall begegnet, dieser aber so 
genau untersucht und in allen wichtigen Fragen beant- 
wortet, dass er als einer der interessantesten aus der 
gesamten Literatur sich heraushebt. Er betrifft die 
Hausente (Anas boschas); ich will ihn genauer schildern 
und zwar ganz im Sinne Korschelt's, der ihn behandelt 
hat Eine Hausente hörte im 13. Jahre auf zu legen und 
nahm mit der Mauser männliche Befiederung an; zum 



— 135 — 



Kleide des Männchens gesellten sich aber auch dessen 
Gewohnheiten, was früher durchaus nicht war beobachtet 
worden: sie versuchte, mit den weiblichen Enten, mit 
denen sie zusammenlebte, die Begattung auszuführen und 
benahm sich dabei ganz wie ein echtes Männchen. Von 
ihrem Ovarium wurden Eier nicht mehr hervorgebracht; 
Korscheit fasst daher die Hahnenfedrigkeit hier als 
eine Folge der durch senile Degeneration des Ovariums 
erzeugten Sterilität auf; mit dem Erlöschen der eigent- 
lichen Geschlechtsfunktion des Tieres verbinde sich ein 
Umschlag in das entgegengesetzte Geschlecht; Korscheit 
stellt diese Erscheinung in Parallele mit der parasitären 
Kastration, bei welcher im Gefolge der Anwesenheit eines 
Parasiten eine Bückbildung der inneren Geschlechtsorgane 
und eine gleichzeitige Umbildung der äusseren Geschlechts- 
charaktere in die des anderen Geschlechtes hervortritt; 
der Vorgang erinnert ihn an das von Darwin behauptete 
Vorhandensein latenter Geschlechtscharaktere, indem beim 
Männchen die weiblichen, beim Weibchen die männlichen 
Charaktere schlummernd vorhanden seien und ihre Aus- 
bildung erst dann zum Durchbruche gelangen könne, 
wenn die bis dahin vorherrschende Geschlechtsfunktion 
des betreffenden Individuums aus irgend welchem Grunde 
(im vorliegenden Falle die senile Degeneration des Ova- 
riums) erloschen sei. 

Die hier geschilderte Metamorphose dürfte bei 
Vögeln nicht gar so selten vorkommen; ich berufe mich 
auf AI tum, welcher (S. 145) angiebt, es könne die un- 
gemischte Geschlechtlichkeit in verschiedenen Stufen von 
Höhe und Schärfe ausgeprägt sein, derart, dass alte 
Hennen endlich steril würden, annähernd ein Hahnen- 
gefieder erhielten , ja sogar beim Fortpflanzungsakte 
Hahnenrolle zu spielen versuchten, obgleich sie gewiss 
nicht hermaphroditischer Natur geworden sind; von ein- 
zelnen Hausenten sei ein Gleiches beobachtet. St öl k er 



— 136 — 



führt 1877 schon 24 die Hahnenfedrigkeit der Hennen 
behandelnde Schriften auf und es kommen auch hennen- 
fedrige Hähne vor. 

Lurche (Amphibia) 
Ueber gelegentliche Imitation des Koitus zwischen 
Männchen bei Fröschen und bei Kröten berichtet 
James (Moll 8. 369). 

Insekten (Hexapoda) 

Fälle sexuellen Verkehrs gleichgeschlechtlicher In- 
sekten sind mir in der Literatur bei Immen, Käfern, 
Schmetterlingen und Zweiflüglern (Fliegen) be- 
gegnet. Alle berichteten Fälle betreffen Kopulation unter 
Männchen (Päderastie). 

Hautflügler oder Immen (Hymenoptera). Honig- 
biene (Apis mellifica). Noel beobachtete unter eigen- 
tümlichen Umständen bei seinem Bienenstocke Päderastie; 
als seine Arbeitsbienen Mitte September die Drohnen 
(die Männchen des Stockes) aus ihrem Stocke verjagt 
hatten und die Drohnen nach der Drohnenschlacht schutz- 
los der schon empfindlich fühlbar werdenden Kälte preis- 
gegeben waren, sah Noel die vertriebenen Drohnen in 
faustgrossen Klumpen unter dem Boden des Stockes ihre 
Zuflucht suchen; und er fand, indem er einige Drohnen 
seiner Sammlung einverleiben wollte, sie sämtlich paar- 
weise in Kopulation; sie blieben eine Zeitlang in dieser 
Lage, in welcher Noel sie durch Chloroform töten konnte. 
Noel wundert sich, woher die von dem französischen 
Landmanne „Gottesfliege" genannten Tiere solche Sitten 
haben lernen können. — Zur richtigen Beurteilung des 
Falles muss berücksichtigt werden, dass jedem Bienen- 
volke mit Hunderten von Drohnen nur ein begattungs- 
fähiges Weibchen, die Königin, angehört. 

Käfer (Coleoptera). Die überaus zahlreichen, in der 



Literatur erwähnten Kopulationen unter Käfermännchen« 
wurden bei den bezüglichen Individuen nur je ein einziges 
Mal wahrgenommen und beziehen sich auf nur wenige 
sehr häufige Arten; diese gehören entweder der höher- 
entwickelten Gruppe der Blätterhörner (Lamellicornia)- 
oder der im Käfersysteme am tiefsten stehenden Gruppe 
der Weichkäfer (Malacodermata) an, deren Mitglieder 
den Typus der hypothetischen Urkäfer noch am reinsten 
bewahrt haben. Von den Blätterhörnern sind beteiligte 
der Hirschkäfer oder Schröter, beide Arten 
des Maikäfers, der gemeine Maikäfer und der 
Rosskastanienmaikäfer, sowie der kleinere Juni- 
käfer. Bei ihnen allen vollzog sich die Kopulation 
unter Männchen stets zwischen Exemplaren einer uncL 
derselben Art oder zwischen zwei einander sehr nahe ver- 
wandten Arten. Demgegenüber fallen die beobachteten* 
Akte von Kopulation unter Weichkäfermännchen durch, 
die Eigentümlichkeit auf, dass es sich bei diesen jedesmal, 
um zwei Männchen aus sehr unterschiedlichen Familien 
handelt, um einen stets die aktive Rolle spielenden 
Warzenweichkäfer, Rhagonycha melanura (Familie 
Thelephoridae), und einen stets passiven Leuchtkäfer,. 
Luciola lusitanica (Familie Lampyridae). Das bis 1879 
bekannt gewordene, von tüchtigen Fachgelehrten unter- 
suchte und sachgemäss behandelte Material fasste v. d. 
Osten Sacken unter Darlegung sehr wertvoller all- 
gemeiner Gesichtspunkte zusammen; seine Abhandlung 
benutzten, ohne wesentlich Neues zu bringen, Ulrichs,. 
Reuter und Moll, während F£r£ nur die bezügliche 
französische Literatur berücksichtigte. Sehr beachtens- 
wert scheinen mir auch die höchst sonderbaren Irrtümer,, 
zu welchen recht vorsichtige Gelehrte durch die für sie 
so merkwürdigen Funde veranlasst wurden. 

Blätterhörner (Lamellicornia): 

Hirschkäfer (Lucanus cervus). Ueber Kopulation» 



— 138 — 



-unter Männchen dieser Art berichtet Planet, dessen 
Publikation ich leider nicht erlangen konnte. 

Maikäfer (Melolontha). Den ersten Fall einer Kopu- 
lation zweier Maikäfermännchen veröffentlichte 1834 Kelch: 
Am 6. Juni 1833 traf er im Lehnstocker Walde bei Ratibor ein 
Männchen von Melolontha vulgaris mit einem solchen von 
Melolontha hippocastani im vollständigen Begattungsakte; 
seinen Augen kaum trauend, zeigte er diese durch die 
männlichen Begattungsteile der beteiligten Melolontha 
vulgaris noch aneinander festhängenden Käfermännchen 
dem ihn begleitenden herzogl. Forstmeister Witt wer und 
bemühte sich, dieselben von einander zu trennen, was aber 
ohne Zerstörung der Geschlechtsteile der Melolontha vul- 
garis nicht möglich schien, weshalb er beide unversehrt 
nach Hause nahm. Hier zeigte er dem fürstl. Oberförster 
-Zebe das Paar; inzwischen war der passive Teil, Melo- 
lontha hippocastani, sehr matt geworden und starb, als 
Kelch Melolontha vulgaris' durch Auslösung seiner Ge- 
schlechtsteile von ihm trennte; dabei blieb bei M. hippo- 
castani eine bedeutende Vertiefung an derjenigen Stelle, 
-an welcher die weiblichen Geschlechtsteile hätten liegen 
müssen; und schon glaubte Kelch, ein wirkliches Weib- 
chen mit abnormen (männlichen) Fühlern vor sich zu 
haben, wurde jedoch eines besseren durch Zebe belehrt, 
welcher aus der erwähnten Vertiefung die vollständigen 
-männlichen Geschlechtsteile herauszog. Hier hatte dem- 
nach, meint Kelch, das Mololontha vulgaris Männchen 
als der grössere und stärkere Teil das M. hippocastani 
Männchen als den kleineren und schwächeren Teil be- 
zwingend, diesen ermüdet und nur durch seine Ueber- 
legenheit vergewaltigt. Dieses Falles gedenkt später 
Ha gen unter der Rubrik „Insekten-Bastarde - — (1. Fall). 

Im Sommer 1847 entdeckte Heer bei Zürich zwei 
Stück in Begattung befindliche Melolontha vulgaris, welche 
in ihrer Fühlerbildung vollständig übereinstimmten, wäh- 



— 139 — 



rend sonst die Fühler der beiden Geschlechter sehr ver- 
schieden sind; er hielt das passive Stück, etwas grösser 
und dicker als das aktive, ohne Untersuchung für ein 
Weibchen mit abnormer (männlicher) Fühlerbildung; sie 
hingen so fest zusammen, dass sie nur schwer zu trennen 
'waren; von einer Täuschung konnte nicht die Rede sein. 
He er 's Auffassung bestätigte bald darauf Gemminger; 
dieser traf im Mai 1848 im Garten der Münchener Ana- 
tomie dasselbe Phänomen an; „beide Geschlechter in voll- 
kommener Begattung" schüttelte er von einer Esche; das 
rangebliche Weibchen unterschied sich auch hier nur durch 
die korpulentere Leibesform von dem schlankeren Männ- 
chen. Heer's und Gemminger's Angaben erregten 
jedoch den entschiedensten Widerspruch Doebner's, 
nach dessen Ansicht die angeblichen Weibchen Heer's 
und Gemminger's mit männlichen Fühlern keine Weib- 
chen, sondern echte Männchen gewesen seien; die Er- 
scheinung, dass ein Maikäfermännchen von anderen Männ- 
chen in deren blindem Begattungstriebe verkannt und in 
der Art überwunden wäre, dass man einen wirklichen 
Begattungsakt zwischen zwei verschiedenen Geschlechtern 
mit gleich gebildeten Fühlern vor sich zu haben glaube, 
stehe nicht vereinzelt da; ein eifriger Sammler in Aschaffen- 
burg habe dieselbe Beobachtung gemacht, ohne dass weiter 
•darauf geachtet worden sei. Do ebner beschreibt dann 
selbst einen weiteren ihm vorliegenden Fall: Zwei Melo- 
lontha vulgaris mit vollkommen gleicher männlicher Fühler- 
bildung befinden sich scheinbar im vollkommensten Be- 
gattungsakte; in diesem Zustande wurden sie getötet, ohne 
dass eine Trennung erfolgte. Das eine (passive) Exemplar 
war etwas grösser und seine Hinterleibsspitze steckte, wie 
gewöhnlich beim Weibchen, zwischen der oberen und 
unteren Platte des letzten Hinterleibsringes des etwas 
kleineren anderen (aktiven) Exemplares, während des 
Jetzteren Hinterleibsspitze, wie dieses gewöhnlich beim 



- 140 — 



Männchen der Fall ist, frei lag; sein Geschlechtsorgan 
aber war in den Hinterleib des anderen eingeführt. Die 
Grössenverhältnisse waren bei diesen Exemplaren genau 
dieselben, wie bei den von Heer und Gemminger be- 
obachteten beiden Paaren, nur mit dem Unterschiede, dass 
bei dem Doebn einsehen Paare das grössere, in der Lage 
des Weibchens befindliche Exemplar einen vollkommen 
entwickelten, frei und weit nach aussen hervorragenden 
männlichen Geschlechtsapparat zeigte, welcher augen- 
scheinlich durch das Einbringen der Penisscheide des 
kleineren Exemplars in den After des grösseren war 
herausgetrieben worden. Doebner hatte es also mit 
zwei wirklichen Männchen zu thun und es unterlag für 
ihn auch keinem Zweifel mehr, dass bei den Maikäfern 
Fälle vorkommen, wo Männchen zur Befriedigung ihres 
ungestümen Begattungstriebes sich anderer Männchen be- 
dienen, welche sie in ihrer blinden Wut wahrscheinlich 
für Weibchen halten und überwinden. Er hält daher 
auch die in den beiden Fällen Heer und Gemroinger 
für Weibchen angesprochenen Exemplare für echte Männ- 
chen, bei denen, abweichend von dem durch ihn studierten 
und analog dem Kelch'schen Falle, die Geschlechtsteile 
in den Hinterleib hineingetrieben waren; wenigstens bleibt 
für ihn die Existenz von Weibchen mit männlichen Füh- 
lern mindestens noch so lange zweifelhaft, bis von solchen 
fraglichen Weibchen die weiblichen Geschlechtsorgane 
unzweifelhaft nachgewiesen werden — (2., 3. und 4. Fall). 

Einen weiteren Fall von copula inter mares bei 
Melolontha vulgaris legte in ausführlicher Weise 1859 
Laboulbene dar. Dieser französische Gelehrte erhielt 
von Puton zwei durch Hitze getötete Melolontha vul- 
garis in copula aus der Normandie zugesandt; in der 
Umgebung von Dieppe hatte Puton selbst sie in copula 
gefunden; besonderes Interesse, schrieb Puton, konnte 
das Paar nicht bieten, trügen nicht beide Teile die äusseren 



— 141 — 



Kennzeichen des männlichen Geschlechts; er wünsche 
von Laboulbfene zu erfahren, ob es sich bei beiden 
Stücken um wirkliche Männchen handele oder ob etwa 
«der eine der beiden Käfer ein Weibchen mit männlicher 
Fühlerbildung sei. Laboulbene stellte nun fest, dass 
1) beide Exemplare ihrem äusseren Baue nach einen 
irgend erheblichen Unterschied von einander oder von 
Pariser Männchen nicht aufwiesen; dass 2) die Lage der 
beiden in copula verbliebenen Exemplare ganz die ge- 
wöhnliche Stellung der beiden kopulierenden Geschlechter 
von Melolontha vulgaris sei: das Weibchen schreitend 
■oder stillstehend und vom Männchen besprungen — dieses 
mit an den Leib angezogenen Beinen nach hinten zurück- 
gebogen, eine Lage, in welcher es „scheinbar schlafend* 
vom stärkeren Weibchen umhergeschleppt wird; die äusse- 
ren Geschlechtsorgane des aktiven Männchens steckten 
im Leibe des passiven, in der gewöhnlichen Lage des 
Weibchens sich befindenden, männlichen Exemplares; 
3) die Zergliederung (nach Aufweichung in kaltem und 
alsdann kochendem Wasser) ergab ausschliesslich männ- 
liche innere Organe bei beiden Individuen, keine Spur 
weiblicher Organe, auch nicht bei dem passiven Indivi- 
duum; die hornige Penisscheide des aktiven Männchens 
war nicht in die Afteröflhung, sondern in die unter die- 
ser liegende äussere Geschlechtsöfihung gedrungen und 
zeigte an ihrem distalen Ende die häutige Rute ; die hor- 
nige Scheide des passiven Männchens befand sich dagegen 
in umgekehrter Lage in den Körper desselben zurück- 
gedrängt und liess nichts von der Rute erkennen. 
Laboulbene hält den Fall für den einzigen bekannten, 
•dem ein zweiter authentischer nicht zur Seite stehe, und 
findet die Thatsache sehr eigentümlich, ohne irgend theo- 
retische Betrachtungen an sie anzuknüpfen — (5. Fall). 

Unter vielen kopulierenden Paaren der Melolontha 
vulgaris bemerkte im Frühjahre 1879 v. d. Osten Sacken 



— 142 — 



bei Heidelberg auch ein kopulierendes Paar von Männchen: 
die hornige Penisscheide des aktiven Männchens war wie 
im Doebner'schen Falle zwischen die Dorsal- und Ven- 
tralplatte des letzten Hinterleibssegmentes des passiven 
Männchens eingeschoben; ebenso, im Gegensatze zum 
Doebner'schen Falle, der Aftergriffel; diese Stellung 
konnte nur mit Gewalt erzielt worden sein, da die hornige 
Penisscheide des passiven Männchens, aus ihrem natür- 
lichen Zusammenhange mit dem Körper herausgerissen, 
nur an einem Hautläppchen hängend, ausserhalb des Hinter- 
leibes geschleppt wurde; dabei war aber das passive 
Männchen grösser und dicker als das aktive. Am folgen- 
Tage war das aktive Männchen tot, das passive trotz 
seiner schweren Verletzung noch munter — ((5. Fall). 

v. d. Osten Sacken hebt zur Beurteilung der 
einzelnen, von ihm kurz geschilderten 6 Fälle hervor, dass 
mit blosser Gewalt des aktiven Teiles ohne Entgegen- 
kommen des passiven Teiles das mechanische Zustande- 
kommen des Geschlechtsaktes zwischen zwei Männchen 
des Maikäfers sich nicht begreifen lasse; besonders in- 
struktiv sei diesbezüglich der Fall Doebner, bei welchem 
das passive Männchen, ganz wie es das Weibchen zu thun 
pflegt, den Aftergriffel zwischen die Abdominalsegmente 
des aktiven Männchens eingeschoben trug, was nur frei- 
willig habe erreicht werden können; die Sinnlichkeit müsse 
daher eine gegenseitige gewesen sein ; bei auschlie&slicher 
Gewaltanwendung des aktiven Teiles hätte das grössere 
und stärkere Männchen die aktive Rolle spielen müssen, 
während thatsächlich, wenigstens soweit das Grössen- 
Verhältnis festgestellt wurde — mit Ausnahme des Falles 
Kelch — , das kleinere Exemplar die aktive Rolle über- 
nahm; ferner glaubt v. d. Osten Sacken, das aktive 
Individuum für das hitzigere annehmen zu dürfen, welches 
in den Fällen 2, 3, 4 und 0 jedesmal das kleinere war; 
endlich lieferte ihm seine Beobachtung, bei welcher das 



- 143 — 



passive Männchen der Penisscheide fast verlustig ging,, 
einen neuen Beleg von der Gefühllosigkeit der Insekten 
gegen körperliche Verletzungen, da die hier vorliegenden 
schweren Beschädigungen nicht einmal die Befriedigung 
der Sinnlichkeit verhinderten; andere sich aufdrängende 
Betrachtungen überlässt er dem geneigten Leser. 

Einen ferneren Fall von zwei in copula gefangenen 
Männchen der Melolontha vulgaris legte Fokker 1881 
der niederländischen entomologischen Gesellschaft im Haag 
vor, bei welcher Gelegenheit Ritsema auf v. d. Osten 
Sacken's Abhandlung aufmerksam machte; dieser Fall 
blieb unbearbeitet — (7. Fall). 

Auch vor den Mitgliedern der 22. Versammlung der- 
Delegierten gelehrter Gesellschaften in der Sorbonne 
wurde in der Sitzung vom 17. April 1884 ein gleicher 
Fall durch Abbe* Maze zur Sprache gebracht; Maze 
hielt anfangs das passive Männchen noch für ein 
Weibchen — (8. Fall). 

Nach Lombroso bewahrt das Museum in Turin 
zwei in copula befindliche Männchen von Melolontha 
vulgaris (F6r£, S. 498) — (9. Fall). 

Mehrere Einzelfälle endlich von copula inter mares 
bei Melolontha vulgaris hatte Noel, Leiter des Landes- 
Laboratoriums für landwirtschaftliche Entomologie m 
Bouen, im April 1895 zu beobachten Gelegenheit, als er- 
Maikäfer zum Zwecke der Feststellung der Einwirkung 
zerstörender Pilze auf ihren Organismus in grosser Menge 
und in beiden Geschlechtern gefangen hielt. Unter den- 
vielen Paaren befanden sich auch etliche ausschliesslich 
männliche Paare, von denen Noel einige de Kerville 
zum Geschenke machte; sie waren in Spiritus getötet 
und im Tode ungetrennt geblieben, de Kerville legte 
diese Paare in der Sitzung vom 26. Februar 1896 der 
französischen entomologischen Gesellschaft in Paris vor 
und führte aus, dass diese ausschliesslich männlichen. 



Paare ungeachtet der Anwesenheit zahlreicher Weibchen 
sich zusammenfanden und daher zu dem Schlüsse be- 
rechtigten, dass wenigstens die vorliegenden aktiven 
Männchen anderen Männchen vor Weibchen den Vorzug 
gegeben hätten; er unterscheide demnach bei Päderastie 
treibenden Käfermännchen Päderasten durch Not fpldl- 
rastes par necessitl), d. h. solche bei fehlenden Weibchen, 
und Päderasten durch Wahlbevorzugung (pld£rastes par 
goüt). Für die in Rede stehenden, der letzteren Kategorie 
angehörenden Paare wird festgestellt, dass die Penis- 
scheide je des aktiven Männchens in der „Kloake" (es 
ist wohl der After gemeint, da eine Kloake, wie die Vögel 
sie haben, bei Insekten nicht vorkommt) des passiven 
Männchens steckte, dessen eigene Penisscheide, wie im 
Ruhezustande, vollständig zurückgezogen im Leibe lag. 
-de Kerville hält für wahrscheinlich, dass in der Ge- 
fangenschaft der Prozentsatz der päderastischen Akte 
grösser sei als in der Freiheit, also durch den Verlust 
der vollen Freiheit eine Steigerung erfahre, und er glaubt, 
die beiden von ihm geltend gemachten Arten der Päderastie 
seien auch auf die höheren Tiere anwendbar. Mit seinen 
durchaus ernst und sachlich gemeinten Darlegungen 
scheint de Kerville vielfach Anstoss erregt zu haben 
und entschiedenem Widerspruche begegnet zu sein; denn 
er hat es für nötig erachtet, mündlichen und schriftlichen 
Einwürfen gegen seine Auffassung in einer kleinen, in 
demselben Jahre (1896) veröffentlichten Broschüre (Ob- 
servations etc.) entgegenzutreten; er sucht darin die Be- 
zeichnung „Päderastie* als für die Geschlechtsakte 
zwischen männlichen Käfern anwendbar, unter Verweisung 
auf Moll, zu rechtfertigen und erklärt das Vorkommen 
der „Päderastie durch Not" in der Tierwelt für ebenso 
sicher ausgemacht, wie beim Menschen, giebt aber zu, 
-dass die Annahme der „Päderastie durch Wahlbevorzu- 
gung • für die Tiere zur Zeit nur den Wert einer Hypo- 
these habe — (10. Fall). 



— 145 — 



Junikäfer (Rhizotrogus solstitialis). Eine Anzahl 
männlicher Rhizotrogus solstitialis, welche der Begattungs- 
trieb veranlasst habe, den eigenen Samenleiter in den 
eines anderen Männchens einzudrängen und so dieses an 
der Befruchtung des als dritte Person anwesenden Weib- 
chens zu verhindern, legte Kolbe der zoologischen Sektion 
des westfälischen Provinzial- Vereins für Wissenschaft 
und Kunst zu Münster in Westfalen in der Sitzung vom 
12. Juli 1877 vor. Die Paare stammten von einem Rasen- 
platze am Ufer der Ems, auf dem Wege von Greven 
nach Schöneflieth und es wird (S. 21) angegeben, dass 
der Junikäfer bei Münster selbst nicht vorkomme. 

Weichkäfer (Malacodermata). Auf den Citronen- 
feldern im Osten und Westen der Stadt Menton fand 
Peragallo in den Jahren 1862 und 1863 im Ganzen 
12 kopulierende Paare von Männchen zweier Weichkäfer- 
arten, als deren aktiver Teil stets die Thelephoride Rha- 
gonycha melanura, als deren passiver Teil ebenso regel- 
mässig die Lampyride Luciola lusitanica sich erwies; diese 
Paare wurden bald am Boden, bald auf niederen Pflanzen 
und zwar an verschiedenen Orten und Tagen, gegen 10 Uhr 
abends, nur selten früher gesehen; ihr Koitus wird als 
dermassen innig und als so voller Hingebung bezeichnet, 
dass Peragallo solchen Paaren mehrere Stunden lang zu- 
schauen konnte, ohne eine Orteveränderung der Tiere 
wahrzunehmen; eine solche Unbeweglichkeit sei aber im 
höchsten Grade erstaunlich für ein so munteres Wesen 
wie die Rhagonycha; und wie Peragallo positiv gewiss 
sei über das Geschlecht der beiden Insekten und zwar, 
dass dieses Geschlecht bei beiden ein und dasselbe sei, 
so könne er den Vorgang nur durch aktive Unsittlichkeit 
von Seiten der Rhagonycha und eine sträfliche Gefällig- 
keit von Seiten der Luciola seinem Verständnisse nahe 
bringen. Peragallo betont, er habe niemals die Männ- 
chen dieser beiden Arten mit einem Weibchen je der 

Jahrbuch II. 10 



— 146 — 



anderen Art in Begattung betroffen und er findet die 
beobachteten Akte ungeheuerlich („monstrueux"). Er- 
wähnt sei hier, dass der damalige Berichterstatter über 
die wissenschaftlichen Leistungen im Gebiete der Ento- 
mologie, Gerstaecker, ein sonst vielseitiger und sehr 
gelehrter Mann, bei Besprechung der Arbeit Peragallo's 
die Bemerkung nicht unterdrücken konnte: „dass hier 
beide Individuen, wie Verf. anführt, Männchen gewesen 
seien, ist kaum glaublich." v. d. OstenSacken dagegen 
bemerkt, Rhagonycha scheine überhaupt von hitziger 
Natur zu sein, da ein Rhagonycha melanura Männchen in 
Begattung mit einem Schnellkäfer (Elater niger) und ei» 
Rhagonycha rufa Weibchen in gleichzeitiger Begattung 
mit zwei Männchen ihrer Art betroffen worden sind. 

Schmetterlinge (Lepidoptera) : 

Spinnerartige Nachtfalter (Bombycoidea). 

Familie Seidenspinner (Bombycidae). In den 
Seidenraupereien des jardin d'acclimatation im bois de 
Bologne zu Paris wurden nach Boisduval und Guerin- 
Mdneville öfters männliche Paare in Vereinigung ge- 
sehen, „Männchen am Männchen aufgehängt und eine Be- 
gattung erheuchelnd 14 (Ulrichs, S. ül). 

Familie Nachtpfauenaugen (Saturniidae). Seitz 
(S. 83(3) hat einmal Päderastie beim iMa gel fleck 
(Aglia tau) festgestellt. Er setzte behufs Prüfung der 
Fühlerfunktion ein frisch entwickeltes Weibchen des 
Nagelflecks in einer isolierten Waldparzelle aus, in wel- 
cher Männchen derselben Art zahlreich vorhanden waren. 
Während nun Seitz Exstirpationsversuche bei einge- 
fangenen Männchen vornahm, stellte ein intaktes Männchen 
hartnäckige Versuche an, den verlegten Zugang zu dem 
Versuchsweibchen zu erlangen, ruhete aber schliesslich 
zwei Zentimeter vom Lockweibchen entfernt ermüdet aus. 
Plötzlich stürmte ein zweites Männchen heran und kopu- 



— 147 — 



lierte mit dem ausruhenden Männchen ; der zur Kontrole 
vorgenommenen Trennung des Paares wurde von beiden 
Beteiligten starker mechanischer Widerstand geleistet. 
Seitz giebt ausdrücklich an, er sei nicht einen Augen- 
blick in Zweifel gewesen darüber, dass das Zusammen- 
treffen der beiden Arome, des vom nahen Weibchen 
ausgehenden Geschlechtsgeruches und des vom aus- 
ruhenden Männchen stammenden spezifischen tau-Geruches, 
das neu hinzugekommene aktiv-päderastische Männchen 
„glauben machte, es befinde sich am Ziel seiner Wünsche." 
v. Aigner-Abafi findet (was mir unverständlich ist) 
diese Erklärung der merkwürdigen Erscheinung zutreffend 
und weist die abweichende Auffassung de Kerville's 
von der Päderastie bei den Insekten und den Tieren 
überhaupt (vergk S. 144) als völlig ungenügend zurück. 

Familie Glucken (Lasiocampidae). Um ein gewöhn- 
liches Weibchen des Quitten Spinners (Lasiocampa 
quercus) durch ein alpines Männchen befruchten zu lassen, 
hatte G. L. Schulz in den Alpen an der Simplonstrasse 
ein solches Weibchen in einem Gazebeutel ausgesetzt. 
Nach einiger Zeit sah er den Holzstoss, an welchem der 
Beutel hing, und auch den Beutel selbst von zahlreichen 
Männchen umschwärmt und besetzt. Beim Verscheuchen 
dieser Schwärme entdeckte der Beobachter drei männliche 
Paare in Begattung. 

Auch bei einem Tagfalter aus der Familie der 
Ritter (Papilionidae) soll ein Fall von Päderastie vor- 
gekommen sein, dessen Mitteilung alsdann von v. A i gner- 
Abafi kritiklos übernommen wurde. Aus Turkestan hatte 
nämlich Thiele ein Männchen eines Parnassiers, des 
Parnassius Charltonius princeps, erhalten, das am Hinter- 
leibseude eine Legetasche trug, während eine solche sonst 
allein dem nicht mehr jungfräulichen Weibchen zukommt. 
In Thiele's kurzer Bekanntmachung des seltenen Fundes 
nun heisst es: „Da die Legetaschen von den Männchen 

in- : 



— 148 — 



abgesondert werden, so ist hier also von einem Männchen 
die Kopulation mit einem anderen Männchen versucht 
worden. 1 * Direkte Beobachtung einer Kopulation des in 
Rede stehenden Männchens mit einem anderen Männchen 
liegt demnach hier nicht vor, es wird nur wegen An- 
wesenheit der Legetasche auf eine solche geschlossen. 
Dieser Schluss entbehrt aber jeglicher Denkfolgerichtig- 
keit; denn wenn das Männchen die Legetasche ab- 
sondert, so ist durchaus nicht zu verstehen, warum zum 
Behufe der Absonderung derselben gerade in diesem Falle 
die Kopulation mit einem anderen Männchen erforder- 
lich gewesen sein soll; es könnte sich ja alsdann um die 
von ihm selbst beim normalen Koitus mit einem Weibchen 
abgesonderte Legetasche handeln, welche, statt am Leibe 
des befruchteten Weibchens, ausnahmsweise einmal am 
Leibe des Männchens haften geblieben wäre. Aber auch 
die Prämisse stellt sich als eine unerwiesene und höchst 
unglaubwürdige Voraussetzung dar. Thomson meldete 
zwar bei Elwes (1886) von einer zurückziehbaren 
Membran des Männchens, durch deren Hervor- 
stülpung die For m der während des Koitus entstehenden 
und sich ausbildenden Legetasche des Weibchens bedingt 
werde; jedoch den Beweis der Urheberschaft dieser 
Tasche durch das Männchen ist er schuldig geblieben. 
Und eine einfache Ueberlegung unter Berücksichtigung 
des Baues der Geschlechtsorgane bei den Schmetterlingen 
führt ungezwungen zu der Annahme, das einzig das 
Weibchen das Material zu seiner Legetasche liefern kann. 
Der weibliche Schmetterling besitzt am freien, distalen 
Hinterleibsende unterhalb des Afters zweiGeschlechts- 
öffnungen, von denen die eine in die Begattungs- 
tasche führt und lediglich zum Einbringen des Penis 
bestimmt ist, wogegen die andere dem Austreten der 
Eier dient; findet nun eine normale Begattung statt, so 
hat das Männchen, mit seinem Penis in der Begattungs- 



— 149 — 



tasche des Weibchens steckend, ausser seiner Afteröffnung 
keine andere Oeffnung mehr disponibel, aus welcher es 
eine durch Erhärtung zur Legetasche werdende Flüssig- 
keit könnte hervortreten lassen; das Weibchen dagegen 
verfügt in der gleichen Lage noch über die freie Aus- 
führungsöffnung seines Eileiters, in dessen Lumen 
verschiedene Drüsen ihre Sekrete ergiessen. Im Eileiter 
des Weibchens muss demnach theoretisch der Ursprung 
des Materials der Legetasche zu suchen sein. Thiele's 
hochinteressante Beobachtung gehört demnach nicht in das 
Kapitel Päderastie. Thiele selbst, von mir um ge- 
fällige Aufklärung gebeten, lehnte jede Verantwortung 
für die oben in „ Ä gesetzte Deut un g seiner Mitteilung 
ab und übertrug sie auf den Redakteur der Sitzungsberichte 
W. Dönitz. 

Zweiflügler (Diptera). Den einzigen mir bekannt 
gewordenen Fall eines uranischen Fliegenraännchens bringt 
Stein. Derselbe beobachtete im Sommer 1893 ein männ- 
liches Exemplar der gemeinen (grösseren) Stubenfliege 
(Musca domestica, aus der Familie Muscidae), welches 
fünfmal hintereinander ein am Fenster sitzendes Männ- 
chen der kleinen Stubenfliege (Homalomyia canicularis, 
aus der Familie Anthomyidae) zu begatten suchte; letzteres 
habe sich mit offenbarem Behagen die wiederholt an- 
gestellten Kopulationsversuche gefallen lassen. 

Spinnentiere (Arachnoidea) 
Uranische Akte sind in dieser Tierklasse nur bei den 
echten Spinnen (Araneina) und auch nur ein einziges Mal 
erwähnt worden, von van H asscl t bei Linyphia clathrata. 
Zwei männliche Paare dieser Netzspinne traf van Hasselt 
friedlich in einem Gewebe zusammenlebend an; sie trieben 
mit den Tastern (ihren Begattungswerkzeugen) und den 
Beinen wiederholt Vorspiele der Begattung, ohne doch 
den Koitus zu vollziehen. 

* 



— 150 — 



Wenn besondere Umstände oder Einzelheiten eines 
Falles von Päderastie oder Tribadie bei Tieren mir be- 
langreich genug erschienen, habe ich in der hier ge- 
gebenen Kasuistik darauf Gewicht gelegt, diese Verhält- 
nisse so ausführlich wie möglich wieder zu geben, damit 
ein fester Boden für eine allgemeine Beurteilung der 
ungleichwertigen Thatsachen gewonnen werden könne; 
denn wissenschaftlicher Wert darf nur einer solchen 
Kasuistik zugestanden werden, welche durch Ausscheidung 
des rein Accidentellen das Wesentliche desto deutlicher 
hervortreten lässt. Dieser Zweck erklärt zur Genüge die 
so sehr ungleiche Behandlung der zahlreichen Einzelfälle. 

Es liegen zur Zeit nur zwei Arbeiten vor, deren aus- 
gesprochener Hauptzweck es war, die zahlreichen bei 
Tieren zur Beobachtung gekommenen päderastischen und 
tribadischen Geschlechtsakte von einem ganz allgemeinen 
Standpunkte aus zu deuten, um den Weg zu zeigen, den 
die Forschung mit Aussicht auf Erfolg in Zukunft ein- 
schlagen muss, nämlich die kurze, auf sexuelle Perver- 
sionen unter Tieren beschränkte Abhandlung von F£r£ 
und das sehr umfangreiche, die libido sexualis überhaupt 
behandelnde Werk von Moll. Beiden Autoren kommt 
es zu Statten, dass ihnen die Erscheinungen der Päderastie 
und Tribadie dureh eigene anthropologische Forschungen 
und Erfahrungen bereits hinlänglich bekannt waren, bevor 
sie die analogen Vorgänge in der Tierwelt in den Bereich 
ihrer Studien einbezogen. Um so interessanter ist es, 
dass F£r£ und Moll demungeachtet nicht in allen wesent- 
lichen Fragen auf demselben Standpunkte stehen. Für 
F£r£ giebt es einen auf das gleiche Geschlecht gerichteten 
Geschlechtstrieb, eine angeborene gleichgeschlechtliche 
Liebe, deren Vorkommen für den Menschen von ihm 
als Thatsache zugestanden wird, beim Tiere nicht; die 
tierischen sexuellen Anomalien sind für ihn ausschliesslich 
zufällig und angenommen, weil sie lj nur beim Fehlen 
dos anderen Geschlechtes dauernd zu Stande kommen 



— 151 — 



und anomale Geschlechtsakte bei einem Tiere normale 
Akte nicht ausschliessen; 2) weil bei Ausübung z. B. der 
Päderastie bei Tieren die Geschlechtsorgane des passiven 
Männchens nicht mit im Spiele sind, es vielmehr ledig- 
lich um Befriedigung eines ungestümen blinden Kopu- 
lationstriebes sich handelt. Von allen den zahlreichen hier 
aufgeführten Fällen sexueller Beziehungen zwischen gleich- 
geschlechtigen Tieren ist nun in der That nicht ein ein- 
ziger geeignet, gegen F£r<?s Auffassung geltend gemacht 
zu werden. Indessen ist zu bemerken, dass die Forschungen 
über sexuelle Akte bei Tieren sich fast auf eine blosse 
Statistik beschränken, dass in allen beobachteten Fällen 
rein päderastischer oder rein tribadischer Natur die fort- 
gesetzte Beobachtung, ob eine ausschliessliche oder vor- 
wiegende individuelle Neigung zu bestimmten Akten vor- 
liegen könne, niemals angestellt wurde und das Experiment 
auf diesem Gebiete noch völlig ausgeschlossen blieb. 
Seinem Standpunkte entsprechend will F£r6 de Ker- 
ville's scharfe Unterscheidung einer Päderastie durch 
Not und einer solchen durch Wahlbevorzugung bei Tieren 
durchaus nicht gelten lassen; es schienen zwar bei ober- 
flächlicher Betrachtung Männchen, welche im Beisein von 
Weibchen sich mit Männchen kopulierten, eine Wahl zu 
treffen, allein es fehle gänzlich der Nachweis dafür, dass 
hier wirklich eine Wahl getroffen werde ; gerade bei In- 
sekten sei dieses im höchsten Grade unwahrscheinlich; 
man wisse, dass die Geschlechtsgerüche der Insekten von 
anderen Individuen aus weiter Entfernung wahrgenommen 
würden und dass wahrscheinlich eben diese Gerüche den 
stärksten Reiz bei der geschlechtlichen Erregung der In- 
sekten hervorriefen; habe nun z. B. ein Maikäfermänn- 
chen eben eine Begattung mit einem Weibchen vollzogen, 
so hafte ihm von der innigen Gemeinschaft mit diesem 
notwendigerweise noch so viel weiblichen Geschlechts- 
geruches an, dass dieses vollkommen genüge, ein anderes 
Männchen zur Begattung anzulocken; andererseits sei es 



— 152 — 



von dem vollzogenen Koitus halbtot vor Entkräftung 
und unfähig, dem Ungestüm eines zudringlichen Männ- 
chens Widerstand entgegenzusetzen; es lasse sich, so zu 
sagen, den Irrtum gefallen und verhalte sich j wie ein 
durch einen Parasiten geschwächtes männliches Tier, das 
aller Männlichkeit verlustig ging. Auch beweise die von 
Laboulbfene vorgenommene Sektion eines im Koitus 
passiven Maikäfermännchens, es hätte bei diesem Falle nicht 
eigentlich Päderastie vorgelegen, da das aktive Männchen 
sein Begattungsglied nicht in den After des passiven Männ- 
chens, sondern in die durch Zurückziehung von dessen 
Glied frei gewordene Höhle der Penisscheide seines Opfers 
eingeführt habe. F£r£ findet auch die Logik de Ker- 
ville's höchst sonderbar, nach welcher Peraga Ho den 
Nachweis der Päderastie durch Wablbevorzugung bei den 
Männchen von Rbagonycha und Luciola zwar schuldig 
blieb, dieser Nachweis aber gleichwohl wenigstens für 
Rbagonycha nach seiner Darstellung leicht zu erbringen sei, 
indem nämlich die aktive männliche Rbagonycha, wenn auch 
vielleicht nicht Weibchen ihrer eigenen Art, so doch solche 
derjenigen Art, mit welcher sie Päderastie getrieben, an ihren 
Aufenthaltsorten im Ueberflusse zur Verfügung hatte. F6r& 
gelangt nun zu dem Schlüsse, dass, angenommen, es gäbe 
wirklich einmal ein Tier mit angeboren gleichgeschlecht- 
lichem Begattungstriebe, dieses doch von seinen Art- 
genossen völlig isoliert und befehdet werden würde, und 
dass es seine Geschlechtsnatur nicht würde vererben 
können, da kein Motiv es zu veranlassen vermöchte, diesen 
ihm angeborenen Trieb zu unterdrücken und eine seiner 
Natur widerstrebende normale Begattung zu versuchen; 
da ferner bei vorliegenden funktionellen Anomalien auch 
gleichzeitiges Vorkommen anatomischer Anomalien ange- 
nommen werden müsse und diese erblich wären und sich 
durch Vererbung steigerten, so sei allen sexuell pervers 
Geborenen zu raten, sich des Fortpflanzungsgeschäftes 
völlig zu enthalten. 



— 153 — 



Es mag hier bemerkt werden, dass de Kerville's 
Vorstellung sich vollkommen mit der von U lrichs deckt r 
welcher (8. 91) aber nicht allein das aktive Maikäfer- 
männchen für einen Urning erklärte, sondern auch das 
passive; er sagt, in völliger Uebereinstimmung mit den 
Thatsachen, der weibliche Maikäfer sei grösser und dicker 
als der männliche; und da auf Grund von vier überein- 
stimmenden Fällen das aktive Männchen männlich, das 
passive Männchen aber weibähnlich gebaut war, so fasst 
er die passiven Männchen als vermutliche Weiblinge, die 
aktiven als Mannlinge auf und sieht die ganze Erscheinung 
als auf reinem Urningtum (p£d£rastie par goüt) beruhend an. 

In scharfem Gegensatze zu F£r6 zeigt sich Moll 
einer von Fall zu Fall verschiedenen Beurteilung der 
einschlägigen Erscheinungen geneigt. Er trennt homo- 
sexuelle Akte scharf von Homosexualität; von ersteren. 
würde danach die p£d£rastie par necessitä, von letzterer 
die pdd^rastie par goüt einen Bestandteil bilden. Moll 
nimmt an, die für die Fortpflanzung notwendigen Organe 
und Funktionen entwickelten sich gewöhnlich in Har- 
monie mit den Keimdrüsen, derart, dass mit den Hoden 
die männlichen äusseren Begattungsorgane und der Trieb 
zum weiblichen Geschlechte, mit den Eierstöcken auch 
die weiblichen äusseren Geschlechtsorgane und der Trieb 
zum männlichen Geschlechte sich ausbilden; er nennt 
diesen Vorgang nach Josef Müller „Vinkulierung" 
passender Geschlechtscbaraktere. Diese Vinkulierung kann, 
vollkommen oder aber mangelhaft ausfallen; in beiden. 
Fällen ist das Endergebnis nach Moll vererbbar. Voraus- 
gesetzt, es käme die beim Menschen nachgewiesene an- 
geborene gleichgeschlechtliche Liebe auch bei Tieren vor,, 
so besteht doch bei Mensch und Tier bezüglich der Ver- 
erbungswahrscheinlichkeit nach Moll ein sehr erheblicher 
Unterschied: beim Menschen liegt die Gefahr der Ver- 
erbung dieses Triebes beständig vor, indem männlw-lie- 
und weibliche Uranier aus vielfachen Ursachen, aus Un- 



— 154 — 



kenntnis, aus egoistischen oder (bei den Chinesen) religi- 
ösen oder anderen Motiven für Nachkommenschaft Sorge 
tragen; bei den Tieren dagegen ist sie fast oder völlig 
ausgeschlossen. In letzterem Umstände findet Moll eine 
Erklärung des bei Tieren seltenen Vorkommens der nach 
ihm nicht unwahrscheinlichen, von Flre* gänzlich ge- 
leugneten, angeborenen Homosexualität 

Moll's Werk, die Lebensarbeit eines praktischen 
Arztes, bildet den Ausgangspunkt für eine neue Wissen- 
schaft, an welche von den berufenen Gelehrten, den 
Professoren der verwandten Forschungszweige, den Anthro- 
pologen, den Physiologen und den Psychologen nicht 
gerne gerührt wird; es ist bequemer, auch in einer Zeit, 
der mit vollen Backen die Herrschaft der Wissenschaft 
nachgerühmt zu werden pflegt, eigener oder fremder Un- 
kenntnis und den Vorurteilen und der Prüderie der Menge, 
zum Schaden des Fortschritts, die Auffassung aller heiklen 
Dinge anzupassen. Scheitlin (II, S. 292) hat es schon 
verstanden, den Inhalt dieser neuen Wissenschaft mit 
allen ihren noch ungehobenen Schätzen an Erkenntnis mit 
wenigen Worten zu charakterisieren: „Alle Männer, die 
<etwas Weibliches, Weibartiges, Mädchenhaftes an ihrem 
Körper haben, haben auch etwas dieser Art in ihrer 
Seele und umgekehrt. 14 

Diese Arbeit aber, von deren Unvollkommenheit, 
nach jeder Richtung hin, ich überzeugt bin, glaube ich 
nicht besser beschließen zu können, als mit dem Aus- 
spruche Benkert's (Das Gemeinschädliche des § 143 
des preussischen Strafgesetzbuches vom 14. April 1851 
und daher seine notwendige Tilgung als § 152 im Ent- 
würfe eines Strafgesetzbuches für den Norddeutschen 
Bund, Leipzig, Serbe, 1869, S. 19) «... der auf eigenen 
Füssen stehende Sexualogist muss noch erst geboren 
werden!" 



Literatur. 



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bei Käfern) in: Rovartani Lapok (ungarische ento- 
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geschichte der Vögel. 1. Band, Brünn, J. G. Trassier. 
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— 157 -r 



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— 158 — 



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au cours de la sfance de 17. avril 1884, communi- 
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Moll, Albert, Untersuchungen über die Libido sexualis. 



— 159 — 



Erster Band. Berlin, H. Hirschfeld, 1898. XV und 
872 Seiten in 8". (p. 276 ; p. 368—407; p. 492—494.) 

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nro. 9 (septembre), p. 114. 

von der Osten Sacken, C. R., Ueber einige Fälle von 
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Zeitung, Stettin, 40. Band, 1879. p. 116—118. 

Peragallo, AI., Seconde note pour servir k l'histoire des 
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internationalis. Narbonne (Aude), Tome 3, 1895, 
nro. 8 (aoüt). (Nach Noel.) 

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Fr. Schnitzer, Plutarch's Werke. 46. Bändchen. II. 
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Metzler, 1861. Gryllus oder Beweis dass die unver- 
nünftigen Tiere Vernunft haben, p. 2906—2923. 

von Ramdohr, Friedr. Wilh. Bern., Venus Urania. 
Leipzig 1798. (Nach Moll, p. 369.) 

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Öfversigt af Finska Vet.-Soc. Förhandl. Helsingfors. 
Vol. 23. 1880. 30 pg. 

Reuter, Odo Moranald, Sur Phybridisation chez les In- 
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holm. 1. Bd. 1880. p. 174—177. 



— 100 — 



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1. Band 1840. VIII und 488 pg. — 2. Band 1840. 
IV und 446 pg. Stuttgart und Tübingen, Cotta. 8 Ü . 

Schulz, G. L., Copula zwischen männlichen Insekten im 
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Band, 1899, Sitzungsberichte für das Jahr 1898, p. 27. 

»Seitz, Adalb., Allgemeine Biologie der Schmetterlinge. 
III. Teil. Fortpflanzung, in: Zoologische Jahrbücher 
(Spengel), Abteilung Systematik, Geographie und 
Biologie, 7. Band, 1893—94. Jena, 1894. p. 823—851. 

Stein, Paul, Die Anthomyidengruppe Homalomyia nebst 
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Zeitschrift, 40. Band, 1895, p. 1—141. 

> Sunde vall, Carl J., Die Tierarten des Aristoteles von den 
Klassen der Säugetiere, Vögel, Reptilien und Insekten. 
Uebersetzung aus dem Schwedischen. Stockholm, 
Samson & Wallin, 1863. 

Thiele, H., ein männlicher Parnassius Charltonius prin- 
ceps mit Legetasche, in: Berliner Entomologische 
Zeitschrift, 44. Band, 1899, Sitzungsberichte für das 
Jahr 1898, p. 27. 

Ulrichs, Karl Heinrich (Numa Numantius), „Critische 
Pfeile". Denkschrift über die Bestrafung der Ur- 
ningsliebe. An die Gesetzgeber. Numa Numantius 
Buch XII. Stuttgart 1879. VIII und 96 pg. in 8°. 
(p. 22—23 § 37; p. 90-91 § 124.) 

Willughby, Francis, Ornithologiae libri tres: in quibus 
Aves omnes hactenus cognitae, in methodum naturis 
suis convenientem redactae, accurate describuntur : 
descriptiones iconibus elegantissimis et vivarum avium 
simillimis, aeri incisis illustrantur. Totum opus re- 
cognovit, digessit, supplevit Joannes Raius. Londini, 
1676. Fol. 307 pg., 77 tabulae. (p. 120 § VI; p. 122 
§ VIII.) 



Urteile römisch-katholischer Priester 

über die Stellung* des Christentums 
zur staatl. Bestrafung der gleichgeschlechtlichen liebe« 

Im Xovember 1S99 versandte das wissenschaftlich- 
humanitäre Komitee den folgenden Fragebogen an die 
katholische Geistlichkeit von Bayern, Baden, einem Teil 
der Rheinlande und in vereinzelten Exemplaren darüber 
hinaus : 

Charlottenburg, im November 1899. 

Hochwürdiger Herr! 
Wenn unser Komitee, von den lautersten Motiven 
geleitet, mit folgender Angelegenheit an Euer Hochwürden 
herantritt, so geschieht es, um Alle, die in dieser bedeut- 
samen Frage mitzusprechen berufen sind, zu Worte 
kommen zu lassen. Die ganz besonderen Erfahrungen, 
welche der katholischen Geistlichkeit zu Gebote stehen, 
ihr hoher sittlicher Ernst, das pfiichtmässige Interesse, 
welches sie dem Gegenstande widmen muss, weisen ihr 
für die Beurteilung dieser Materie eine der ersten 
Stellen an. 

Es ist Euer Hochwürden bekannt, dass der Staat» 
während er der öffentlichen Unsittlichkeit im allgemeinen 
nahezu unthätig gegenübersteht, sodass beispielshalber 

Jahrbuch II. U 



— 162 — 



die kaum der Schule entwachsenen jungen Mädchen fast 
schutzlos der Verführung preisgegeben sind, in einem 
Falle mit grösster Strenge und Härte verfährt, nämlich 
dann, wenn ein homosexueller Akt vorliegt, eine sexuelle 
Handlung zwischen erwachsenen Personen männlichen 
Geschlechts. Da steht der Staat nicht an, einen Mann 
der vielleicht durch Jahre hindurch unter dem grössten 
Aufgebot seiner Kräfte den ihm durch seine Natur auf- 
erlegten Kampf gekämpft und sich Zeit seines Lebens 
tadellos geführt- hat, um der Schwäche willen, mit der 
er in einem unglücklichen Augenblick ein einziges Mal 
unterlag, allen Schrecken einer öffentlichen schimpflichen 
Brandmarkung auszusetzen, ihn einzukerkern und für 
seine ganze Zukunft zu Grunde zu richten. 

Sehr richtig schrieb daher ein Mitglied des hoch- 
würdigsten deutschen Episcopats dem unterzeichneten 
Komitee, dass vom Gesichtspunkt der Konsequenz die 
Beseitigung des hier in Frage kommenden Gesetzes (§ 175 
R.-Str.-G.-B.) mit Recht gefordert werden dürfe. 

Ja, hört man da von vielen Seiten einwenden, da 
haben wir es doch mit einem Verbrechen wider die Natur 
zu thun. Was heisst das ? Das soll heissen, dass es keine 
Inclination zum eigenen Geschlecht geben kann, welche 
ebenso wie die zum andern einen natürlichen Ausfluss 
der physischen Anlage, der konstitutionellen Beschaffen- 
heit, kurz der subjektiven Individualität des Einzelnen 
darstellt. Das soll heissen, dass Jedermann, der homo- 
sexuell empfindet, diese homosexuelle Empfindung durch 
die Masslosigkeit seiner Ausschweifungen, durch boden- 
lose Verkommenheit, durch Verleugnung seiner eigenen 
Natur sich künstlich angezüchtet habe. Ist nun dieser 
furchtbare Vorwurf auch wahr, entspricht er den That- 
sachen und der Wirklichkeit? Er ist, wie die tägliche 
Selbsterfahruug von Tausenden lehrt und wie die von 
den ersten Männern der neueren Wissenschaft angestellten 



— 103 — 



Untersuchungen mit vollster Sicherheit ergeben haben, 
ein fundamentaler Irrtum. 

Angesichts dieser Erkenntnis haben sich bereits fast 
sämtliche rein katholische Kulturländer (auch Bayern und 
Württemberg bis zur Gründung des Deutschen Reichs) 
mit Ausnahme von Oesterreich-Ungarn, welches sich auch 
in dieser Richtung gesetzgeberisch nach Preussen gerichtet 
hat, entschlossen, das auf einem error legislatofis aufgebaute 
Gesetz abzuschaffen, welches in Deutschland durch den 
§ 175 R.-Str.-G.-B. vertreten ist und das die häufigste 
Ursache „der Selbstmorde aus unbekannten Gründen" 
darstellt und ein in seiner Art einzig dastehendes Er- 
pressertum gezüchtet hat. Angesichts dessen hat sich 
auch auf deutschem Boden das Unterzeichnete Komitee 
gebildet, welches, uuterstützt von den Besten der Nation 
den Kampf für die Ehre dieser bedauernswerten Parias 
der Gesellschaft aufgenommen hat. Es fordert, dass frei- 
willige sexuelle Akte zwischen erwachsenen Personen des- 
selben Geschlechts gerichtlich nicht bestraft werden sollen, 
es fordert Gleichheit vor dem Gesetz, es fordert die Be- 
seitigung eines Paragraphen, dessen Bestand an sich jeden 
homosexuell Geborenen, auch den sittlich tadellosesten 
erniedrigt, indem er für ihn in seinen eigenen Augen eine 
unausgesetzte Beschuldigung und Beschimpfung bildet. 
Es geht dabei von dem Gedanken aus, dass Niemand 
von dem Anspruch auf Gerechtigkeit, auf volle 
Würdigung des ganzen Komplexes objektiver Thatsachen, 
aus denen sich seine Natur zusammensetzt, ausgeschlossen 
sein darf, Niemand, auch der Homosexuelle nicht; es 
will ein schweres, nicht mehr länger erträgliches Unrecht 
aus der Welt schaffen. Damit glaubt es auch am besten 
der Sittlichkeit zu dienen, welcher die Anerkennung der 
realen Thatsachen nie zum Schaden, sondern nur zum 
Vorteil gereichen kann; die Wahrheit wird uns frei 
machen. 

11* 



— 1G4 

Von diesem Wunsche beseelt, erlauben wir uns fol- 
gende Fragen zu unterbreiten: 

I. Können Euer Hoch würden auf Grund Ihrer 
pastoralen Erfahrungen bestätigen, dass es Men- 
schen giebt, welchen von Natur aus kein anderer 
als ein gleichgeschlechtlicher Trieb innewohnt, 
und dass manche Menschen zwar auch vom an- 
deren Geschlecht, im höheren Maasse aber vom 
eigenen sich angezogen fühlen? 
II. Können Euer Hochwürden bestätigen, dass die 
homosexuelle Empfindung als solche mit dem 
sittlichen Wert oder Unwert des Menschen in 
keinem Zusammenhange steht? 

III. Können Euer Hochwürden bestätigen, dass der 
homosexuell angelegte Mensch mit seiner Natur 
einen oft noch härteren, zum mindesten aber 
keinen leichteren Kampf zu bestehen hat, als er 
im Durchschnitt dem Heterosexuellen auferlegt zu 
sein pflegt? 

Um die Beantwortung dieser Fragen, welche der 
Gewissenhaftigkeit, womit das Komitee die Angelegenheit 
betreibt, sicher das ehrenvollste Zeugnis ausstellen, wird 
inständigst ersucht. Schon für ein blosses „Ja* oder 
„Nein* ad I. II. und III. würden wir ausserordentlich 
dankbar sein. Denn wenn wir auch beim katholischen 
Priester mit Rücksicht auf seinen Beruf und die hohe 
Bedeutung des Gegenstandes Gleichgültigkeit dieser Frage 
gegenüber nicht voraussetzen wollen und dürfen und eine 
Nichtbeantwortung daher wohl nur als Bejahung auffassen 
können, so würde eine ausdrückliche Erklärung doch 
einen ungleich höheren Wert für uns besitzen, als eine 
bloss stillschweigende Beistimmung. Wir ermangeln nicht, 
den hochwürdigen Geras auf die Petition an die legis- 
lativen Körperschaften des Deutschen Reichs hinzuweisen, 
welche von ca. 1000 hervorragenden Vertretern der 



— 165 — 



Wissenschaft und Kunst, darunter zahlreichen Juristen, 
Geistlichen und Aerzten unterzeichnet wurde, sowie auf 
die grosse einschlägige Litteratur, von deren neueren Er- 
scheinungen wir ein Verzeichnis beifügen. 

Indem wir Euer Hoch würden die strengste Dis- 
kretion zusichern, wekhe wir in diesem Gebiet ja so 
viel auszuüben haben, 

zeichnet im Namen des 

Wissenschaftlich-humanitären Komitees 
mit grösster Wertschätzung 
Dr. med. Hirschfeld. 

Was die eingelaufenen Antworten anlangt, so teilten 
sich die Herren in vier Klassen. 

Der erste Teil empfing irriger Weise den Eindruck, 
unser Komitee wolle nicht blos § 175 des R.-Str.-G.-B. 
sondern auch § 6 des Dekalogs abgeschafft; wissen. In- 
folgedessen sprachen diese Herren über unsere Bestreb- 
ungen ihre Missbilligung aus und bedienten sich dabei 
mitunter äusserst leidenschaftlicher Formen und nicht 
wiederzugebender Ausdrücke. Wir möchten bei dieser 
Gelegenheit betonen, dass sich das wissenschaftlich- 
humanitäre Komitee mit den verschiedenen Über die homo- 
sexuelle Frage erschienenen Schriften nur insoweit 
identifiziert, als dieselben den Charakter objektiver 
naturwissenschaftlicher Darlegung tragen, nicht aber, 
insoweit sie darüber hinausgehen. Denn wir kennen nur 
das eine Ziel : Klarheit zu schaffen über den Homosexualis- 
mus als Naturerscheinung und auf dem Gebiete der 
Gesetzgebung die praktischen Konsequenzen un- 
zweifelhafter Forschungsergebnisse anzustreben. 

Ein zweiter und zwar der grösste Teil schwieg oder 
antwortete ausweichend. Er konnte offenbar nicht ver- 
neinen und mochte auch nicht bejahen, weil er vermutlich 
zu Unrecht Konsequenzen irgend welcher Art fürchtete. 



— 166 - 



Ein dritter Teil jging auf die gestellten Fragen ein, 
zeigte jedoch, dass ihm die wissenschaftliche Seite der 
Materie völlig unbekannt war. 

Eine vierte ansehnliche Gruppe endlich bestätigte 
auf Grund ihrer pastoralen Erfahrungen, teils mit 
blossem „ja" oder „affirmative", zum Teil in äusserst 
wertvoller und denkwürdiger Weise, was von 
naturwissenschaftlicher Seite über die Homosexualität fest- 
gestellt ist. 

Wir lassen eine Auswahl dieser Zuschriften folgen: 
Erklärungen römisch-katholischer Priester. 
I. 

Insofern vorausgesetzt werden darf, dass die Aktion 
des wissenschaftlich-humanitären Komitees in keiner Weise 
der Unsittlichkeit Vorschub leisten, sondern ausschliesslich 
nur ein vorhandenes Unrecht beseitigen will, bin ich gern 
bereit, der an mich ergangenen Einladung zu folgen und 
auf Grund meiner konfessionalen Erfahrungen die mir 
unterbreiteten Fragen zu beantworten. 

Ob ich als Beichtvater die Existenz des Homo- 
eexualismus als einer objektiv gegebenen Thatsache 
bestätigen könne? Das kann ich allerdings. Ich habe 
tausend e von Beichten entgegengenommen, habe Männern 
und Frauen, Greisen und Jünglingen, Landleuten und 
Städtern, Menschen der obersten und der untersten Stände 
ins Gewissen geschaut, so tief ins Gewissen geschaut, 
dass ihr innerstes Leben, ihre innersten Empfindungen, 
Kämpfe und Gefühle offen vor meinen Blicken lagen, 
und ich muss den Satz unterschreiben: „Es ist eine Er- 
scheinung, mit der wir uns, als einmal gegeben, abfinden 
müssen, dass die fleischliche Liebe nicht exklusiv an das 
entgegengesetzte Geschlecht gebunden ist. Wenn wir 
auch die Gründe davon bisher nicht verstanden, so ist 



— 1(57 — 



doch ein Zweifel darüber ausgeschlossen, dass es eine 
ansehnliche Zahl von Männern und Frauen giebt, die sich, 
und zwar mit physischer Notwendigkeit, nicht vom andern, 
sondern vom eigenen Geschlecht sexuell angezogen fühlen/ 
Was die bekannte Stelle im Brief des heiligen Paulus 
an die Römer betrifft, welche damit in einem gewissen 
Widerspruch steht, so ist ganz einfach zu bemerken, dass 
die Bibel nicht Naturwissenschaft lehren will. 
„Quis jubet sacros auctores ex physicorum principiis 
loqui? Comraune8 illi aetatis suae opiniones sequuntur" 
sagt Calmet. Und Dr. Bernhard Schäfer: „Irrtümer gegen 
die exakte Wissenschaft sind in der heiligen Schrift nicht 
nur möglich, sondern thatsächlich und wirklich." — „Wäre 
es Gottes Absicht gewesen, die heiligen Schriften vor 
jedem Irrtum in fachwissenschaftlichen Dingen zu be- 
wahren, so hätte er auch dafür Sorge tragen müssen, dass 
alle Zahlenfehler vermieden worden wären, was bekannt- 
lich nicht geschehen ist.* — »Wir dürfen herzhaft an- 
erkennen, dass die Verfasser der heiligen Bücher im All- 
gemeinen in wissenschaftlichen Fragen ihrer Zeit durchaus 
nicht vorangeeilt waren, sondern die Anschauungen ihrer 
Mitwelt teilten, wenn dieselben auch irrig waren. Ja, 
wir können noch weiter gehen und behaupten, dass die 
heilige Schrift da, wo sie leicht die Wissenschaft hätte 
fördern können, dies geradezu verschmäht* — w In natur- 
wissenschaftlichen Fragen darf die heilige Schrift nicht 
zu Beweisen herangezogen werden.* („Bibel und Wissen- 
schaft*.) Aehnlich Kaulen, Schanz und die meisten nam- 
hafteren Theologen der neueren Zeit. Die Lösung der 
Schwierigkeit lautet darum sehr einfach: Insofern die in 
Rede befindliche Stelle eine Bestätigung des christ- 
lichen Sittencanons bildet und Antwort giebt auf 
die Frage nach der Sündhaftigkeit homosexueller 
Akte, trägt sie selbstverständlich den Charakter einer 
dogmatisch verbindlichen Norm. Insofern jedoch in ihr 



— 168 — 



eine naturwissenschaftliche Doktrin zum Aus- 
druck gelangt, gilt von ihr das soeben erwähnte Axiom: 
Sie darf zum Beweis nicht herangezogen werden.* Da- 
mit ist der Einwand erledigt und muss er erledigt sein. 
Denn was wären im entgegengesetzten Fall die Kon- 
sequenzen? Keine andern, als dass sich tausende vou 
Menschen vor die Alternative gestellt sähen, entweder 
sich selbst oder das Christentum zu verneinen! Eine 
solche Auffassung charakterisiert sich aber doch wohl 
deutlich genug als falsch und irrig. 

In welchen Kreisen die meisten Homosexuellen an- 
zutreffen seien? Das muss ich dahingestellt sein lassen. 
Ich habe zwischen Hoch und Niedrig, zwischen Reich 
und Arm, zwischen Landleuten und Städtern, zwischen 
Gebildeten und Ungebildeten in dieser Beziehung einen 
nennenswerten Unterschied nicht wahrzunehmen vermocht. 

Ob ich vielleicht bestätigen könne, dass die gleich- 
geschlechtliche Anlage meist in ebenso hohem und oft 
in noch höherem Masse zur Bethätigung dränge als die 
des gewöhnlichen Menschen? Ich muss leider bejahen 
und will zum Beweis etliche Beispiele anführen, die mir, 
wie bemerkt werden mag, zu veröffentlichen ausdrücklich 
gestattet worden ist. 

Ein etwa zwanzigjähriger Bursche kommt zur Beicht. 
Er bekennt, dass er „Unkeuschheit getrieben*. — Mit 
wem? „Mit einem Mann*. — Einmal oder öfters? 
„Oefters." — Schlafen Sie mit diesem Mann in einem 
Zimmer? — „Nein. Aber er ist im gleichen Haus und 
kommt nachts * in meine Kammer/' — Geschieht das 
schon lange? »Seit drei, vier Jahren." — Können Sie 
das Haus nicht verlassen? „Nein.* — Diesem traurigen 
Verhältnis müssen Sie ein Ende machen, junger Freund. 
Sie müssen die sündhaften Zumutungen abweisen. Und 
Sie müssen standhaft bleiben. Haben Sie es denn bisher 
noch gar nicht versucht, Widerstand zu leisten? »Hie 



— 1G9 — 



und da, besonders zuerst, hab* ich es schon versuchte 
Aber er giebt nicht nach. Er sagt, wenn man ihn« 
köpfen oder hängen würde, könnte er's nicht 
* lassen; er hat mich schon mit aufgehobenen. 

Händen gebeten ■ 

Der zweite Fall bezieht sich auf einen älteren Bauers- 
mann. Er ist verheiratet, Vater mehrerer erwachsenen« 
Kinder, der in Rede befindlichen Leidenschaft ergeben 
und auch etwas zum Trunk geneigt, sonst aber durchaus 
bieder und rechtschaffen. Krank geworden, lässt er mich 
rufen, um zu beichten. Er legt sein Bekenntnis ab und* 
bemerkt im Verlauf desselben, dass er so viel von bösen* 
Begierden geplagt sei. , Wissen Sie," fährt er fort, „ich 
habe eine ,umgekehrte Natur* und die peinigt mich Tag 
und Nacht. Sie glauben es nicht, was ich alter Mann 
noch für Kämpfe durchmachen muss ..." — Seid Ihr 
der Leidenschaft zum eigenen Geschlecht unterworfen? 
„Ja, geistlicher Herr, und das ist eine böse Sucht;: 
die kann aus dem Menschen einen Märtyrer 
machen/ — Verursacht Euch das weibliche Geschlecht 
keine Versuchungen? „Gar keine. Davon weiss ich 
nichts und hab' ich mein Lebtag nichts gewusst." — 
Dass Ihr aber dann doch geheiratet habt? „Das ist co 
iu einer Art Verzweiflung geschehen. Ich hab' zu mir 
selber gesagt: ,Mach's wie die anderen Leute, dann wirst 
du auch sein wie die anderen Leute. Wirf dich inV 
Wasser, dann wirst du wohl schwimmen lernen/ Und 
so hab' ich geheiratet. Ausserdem hat mir das Weib ein 
schönes Stück Geld ins Haus gebracht; ich bin aur 
diese Weise ein reicher Bauer geworden. Aber an und 
für sich wär* mir's nicht im Traum eingefallen, zu heiraten. 
Ich hab' im Gegenteil vor der ganzen Sache einen inner- 
lichen Ekel gehabt/ — Wie kommt es dann, dass Ihr 
♦ trotzdem Vater geworden seid? „Da haben, geistlicher 

Herr, die Gedanken mitgeholfen. Und viel mehr Kinder 



— 170 — 



-könnten ohnedies gar nicht da sein." — Habt Ihr mit 
Mannsbildern viel gesündigt? „Viel, geistlicher Herr, 

.sehr viel, von den jungen Jahren an bis in meine alten 
Tage herauf. Seit meiner letzten Beicht ist allerdings 

-kein böses Werk mehr vorgekommen. Ich bin seither 
die meiste Zeit im Bett gewesen. Aber die Begierden 

j)l agen mich, dass iclrTa£ und Nacht gepeinigt 
bin. Schauen Sie, ich möchte gern dort am Fenster 
liegen, aber wenn die jungen Burschen in die Fabrik 

-oder von der Fabrik nach Hause gehen, würde ich sie 
gerade vor Augen haben und da finge mir mein altes 
Blut zu sieden an, dass ich es fast nicht aushalten 

.könnte; darum hab' ich mir das Bett daherüber stellen 
lassen. O, geistlicher Herr, Sie glauben nicht, 
was ein solcher Mensch für ein Fegfeuer 

•durchmachen muss " 

Der dritte Fall betrifft, einen jüngeren Amtsbruder, 
gegenwärtig Pfarrer, von Allen, die ihn kennen, geliebt 
und verehrt. Sein reiches, ungewöhnliches Talent, sein 
seltener Idealismus, seine ausgezeichnete Bildung, der 
Adel seines ganzen Wesens Hessen ihn als Ausnahms- 
menschen im besten Sinn des Wortes erscheinen; er 
zählt zu den vornehmsten Charakteren und edelsten 
Naturen, mit denen mich mein Lebensweg bis heute zu- 
sammengeführt «hat.. Als ich eines Tages seine Beicht 
entgegennahm, sprach er mir von den furchtbaren Kämpfen, 
die er mit sich selber zu bestehen habe. Er war homo- 
sexuell. »Der Gedanke an ein Weib, Ä sagte er, „ist mir 
vollkommen fremd. Ich weiss davon nichts. Aber die 
Leidenschaft, für mein eigenes Geschlecht, die mir schon 
in den Studienjahren schwere Stunden bereitete, 
macht imr -seit längerer Zeit das Leben zu einem völligen 
Martyrium. Ich glaube mir das Zeugnis ausstellen zu 

-dürfen, dass ich die Sorge für mein Seelenheil nichts 

-Aveniger als leicht nehme und dass mir namentlich ein 



— 171 - 



eifriger Gebrauch der religiösen Gnadenmittel zum geistig« 
Bedürfnis geworden ist. Trotzdem bin ich zuweilen fast 
ratl os. Es giebt Stunden, wo sich die Leidenschaft zum 
wilden, stürmischen Drang gestaltet und wo mich 
aller Mut verlassen will. Ob ich in meinem Kampf 
siegen oder unterliegen werde, weiss Gott; aber es will 
mir oft scheinen, als ob ein Verhängnis über mir schwebte 
und als ob ich einem Unglück entgegenginge/ Ich 
•suchte sein geschwundenes Selbstvertrauen wieder zu be- 
leben, ermunterte ihn zu doppelt intensiver Benützung 
der religiösen Adjumente und gab ihm auch den Rat, 
sich aller geistigen Getränke sowie aller Gewürze zu 
enthalten, nicht mehr als notwendig allein zu bleiben 
und jeden Tag angestrengte Bewegung zu machen. Mein 
Rat wurde, soweit es die Verhältnisse gestatteten, aufs 
Gewissenhafteste befolgt. Und der geplagte Mann* ging 
sogar noch weiter: Er erlaubte sich, namentlich am Abend, 
fast niemals mehr eine volle Sättigung und legte sich 
auch sonst die verschiedensten Opfer auf. Allein es 
zeigten sich keine nennenswerten Wirkungen ; der sexuelle 
Trieb wurde im Gegenteil allmählich nur noch heftiger. 
Der Arme musste sich, wie er mir mitteilte, im 
Bette oft völlig winden und krümmen. Wenn er 
sass, fühlte er den Drang, die Beine krampfhaft an einander 
zu pressen, wenn er kniete oder stand, den Unterleib 
wie im Schmerz hin und her zu wiegen. Der Anblick 
eines hübschen Burschen brachte seine ganze Natur aus 
dem Gleichgewicht und verursachte ihm wahre Folterqualen. 

Unter diesen Umständen glaubte ich ihn an den 
Arzt weisen zu sollen und so begab er sich, wenngleich 
nur ungern und mit sehr geringem Vertrauen, zu einer 
Konsultation in die nahe gelegene Stadt. Allein mit dem 
Bescheid, den er hier bekam, war so gut wie nichts ge- 
wonnen; er kehrte mit dem Bewusstsein, einen unnützen 
Gang gemacht zu haben, wieder heim. 



— 172 — 



Zur nämlichen Zeit wurde ihm der Antrag gestellt,, 
die Chefredaktion eines katholischen Tageblattes zu über- 
nehmen. Mit Rücksicht auf seine ebenso gefährlichen 
als qualvollen Verhältnisse lehnte er unverzüglich ab 
und reiste kurz darauf nach H., wo er sich mit einem in 
weitern Kreisen bekannten, durch Erfahrung und Gelehr- 
samkeit ausgezeichneten Jesuiten besprach. Dieser empfahl 
ihm zunächst einen energischen Gebrauch gewisser reli- 
giöser Mittel, fand sich aber bald veranlasst, ihm einen 
anderen Vorschlag zu machen. Er erklärte dem Be- 
dauernswerten, dass ihn nach seiner Ansicht nur 
ein operativer Eingriff den grossen Gefahren,, 
worin er unablässig schwebe, entziehen und 
von den fortgesetzten, für die Dauer unerträg- 
lichen Plagen befreien könne. Der herbeigerufene 
Hausarzt, der offenbar schon verständigt war, äusserte 
sich im nämlichen Sinn und betonte, dass es sich um 
keine Kastration, sondern um einen operativen Eingriff" 
anderer Art handle. Allein der junge Mann schrak da- 
vor zurück und bat sich Bedenkzeit aus. Er besprach sich 
über die Angelegenheit mit zwei angesehenen Aerztcn 
des Ortes, und beide rieten ihm entschieden davon» 
ab; die Folge war, dass die Operation unterblieb. 

Nun empfahl ihm der hochwürdige Jesuitenpater,, 
sich säkularisieren zu lassen, und nachdem dies 
geschehen, einen Beruf zu ergreifen, der seine ganze Auf- 
merksamkeit und sein ganzes Interesse absorbierte, ihn 
unausgesetzt in Thätigkeit erhielte und so zu sagen nicht 
mehr an sich selber denken liesse. Er schrieb als Beicht- 
vater sofort ein Gesuch und leitete dasselbe — tecto- 
nomine — an die römische Pönitentiarie. Diese aber 
entschied: „Neminem tentari posse supra vires* und ver- 
weigerte die Dispens. Nun war guter Rat teuer. Der 
geplagte Mann wendete sich, ohne lang zu überlegen 
und in der Stimmung desjenigen, der doch nicht mehr 



— 173 — 



viel verlieren zu können glaubt, an einen durch sein 
weites Gewissen nicht eben vorteilhaft bekannten Arzt. 
„Befreien Sie mich von meiner Plage,* sagte er 
ihm, ,,mag es auch gehen, wie es will. Ich heisse 
schon im Voraus gut, was Sie mit mir beginnen. 
Wenden Sie an, was Sie für wirksam halten". 
Er wurde nun äusserlich und innerlich behandelt, mit 
dem Erfolg, dass sich der übermächtige Drang wirklich 
verlor, aber auch mit dem Erfolg, dass er seine Gesund- 
heit einbüsste. Er behauptet, namentlich geistig schwer 
gelitten zu haben, und wird an den Folgen wohl sein 
Lebtag tragen müssen. — Die Adresse des hoch- 
würdigen Jesuitenpaters, der auf Wunsch 
seiner Siegelpf licht entbunden wird, steht zur 
Verfügung. 

Diese drei Beispiele mögen genügen. 

Ob ich endlich bestätigen könne, dass die homo- 
sexuelle Empfindung als solche keinen Schluss gestatte 
auf den sittlichen Wert oder Unwert eines Menschen? 
Das kann und muss ich bestätigen. Ja, ich muss sogar 
bemerken, dass gerade auffällig ideal und vornehm ange- 
legte Naturen sehr gern mit der in Rede befindlichen 
Geschlechtsrichtung behaftet sind. 

So viel zur Antwort auf die Fragen des wissen- 
schaftlich-humanitären Komitees. 

II. 

In Erledigung der Anfragen des wissenschaftlich- 
humanitären Komitees beehre ich mich mitzuteilen, dass 
die Aktion zur Beseitigung des § 175 als durchaus be- 
rechtigt anerkannt werden muss. Ich stehe seit Jahren 
in der Seelsorge und kann bezeugen, dass es nicht wenig 
Menschen giebt, denen von Natur aus die Leidenschaft 
zum eigenen Geschlecht, und nur zum eigenen Geschlecht, 



— 171 — 



eingepflanzt ist. Desgleichen kann ich bezeugen, das» 
eine noch grössere Zahl von Menschen, Männern sowohl 
als Frauen, mannigfach abgestufte bisexuelle Anlagen 
aufweist Diese homogene Empfindung trifft man in 
allen Ständen, in den obersten wie in den niedrigsten,, 
am meisten vielleicht unter dem Klerus. Die Heftigkeit, 
mit welcher sie zur Bethätigung drängt, ist selbstverständ- 
lich verschieden. Sie kann gemässigt und in schwächeren 
Formen auftreten, sie kann aber auch den Charakter 
eines elemeutaren Dranges annehmen. Einen Schluss auf 
den sittlichen Wert des Menschen gestattet sie nicht. 

Angesichts desseu mögen es sich die christlichen. 
Parteien des Reichstags wohl überlegen, den § 175 noch 
weiter aufrecht zu erhalten! Namentlich mögen sie 
es wohl überlegen, diesen Paragraphen auf- 
recht zu erhalten unter Berufung auf Religion, 
und Christenthum! 

Der Homosexuelle ist für die Gefühlsanlage, welchc- 
ihm der Schöpfer verliehen hat, ebenso wenig verant- 
wortlich als ein anderer Mensch für die seine. Er hat 
sich den Trieb zum eigenen Geschlecht nicht gegeben 
und kann ihn sich auch nicht nehmen. 

Die Heftigkeit, mit welcher seine Natur Befriedigung- 
heischt» geht oft weit über das gewöhnliche Mass und 
verursacht ihm zuweilen völlige Qualen. 

Selten oder nie hört er ein Wort liebevoller Mahnung,. 
Warnung und Ermunterung, das seiner individuellen 
Eigenart, seinen moralischen Bedürfnissen, seinen Ge- 
fahren und Versuchungen angepasst wäre. 

Rings um sich sieht er Tag für Tag, wie alle Welt 
dem Götzen des Fleisches huldigt und „Lieben* mit 
„Leben* identifiziert. 

Eine Aussicht endlich, sich jemals rechtmässig be- 
friedigen zu können, giebt es für ihn nicht. 



— . 175 - 



Mau erwäge die sittliche Tragik einer solchen LageT 
Man erwäge, wie notwendig ein solcher Mensch besonderer- 
Liebe, besonderer Rücksicht, Geduld und Milde bedarf, 
wenn er, nachdem ihn seine Schwäche zum Fall gebracht,, 
sich innerlich wieder erheben, wenn er neues Vertrauen 
fassen, wenn er nicht schliesslich, entmutigt und verbittert 
zugleich, erst recht verwahrlosen soll! Unter diesen* 
Umständen nun den Heterosexuellen, wie masslos und 
wie cynisch er auch der Unzucht fröhnen mag, vollkommen 
straflos lassen, den Homosexuellen dagegen schon um eines 
einzigen Fehltritts willen als Verbrecher behandeln, ihn vor 
Gericht schleppen und ins Zuchthaus sperren, ihn der- 
Schande preisgeben und gesellschaftlich zu Grunde 
richten, das wird man doch wohl als eine Verirrung der- 
Justiz bezeichnen müasen. 

Um so mehr als damit, wie bereits angedeutet, auch 
für die Sittlichkeit nichts gewonnen ist. Der Sittlichkeit 
dienen wir dann, wenn wir uns bemühen, die Menschheit 
mit den ewigen Wahrheiten des Glaubens zu durch- 
dringen, sie mit dem Geist der Gottesfurcht zu erfüllen 
und ihr echte, lebendige Religiosität einzupflanzen; aber- 
nicht mit Strafgesetzen, wie § 175 eines ist! Dadurch 
kann man unter Umständen weit eher entgegengesetzte 
Wirkungen erzielen: Verzweiflung an der menschlichen* 
Gerechtigkeit, Erbitterung gegen staatliche und kirchliche 
Ordnung,antireligiöse und antimoralische Umsturzgedanken. 
Wer nicht aus Gewissensgründen entsagt und verzichtet,, 
wird einen solchen Trieb niemals unbefriedigt lassen, um 
so weniger, als er Gelegenheiten im Durchschnitt zur- 
Genüge findet und von hunderttausend Fällen vielleicht 
einer vor den Strafrichter gelangt. Freilich, wenn man 
glaubt, die homosexuelle Empfindung eines Menschen 
führe sich auf dessen freien Willen zurück, dann mag 
man solche Mittel für wirksam halten! Wenn man 
von den realen Verhältnissen keine Kenntnis- 



— 176 — 



-besitzt! Dann ja. Allein am wirklichen Stand der 
Dinge ist damit nichts geändert 

Man erwäge ferner wohl, ob es klug und ratsam sei, 
eine Agitation zu veranlassen, wie sie der längere Bestand 

•des §175 ganz notwendig zur Folge haben muss. Die 
Anstrengungen zur Befreiung der Homosexuellen werden 
sich bis zur äussersten Intensität steigern, die Literatur 

«Uber konträre Geschlechtsrichtung wird unablässig wachsen 
und ihren Weg in die weitesten Kreise finden, die pein- 
lichsten Erörterungen werden sich immer mehr auf die 

'Tagesordnung der akademisch und populär wissenschaft- 
lichen Diskussion drängen. Man wird im Schutt der 
Geschichte nachgraben und gewisse Dinge an den Tag 
fördern, die viel besser mit Vergessenheit bedeckt blieben 
man wird die homosexuellen Schwachheiten von Päpsten, 
Bischöfen und Priestern ans Licht rücken, man wird zu- 

Jetzt Enthüllungen aus der unmittelbaren Gegenwart 
machen und vielleicht Männer blossstellen, deren In- 
famation ein allgemeines, öffentliches Aergernis bedeutet. 
Alle Mittel, die zur Beseitigung des Paragraphen er- 
forderliche Stimmung zu schaffen, werden versucht, alle 
Kräfte im Kampf gegen ein Strafgesetz,- das man als 
schreiendes Unrecht und als furchtbare Beschimpfung 

-empfindet, aufgeboten werden. Kann eine solche Agitation 

-dem sittlichen Empfinden des Volkes zum Vorteil ge- 
reichen ? 

Endlichdarfnichtvergessen werden, dass sich gegenwär- 
tig, gerade durch den Druck des § 175 veranlasst, innerhalb 
-ausgedehnter homosexueller Kreise eine Art von Organisation 
vollzieht. Was nun dann, wenn eines Tages von irgend 
welcher Seite in diesen Haufen ein antichristliches, anti- 
religiöses Losungswort hineingeworfen wird ? Was dann, 
wenn man sagt: „Das Christentum hat für homosexuell 
Veranlagte keinen Platz. Es weiss sie nur zu schmähen 
-und zu beschimpfen. Es verneint ihre mächtigsten, inten- 



— 177 — 



sivsten Gefühle und will sie demgemäss durch ein eigenes 
Oesetz als entartete Individuen, als Frevler an der Natur 
und übersättigte Wüstlinge gebrandmarkt sehen? • Was 
-dann, wenn auch die homosexuelle Priesterschaft schliess- 
lich anfängt, sich gewisse Fragen zu stellen? Dazu aber 
muss es früher oder später kommen, wenn man nicht 
aufhört, diesen Menschen im Namen des Christentums 
unablässig den Vorwurf sittlicher Verworfenheit ins Ge- 
sicht zu schleudern, wenn man im Namen des Christentums 
beharrlich einem Ausnahmsgesetz das Wort redet, welches 
sich nur dadurch begründen lässt, dass man — im 
grellsten Widerspruch mit den Thatsachen — alle homo- 
sexuelle Empfindung für ein strafwürdiges Attentat an 
der .Natur, alle Inclination zum eigenen Geschlecht für 
•den Ausfiuss eines entarteten, verbrecherischen Willens 
«erklärt. 

Die homosexuelle Menschheit befand sich bisher in 
•einer eigenen Lage. Es war ihr der Mund geschlossen, 
sie konnte nicht reden. Hände und Füsse waren ihr 
gebunden, sie konnte sich nicht rühren. Nun aber ist 
«ine wesentliche Aenderung eingetreten: Die Wissen- 
schaft hat sich ihrer angenommen und verteidigt ihre 
Ehre. Infolge dessen kann es zu Erscheinungen kommen, 
mit deren Möglichkeit bis jetzt Niemand gerechnet hat. 
Ich warne darum eindringlich davor, diese Menschen, 
«ei es auf legislativem Weg, sei es sonst, noch länger im 
Namen des Christentums zu brandmarken. Wenn man 
den § 175 durchaus aufrecht erhalten will, so möge man 
«es mindestens auf eigene Verantwortung thun. Das ist 
«eine Forderung, die man wohl stellen darf. Dixi et sal- 
vavi animam meam. 

HI. 

Wenn das w.-h. Komitee nicht das christliche Sitten- 
gesetz antastet, so habe ich gegen seine Bestrebungen 

Jahrbuch II. 12 



oichts einzuwenden. Dass es Menschen gibt, welche sieb 
vom eigenen Geschlecht, und oft nur von diesem an- 
gezogen fühlen, ist richtig. Diese Erfahrung kann man 
als Beichtvater öfters machen. Auch gewinnt man zu- 
weilen wirklich den Eindruck, dass solche Personen fast 
mehr mit ihrer Natur zu kämpfen haben als andere; das 
lässt sich nicht leugnen. Dass § 175 deswegen eine 
Ungerechtigkeit bedeutet, muss anerkannt werden. Möge 
er fallen! Allein am christlichen Prinzip darf nie und 
nimmer gerüttelt werden. Das möge das w.-h. Komitee 
wohl zur Kenntnis nehmen. 

IV. 

ad I. Zufolge meiner 35jährigen Praxis in grossen 
Städten (hatte auch zu thun 11 Jahre hing in einer 
Irrenanstalt) bin ich überzeugt, dass es Urninge giebt, 
insbesondere giebt es Menschen, die im höheren Masse 
vom eigenen Geschlechte sich angezogen fühlen. 

ad II. Die besten, gelehrtesten und frömmsten 
Menschen haben manchmal die homosexuelle Anlage; die 
Natur hat ihnen diesen Streich gespielt. Ich bin tiber- 
zeugt, dass manche Menschen in den geist- 
lichen und klösterlichen Stand gerade deshalb 
treten, weil sie von einer Zuneigung zum 
andern Geschlechte nichts wissen und fühlen. 

ad III. Ich bin überzeugt, dass der homosexuell an- 
gelegte Mensch mit seiner Natur sogar einen weit härteren 
Kampf zu kämpfen hat, als der Heterosexuelle. 

Ich selbst gab schon den Rat zur Auswanderung 
in den Orient, woselbst solche Armseligkeiten vom Ge- 
richt nicht bestraft werden. 

Insbesondere schwebt mir der Selbstmord eines be- 
freundeten Mannes vor Augen, welcher erfolgte auf fort- 
währende Erpressungen von Seite eines Malergehilfen, 



— 170 — 



mit welchem im schwachen Augenblick innerhalb der 4 
Wände pecciert worden war. Der Unglückliche hatte 
niemals mit dem andern Geschlechte sich vergangen. 

Ich halte den § 175 des R. Str. G. B. für eine Un- 
gerechtigkeit solchen unglücklich angelegten Menschen 
gegenüber. Wenn Strenge geübt wird den Homosexuellen 
gegenüber, dann soll die nämliche Strenge sich entfalten 
den Heterosexuellen gegenüber. 



V. 

Die vom w.-h. Komitee gestellten Fragen kann ich 
nicht verneinen. Der «Homosexualismus • ist eine Er- 
scheinung, die der kathol. Priester öfters zu beobachten 
Gelegenheit findet. Ob deswegen § 175 abgeschafft 
werden soll, will ich unerörtert lassen; dass er eine In- 
konsequenz in sich schliesst, kann allerdings nicht in Ab- 
rede gestellt werden. 



VI. 

Sie haben in Ihrem Bestreben völlig Recht. Wenn 
der Staat ein Privilegium (Bordelle) und Konzession 
(steuerpflichtige, Einkommensteuer zahlende Hurerei) giebt 
für das weibliche Geschlecht, so ist es nur gerecht, wenn 
Aufhebung des § 175 erfolgen würde. Ich will weder dem 
unzüchtigen Treiben der weiblichen noch der männlichen 
Personen das Wort reden, stelle mich hier nur auf den 
Standpunkt: „Gleiches Recht für Alle*. Zu den ge- 
stellten Fragen folgendes: 

Ad I: Ja. Ich lernte im Laufe der Zeit etliche 
solche in verschiedenen Pfarreien kennen. 

Ad II: Der sittliche Wert oder Unwert des Menschen 
hängt nicht mit der homosexuellen Veranlagung zusammen. 
Ich kenne zwei meiner ehemaligen Pfarrkinder, die homo- 

12* 



— 180 — 



sexuell veranlagt sind und waren diese stets, sowohl n 
der Christenlehre, wie jetzt als Männer Mustervorbilder 
im sittlichen Verhalten. 

Ad III: Der Kampf ist oft ein grösserer, zum min- 
desten aber kein geringerer. Diese meine Wahrnehmungen 
schöpfte ich nicht aus dem Beichtstuhl (wir Priester sind 
aufs Strengste hierin zum Schweigen verpflichtet), sondern 
aus der Beobachtung und aus dem Verkehr mit jenen 
jungen Leuten, die ausserhalb der Beichte mich um Rat 
und Hilfe ansuchten, die ich durch Klarlegung der Sach- 
lage, durch Trost und Ermunterung im Guten zu be- 
festigen suchte. Ohne mich rühmen zu wollen, kann ich 
fcagen: Ich habe durch das richtige Erkennen und Mit- 
fühlen schon Manchen vor Verzagtheit und anderen 
schlimmen Folgen bewahrt. Diese jungen Menschen 
waren auch stets sehr dankbar für die Teilnahme. 



VIL 

Die Bedeutung der Frage, welche Ihr Komite in die 
Oeffentlichkeit hineingeworfen hat, verkenne ich nicht. 
Es handelt sich um eine Anzahl von Menschen, welche 
sich ohne Zweifel in einer bedauerlichen Lage befinden, 
einerseits, weil viele von ihnen fast beständig in occasione 
proxima leben müssen und weil nur selten Jemand für 
ihre sittlichen Nöten Verständnis hat, andererseits, weil 
sie unaufhörlich die Thore des Zuchthauses hinter sich 
knarren hören. Dass hier der Gerechtigkeit, der Seel- 
sorge und der christlichen Liebe noch eine grosse, bisher 
ungelöste Aufgabe wartet, kann ich nach all den Er- 
fahrungen, die ich diesbezüglich gemacht habe, nicht in 
Abrede stellen. Es wäre ganz gewiss besser, wenn man, 
statt hinter diesen Menschen stets mit den Ketten des 
Kerkermeisters zu rasseln, ruhig und besonnen die Frage 
erörtern wollte, wie man denn ihnen ihre exceptionell 



— 181 — 



schwierige Lage erleichtern, wie man sie sittlich heben, 
wie man sie den ärgsten Gefahren entreissen und wirk- 
sam schützen könnte. Denn dass ihr Trieb ebenso der 
Natur entspringt wie der des gewöhnlichen Menschen, 
darüber ist gar kein Zweifel möglich; was mich betrifft, 
glaube ich es nicht bloss, sondern ich weiss es. 



VIII. 

Ich berichte auf Ihre Anfragen, dass es wirklich 
Naturen gibt, und zwar nicht selten, welche weniger vom 
andern als vom eigenen Geschlecht sexuell angezogen 
werden; diese Beobachtung wird wohl jeder Beichtvater 
schon gemacht haben. Auch trifft man Menschen, die 
von einer Neigung zum andern Geschlecht überhaupt gar 
nichts wissen. Das kann ich auf Grund meiner Erfahr- 
ungen bestätigen. 

IX. 

Was Ihre Fragen anbelangt, bemerke ich zur Ant- 
wort, dass die bisherige Auffassung von sexuellen Akten 
zwischen Personen desselben Geschlechts wirklich mit 
grossen Irrtümern verbunden ist. Sie sind, ich will nicht 
sagen, immer, aber doch in sehr vielen, ja zweifellos in 
den allermeisten Fällen ebensosehr das Ergebnis eines 
heftigen Naturtriebs, wie die sexuellen Akte zwischen 
Mann und Weib. Diese Thatsache sollte mau nicht 
länger leugnen wollen; für die Dauer wird es ohnedies 
unmöglich sein. Auch ist es doch ein fürchterliches Be- 
wusstsein für einen solchen „ homosexuellen • Menschen, 
mit dem Stigma einer Verbrechernatur durchs Leben 
gehen zu müssen, selbst wenn ihm sein Gewissen das 
Zeugnis eines unbescholtenen, reinen und ehrbaren Wandels 
ausstellt. Ich selbst habe mein Lebtag niemals auch nur 



— 182 — 



die leiseste Spur einer Empfindung für das andere Ge- 
schlecht in mir wahrgenommen, und trotzdem sind mir 
harte Kämpfe und schwere Versuchungen nicht erspart 
geblieben. Soll ich deswegen vor mir selbst als über- 
sättigter Wüstling und verkommener Mensch charak- 
terisiert sein? Ich glaube, dass es auch hier heissen 
muss: Wahrheit und Gerechtigkeit über Alles! 



X. 

Auf Ihre geschätzte Zuschrift, die Homosexualität 
betreffend, beehre ich mich, gestützt auf meine wissen- 
schaftlichen Studien und 30jährige pastorale Erfahrungen, 
Folgendes zu antworten: 

I. Es giebt einen, allerdings sehr geringen Prozent- 
satz von Menschen, denen kein anderer, als ein gleich- 
geschlechtlicher Trieb innewohnt; weit grösser aber ist 
die Zahl derer, die zwar auch vom anderen Geschlecht, 
in höherem Masse aber vom eigenen sich angezogen fühlen. 

II. Insofern die Homosexualität einen patholo- 
gischen Zustand darstellt, steht dieselbe in keinem Zu- 
sammenhange mit dem sittlichen Wert oder Unwert des 
Menschen. 

III. Da die konträre Geschlechtsempfindung auf 
Krankheit der Psyche beruht, so kämpft der Homo- 
sexuelle wohl meist einen noch härteren Kampf, als der 
Heterosexuelle. 



XI. 

Affirmative ad. I, II und III. Die Sache, auf welche 
sich die drei Fragen Ihres Zirkulars beziehen, ist mir 
sehr wohl bekannt, und ich glaube sogar, dass Männer 
der bezeichneten Richtung keineswegs selten sind. 



— 183 — 



XII. 

Sie wollen wissen, ob es nach meinen Erfahrungen 
„homosexuelle 14 Menschen gibt. Darauf muss ich aller- 
dings mit „ja" antworten; auch die beiden anderen 
Fragen muss ich bejahen. Doch kann, ich die Bemerkung 
nicht unterlassen, dass deswegen die sittlichen Forder- 
ungen des Christentums nach wie vor aufrecht erhalten 
bleiben müssen. 



XIII. 

Auf die drei Fragen Ihres Komitees diene zur Ant- 
wort, dass Menschen, deren Concupiscenz von Natur aus 
auf das eigene Geschlecht, und oft nur auf dieses, ge- 
richtet ist, gar nicht selten anzutreffen sind. Sie haben 
mit sich eben so schwer zu kämpfen wie andere und 
dürfen der blossen Anlage wegen keineswegs als sittlich 
inferior bezeichnet werden. Um jedoch nicht missverstanden 
zu werden, muss ich betonen, dass ich selbstverständlich 
jeden Angriff auf die Normen der christlichen Sittenlehre 
energisch und feierlich zurückweise. 



XIV. 

Wenn das w.-h. Komitee weiter nichts will, als dass 
Unsittlichkeiten zwischen erwachsenen Personen männ- 
lichen Geschlechts künftig nicht mehr in die Oeffentlich- 
keit gezerrt, sondern, wie andere Unsittlichkeiten auch, 
einzig vor das Tribunal der Religion und des Gewissens 
verwiesen werden sollen, so habe ich gegen seine Be- 
strebungen durchaus nichts einzuwenden. Dass es Men- 
schen giebt, die sich ihrer konstitutionellen Beschaffenheit 
gemäss nur vom eigenen Geschlecht angezogen fühlen, 
kann nicht bestritten werden. Ich habe sehr religiös ge- 
sinnte und brave Personen kennen gelernt, welche mit 



— 184 — 



dieser Leidenschaft; einen schweren Kampf zu bestehe» 
hatten. Darum ist § 175 objektiv zweifellos eine Un- 
gerechtigkeit. Ausserdem macht er ganz den Eindruck 
einer officiellen Beschönigung der gewöhnlichen Unzucht* 
Und endlich bestärkt er die öffentliche Meinung in ihrem 
verderblichen Irrtum, dass Rücksichten der Scham nur 
im gegenseitigen Verkehr der beiden Geschlechter, nicht 
aber darüber hinaus, in Betracht kommen könnten. 

Der katholische Schriftsteller Lucas hat sich ent- 
rüstet über die Schamlosigkeit, womit unsere Jünglinge 
unters Mass gestellt werden. Und er hätte sich mit dem- 
selben Recht auch über verschiedene Kasernenbräuche, 
namentlich über die Art und Weise, wie gewisse Unter- 
suchungen vorgenommen werden, entrüsten dürfen. Zahl- 
reiche Seelsorger ereifern sich ferner gegen die Unsitten, 
wie sie zur Sommerszeit auf den freien Badeplätzen an 
unserer männlichen Jugend in Erscheinung treten, warne» 
vor den Doppelbetten, mahnen in der Schule, sich nie- 
mals, also auch unter Geschlechtsgenossen nicht, nackt 
oder halbnackt sehen zu lassen und dergleichen mehr. 
Für all das giebt es aber eigentlich keine Begründung, 
wenn jene Auffassung des sexuellen Lebens, aus welcher 
der § 175 hervorgegangen ist, der Wahrheit und den 
wirklichen Verhältnissen entspricht. Denn in diesem 
Falle gilt: Entartete Individuen wollen keine solchen 
Rücksichten gegen sich geübt sehen und andere bedürfen 
derselben nicht. Die Thatsache leugnen, dass es gleich- 
geschlechtlich organisierte Naturen giebt, heisst somit, 
eine Schädigung des öffentlichen Schamgefühls und darum 
auch eine Schädigung der Sittlichkeit veranlassen, gleich- 
viel, ob nun diese Leugnung in legislativer oder in sons- 
tiger Form geschehe. Deswegen habe ich gegen die Be- 
strebungen des w.-h. Komitees, wie gesagt, nichts einzu- 
wenden, sofern dieselben nur auf Beseitigung des § 17J> 
abzielen. 



— 185 — 



XV. 

Erwidere 

ad I. Scheint richtig zu sein ; indes kommt Derartiges»- 
meine ich, doch nur ganz ausnahmsweise vor. 

ad II. Glaube selbst, dass man da mehr von Krank- 
haftigkeit als von eigentlicher Schlechtigkeit reden muss. 

ad III. Finde ich nicht gerade unwahrscheinlich,, 
namentlich wenn erbliche Belastung vorhanden . . . 



XVI. 

In Erledigung Ihrer vor ein paar Tagen eingelaufenem 
Fragen erwidere ich mit nachfolgenden Bemerkungen: 

1. Der katholische Priester darf die Kenntnis von. 
Dingen, welche er nur im Bussgericht inne geworden hat 
und nicht zugleich auch anderswoher weiss, unter allen 
Umständen verneinen. Ich erkläre daher als Seelsorger- 
nichts bestätigen zu können. 

2. Will bemerken, dass in der Nachbarschaft vor 
etlichen Jahren ein Mann wegen „homosexuellen* Ver- 
gehens verurteilt wurde, von dem ich überzeugt bin, dass 
man ihn schlecht nicht heissen konnte. Es wird also ge- 
schehen können, dass auch sonst rechtschaffene und gut- 
gesinnte Menschen, von einer unglücklichen Leidenschaft 
fortgerissen, einen solchen Fehltritt machen können. 

3. Und demgemäss wird auch die dritte Frage be- 
jaht werden dürfen. 

XVII. 

Ueber den Gegenstand Ihres jüngst versendeten» 
Fragebogens habe ich schon oft nachgedacht, weil mir 
wiederholt zum Bewusstsein gekommen ist, dass auf die- 
sem Gebiet Theorie und Wirklichkeit nicht im Einklang 
stehen. So weiss ich von einem mir befreundeten Amts- 
bruder, dass seine sexuelle Neigung ganz dem eigenen 
Geschlecht zugewendet steht, und zwar mit einer solche». 



— 186 — 



Heftigkeit, dass sie für ihn buchstäblich ein Kreuz bil- 
det. Wie diese Erscheinung aufzufassen ist, vermag ich 
nicht zu beurteilen. Der erwähnte Herr leidet etwas an 
Nervosität, erfreut sich aber sonst, leiblich sowohl als 
. geistig, der vorzüglichsten Gesundheit. Jedenfalls gibt es 
hier noch manches Dunkel aufzuhellen und wäre es un- 
zweifelhaft zu wünschen, dass man an den berufenen 
Stellen daran gehen möchte, diese Frage einmal ruhig und 
leidenschaftslos zu studieren. Denn Wahrheit und Klar- 
heit wären gewiss auch auf diesem Gebiet besser als 
das Gegenteil. 

XVIII. 

Dass es Fälle giebt, wo ein Mensch, obwohl sonst 
vielleicht vollkommen normal, nur für sein eigenes Ge- 
schlecht fleischliche Leidenschaft empfindet, ist mir be- 
kannt. Auch mag es sein, dass solche Fälle öfter vor- 
kommen, als man anzunehmen geneigt ist . . 

XIX. 

Nachfolgendes zur Antwort auf die Anfragen des 
verehrten w.-h. Komitees:' 

Zur ersten Frage. Ich kann bestätigen, dass derlei 
Menschen vorkommen. Man trifft sie ziemlich häufig in 
der Stadt und, vielleicht etwas seltener, auch auf dem 
Lande. Da ich schon frühzeitig von diesen Dingen Kennt- 
nis erhielt, habe ich im Beichtstuhl immer darauf ein- 
gerichtete Ergänzungsfragen gestellt. Ich frage jedesmal, 
wenn von Sünden gegen das 6. Gebot die Rede geht: 
Ist es mit Jemand vom andern oder mit Jemand vom 
eigenen Geschlecht geschehen? Und dabei bediene ich 
mich eines Tones, aus dem der Pönitent entnehmen kann, 
-dass mich Letzteres nicht im Mindesten überraschen 
würde. Im Durchschnitt heisst es dann natürlich: Mit 
Jemand vom andern Geschlecht. Wenn' nun diese Ant- 



— 187 — 



wort nicht ganz schnell und sicher kommt, frage ich 
weiter: Mit Personen vom eigenen Geschlecht gar nicht? 
und befleisse mich womöglich einer noch grösseren Freund- 
lichkeit. Da kommt dann nicht selten ein schüchternes 
^Auch". Ja, es stellte sich schon heraus, dass Sünden 
mit dem andern Geschlecht gar nicht vorgefallen waren, 
sondern nur Sünden solcher Art. Zuletzt erkundige ich 
mich immer nach den Ursachen und Anlässen. Der Ur- 
sachen gibt es dreierlei (nach meinen Erfahrungen näm- 
lich; Andere mögen vielleicht wieder anders urteilen): 
Verführung, Mangel an Gelegenheit, mit Personen vom 
entgegengesetzten Geschlecht zusammenzukommen und 
endlich gleichgeschlechtliche Naturanlage. Letztere Ur- 
sache ist die gewöhnliche; und ich glaube, dass auch in 
•den ersteren Fällen immer ein bischen „Homosexualismus" 
mit unterläuft, nur dass oft bloss leichte, schwache An- 
sätze vorhanden sind. 

Ich bin der Ueberzeugung, dass solche Menschen gar 
nicht besonders selten vorkommen, fürchte aber, dass sehr 
viele von ihnen, weil sie nur von wenigen Beichtvätern 
verstanden und billig beurteilt zu werden hoffen dürfen, 
ihr Leben lang kein aufrichtiges Bekenntnis machen. Aus 
•demselben Grund werden auch die Ansichten der Geist- 
lichkeit über diesen Gegenstand wahrscheinlich sehr weit 
Auseinander gehen. 

Zur zweiten Frage. Diese ist bereits in der ersten 
beantwortet. Die Neigung zum eigenen Geschlecht stammt, 
wie gesagt, in einzelnen Fällen aus der Natur. Seine 
Natur kann sich aber der Mensch nicht selber auswählen; 
•er muss sie nehmen, wie sie ihm gegeben wird. 

Zur dritten Frage. Der geschlechtliche Drang der 
„Homosexuellen" stachelt diese Leute oft dergestalt, dass 
man sie bemitleiden muss. Ich wüsste in dieser Bezieh- 
ung ein Beispiel zu erzählen, das ich nur deshalb uner- 
zählt lasse, weil man mir wahrscheinlich nicht Glauben 



— 188 — 

schenken würde. Eine Abänderung des § 175 halte ich 
darum für eine Forderung der Gerechtigkeit. 

XX. 

Was den objektiven Charakter der in Frage befind- 
lichen Akte anbelangt, hat sich der katholische Christ 
und hat sich namentlich der katholische Priester nach 
dem Urteil seiner Kirche zu richten; wie dieses lautet, 
lehrt jedes Handbuch der Moral. Was die subjektive 
Seite betrifft, so ist es richtig, dass angeborene Perversi- 
täten vorkommen, für welche der Mensch, eben weil sie 
angeboren sind, nicht verantwortlich gemacht werden darf. 
Daher gehört namentlich der geschlechtliche Defekt, wel- 
chem die modernen Gelehrten, wie mir bereits schon 
früher bekannt war, den Namen , Homosexualismus " ge- 
geben haben. Dessen Thatsächlichkeit kann ich im Hin- 
blick auf mehrfache Erfahrungen bezeugen. Ueber den 
dritten Punkt besitze ich kein kompetentes Urteil. 

XXI. 

Ich kann Ihnen mitteilen, dass ich für die von Ihrem 
Komitee vertretene Sache ein volles Verständnis besitze. 
Ich weiss, dass die Motive, von denen Sie sich leiten 
lassen, einer lang verkannten Wahrheit entspringen und 
antworte auf Ihre Fragen mit einem dreifachen „Ja." . . „ 



XXII. 

In Erwiderung auf die mir in den letzten Tagen 
zu Händen gekommenen Anfragen betreffs Homosexualität 
antworte ich, meinem Gewissen und meiner Ueberzeugung 
folgend, unbedenklich 'mit einer Bestätigung. Sie haben 
Recht, ich weiss es. 

§ 175 ist am besten damit charakterisiert, dass man 
sagt: Wenn er nicht da wäre, würde ihn kein Mensch 
vermissen; es käme niemand in den Sinn, ein solche» 



— 189 — 



Strafgesetz einzuführen. Von einem Herrn ist mir be- 
kannt, dass er aus diesem Grund seine Heimat verliess 
und nach Belgien auswanderte. Dort liegt die Macht in 
den Händen einer strengkatholischen Majorität, die jeden 
Tag einen „Urningsparagraphen" schaffen könnte. Doch 
kein Bischof, kein Priester, kein katholisches Blatt, kein 
Abgeordneter, kein Mensch im Lande fordert dergleichen. 
Es kommt gar niemand in den Sinn. Und ähnlich scheint 
es Ihrem Zirkular zufolge auch anderswo zu stehen. Da- 
mit ist unser § 175 nach meiner Ansicht am besten 
charakterisiert. 



XXIII. 

Affirmative ad L, H. und HL 

Die Angelegenheit, welcher Ihre drei Fragen gelten, 
ist ohne Zweifel bedeutsamer, als sie den meisten scheinen 
mag; wir werden uns, ob gern oder ungern, mit ihr be- 
fassen müssen. Mit dem Ausdruck subjektiven Wider- 
willens oder mit hartnäckiger Leugnung von Thatsachen, 
die nun doch einmal nicht aus der Welt zu schaffen sind, 
kommen wir auf die Dauer über solche Dinge nicht hin- 
weg, auch nicht mit der bisher geübten disciplina arcani. 
„Die neue Zeit*, sagt Dr. Schell, „ist so weit fortge- 
schritten, dass sie sich .... vor keiner Fragestellung 
durch irgend einen Skrupel oder irgend eine Rücksicht 
zurückschrecken läset Es kommt längst nicht mehr auf 
die kluge Vorsicht der Theologen an, um etwa zu ver- 
hindern, dass peinliche Fragen aufgeworfen werden. Die 
höchste Weisheit heisst auf geistigem Gebiet heute 
nicht: ,Quieta non movere!', sondern mit allen Kräften: 
,Veritati!' Die Wahrheit gilt eben in der neuen Zeit des 
Forschens und Fragens nicht als eine Sache, der man 
mit kluger Vorsicht möglichst fern zu bleiben hat, sondern 
als der höchste und einzig wertvolle Preis ernsten Ringens." 
Es ist umsonst, heute noch leugnen zu wollen, dass es 



— 190 — 



Menschen gibt, deren sexuelle Gefühlsbewegungen sieb 
ausschliesslich auf ihr eigenes Geschlecht beziehen. Ich 
beispielshalber könnte mich davon durch hundert Argumente 
nicht überzeugen lassen. 

Und auch zwecklos. Denn nach meiner Ansicht kann- 
weder den Interessen der Sittlichkeit, noch denen der 
Religion und der Gesellschaft ein Dienst geleistet sein r 
wenn wir unangenehme Thatsachen kurzer Hand in Abrede 
stellen, statt dass wir sie in kluge Berechnung zögen . . . 

XXIV. 

Ich habe nicht blos im Konfessionale mehrmals solche 
Fälle erlebt, sondern bin auch selbst „homosexuell". 
Gestehe das, weil ich nicht einsehe, warum ich mich 
dessen schämen sollte. Ich könnte mich höchstens für 
meinen Schöpfer schämen, was mich aber weder christlich 
noch vernünftig dünkt. 

Ich halte es für einen traurigen Wahn, wenn man 
den Wert des Menschen danach bemessen will, ob ihm 
der Weiberzopf besser gefällt als das Lockenhaupt des 
Jünglings, und das, obwohl ihm gar keine Wahl gelassen 
ist, sich dafür oder dafür zu entscheiden, und obwohl 
uns doch, ästhetisch betrachtet, an der jungen Männlich- 
keit, und nicht am Weib, die Vollendung menschlicher 
Schönheit entgegentritt. Letzteres ist dargethan durch 
das Urteil der Griechen, die bekanntlich den feinsten 
Schönheitssinn besassen, und noch mehr, noch unwider- 
leglicher durch den gewaltigen Analogiebeweis der Natur. 
(Vergl. die Aesthetik von Jungmann.) 

Schliesslich noch eine Bemerkung über die Art und 
Weise, wie man sich christlicherseits, wenigstens vielfach,, 
zum Homosexualismus stellen zu müssen glaubt: Man 
sträubt sich mit Händen und Füssen dagegen, ihn anzu- 
erkennen. 

Warum denn das ? Es kann nur aus einem von drei 



— 191 — 



Gründen geschehen, entweder aus religiösen oder aus 
naturwissenschaftlichen Motiven oder aus Motiven der 
Utilität. 

Wenn es aus religiösen Motiven geschieht, dann will 
man offenbar ein christliches Dogma darin erblicken, dass 
es keinen angeborenen Homosexualismus geben könne. 
Das aber wäre nach meiner Ansicht äusserst bedenklich. 
Denn wahr ist das Gegenteil und eine ganze 
Menschenklasse empfindet das tagtäglich an 
sich selbst 

Wenn es jedoch aus naturwissenschaftlichen Gründen 
geschieht, dann möchte ich fragen: Wem ist hier mehr 
zu glauben, den Männern der Forschung, die Jahre und 
Jahrzehnte sich mit Untersuchungen über diesen Gegen- 
stand beschäftiget haben oder Denjenigen, die nur das 
eine Argument kennen : Ich weiss davon nichts, ich fühle 
davon nichts, also gibt es so Etwas nicht? Wem ist hier 
mehr zu glauben, Denjenigen, deren ganzes Leben einen 
fortwährenden, oft genug nur allzu deutlichen Beweis 
dafür bildet, oder denen, die sich, um einen Ausdruck 
der Moral zu gebrauchen, in negativer Unwissenheit be- 
finden? 

Geschieht es endlich aus Gründen der Utilität, dann 
huldigen die Betreffenden dem Grundsatz: Der Zweck 
heiligt die Mittel. 

Darum meine ich: Der Homosexualismus soll christ- 
licherseits nicht geleugnet, sondern es soll mit ihm ver- 
nünftig gerechnet werden. Wer das nicht will, 
mag sich mit einer Interpellation an den Schöpfer wenden, 
— denn das ist die richtige Adresse — und mag bean- 
tragen, dass solche »Aergernisse* künftig unterbleiben 
sollen. Wenn der Schöpfer darauf eingeht, gut. Wenn 
er aber nicht darauf eingeht, so wäre es gewiss am Platz, 
den Zorn dafür nicht mehr länger an armen Menschen, 
auszulassen. 



— 192 — 



Endlich noch die Ausführungen eines auch in her- 
vorragender Weise literarisch thätigen Geistlichen, der 
.sich in seinem beigefügten Brief selbst als homosexuell 
-empfindend bekennt: 

XXV. 

Ich erblicke in dem Umstand, dass Sie mit dieser 
Angelegenheit an den kathol. Klerus herantreten, einen 
Beweis für die Lauterkeit Ihrer Absichten, und halte 
mich in Würdigung der sittlichen, wissenschaftlichen und 
-allgemein menschlichen Bedeutung des Gegenstandes ver- 
pflichtet, mich zur Sache zu äussern. 

Ich antworte: 

ad I. affirmative. Schon lange in der Seelsorge 
thätig, namentlich viel mit Männerseelsorge beschäftiget, 
kann ich die Existenz sothan gearteter Naturen ganz 
•decidiert bestätigen. Ich lernte von Homosexuellen 
kennen: Einen Fabriksarbeiter, einen Gesellen — Senior 
-eines kathoL Gesellenvereins — , einen Bauernknecht, 
-einen Professor, eine Sprachenlehrerin u. a. m. Ge- 
schlechtszwitter fand ich noch öfter. 

Darüber sind nun freilich die meisten erstaunt. Aber 
streng genommen haben wir dazu eigentlich gar keinen 
•Grund, so lange wir vom Wesen des Geschlech ts- 
triebes nicht mehr wissen als heute. 

ad II. affirmative. Die landläufige Beurteilung der 
Homosexuellen beruht, wie Sie ganz richtig sagen, auf 
-einem fundamentalen Irrtum. Man wirft sie zusammen 
mit jenen Individuen, die trotz normaler oder fast nor- 
maler Anlagen auf eingeschlechtliche Befriedigung aus- 
gehen, Individuen, die zwar zum Glück nur selten, aber 
-doch immerhin dann und wann anzutreffen sind. Der 
Urning kann nicht anders fühlen, als er fühlt, und alle 
diejenigen, welche ihn jetzt mit tiefster Verachtung be- 
handeln zu müssen glauben, würden ganz genau wie er 



— 193 — 



empfinden, wenn sie vom Schöpfer eine gleiche Natur 
erhalten hätten. 

Es giebt keinen Grad von Intelligenz und 
keinen Grad sittlicher Tüchtigkeit, durch den 
eine homosexuelle Gefühlsrichtung ausge- 
schlossen wäre. 

ad III. affirmative. Der Kampf ist oft schwer genug 
und im Durchschnitt ganz gewiss nicht mit weniger Opfern 
verbunden als derjenige des Heterosexuellen. 

Die Beseitigung, beziehungsweise eine Abänderung 
des § 175 darf daher mit vollstem Recht gefordert werden. 

Nun verweist man aber auf die Bibel und sagt: 
„Nach christlichen Begriffen sind das doch ganz besonders 
schreckliche Sünden, Sünden, die zum Himmel schreien 
und wider die Natur gehen. So steht es deutlich aus- 
gesprochen in der heiligen Schrift." 

Was ist darauf zu antworten? 

Darauf ist zu antworten, dass dies in der 
heiligen Schrift weder deutlich noch undeut- 
lich ausgesprochen steht, sondern dass für eine 
solche Auffassung in Wahrheit so gut wie 
keine biblischen Unterlagen vorhanden sind. 

Eine kritische Erwägung liefert den Beweis. 

Die ersten Stellen, mit denen wir uns zu beschäftigen 
haben, sind enthalten im 3. Buch Mosis (20, 13 und 18, 22). 
Sie lauten: „Wenn jemand bei einem Manne schläft als 
wie bei einem Weib, die haben beide einen Greuel ge- 
than, sie sollen des Todes sterben ; ihr Blut sei auf ihnen.* 
Und: „Du sollst nicht mit einem Manne dich vermischen 
wie mit einem Weib, weil das ein Greuel ist.* 

Was geht nun aus diesen Stellen hervor? 

Aus diesen Stellen geht hervor, dass ein- 
geschlechtliche Akte immer sündhaft und un- 
sittlich bleiben, durchaus aber nicht, dass sie 
für jedermann widernatürlich und in allen 

Jahrbuch II 13 



— 194 — 



Fällen sündhafter sind als unzüchtige Werke 
zwischen Mann und Weib. 
Inwiefern? 

Zum Ersten bleibt es einmal an und für sich voll- 
kommen zweifelhaft, ob hier von jeder sexuellen Be- 
thiltigung zwischen männlichen Personen die Rede geht 
oder aber nur von derjenigen, die ganz analog dem nor- 
malen Cohns geschieht. „Qui dormierit cum raasculo 
ooi tu fem ine o" . . . . „Cum masculo non commiscearis 
ooitu femineo* heisst es im lateinischen Text. 

Zum Zweiten bietet der Ausdruck „Greuel" über- 
haupt keinen Grund, auf eine mehr als gewöhnliche 
Sündhaftigkeit zu schliessen. Denn ein Greuel ist vor 
Gott eine jede Todsünde, nach biblischer Ausdrucks- 
weise sowohl als nach allgemein christlicher Auffassung. 
Als Todsünde aber lehrt uns die Religion alle Un- 
keuschheit betrachten, auch die Unkeuschheit zwischen 
Mann und Weib. 

Ueberdies vergleiche man folgende Stellen: „Ich, 
die Weisheit, wohne bei dem Rat . . . . Hoffart und 
Stolz sind mir ein Greuel.* (Spr. 8, 13) — „Ein zwei- 
züngiger Mund ist mir ein Greuel." (Spr. 8 13.) — 
„Lügenhafte Lippen sind dem Herrn ein Greuel." 
(Spr. 12, 22.) — „Du sollst dem Herrn, deinem Gott, kein 
Schaf und kein Rind opfern, daran ein Fehl ist oder 
irgend ein Mangel; denn es ist ein Greuel dem Herrn, 
deinem Gotf (Mosis V. 17, 1.) — „Ein Weib soll 
nicht Mannskleider anthun und ein Mann soll nicht 
Weibskleider anziehen; denn ein Greuel ist vor 
Gott, wer Solches thut." (Mosis V., 22, 5.) — „Was 
hoch ist vor den Menschen, das ist ein Greuel 
vor Gott.* (Luc. 16, 15. ) — „Ein Greuel sind dem 
Herrn böse G edanken." (Spr. 15, 26.) — „Ein Greuel 
für den Herrn ist je£er Hoffärtige.* (Spr. 16, 5.) 
Und ähnlich auch anderwärts. 



— 195 — 



Zum Dritten wäre, selbst wenn es sich umgekehrt 
verhielte, deswegen doch mindestens noch nichts für eine 
absolute. Widernatürlichkeit bewiesen. Denn „ besonders 
sündhaft" und „widernatürlich* sind zwei Begriffe, von 
denen niemand behaupten wird, dass sie sich gegenseitig 
decken. Viel Widernatürliches ist nicht besonders sünd- 
haft und viel besonders Sündhaftes ist durchaus nicht 
widernatürlich. Die beiden Begriffe stehen gewaltig weit 
von einander ab. 

Zum Vierten endlich erklärt die heilige Schrift ein- 
geschlechtliche Akte nicht bloss keineswegs für schwerer 
sündhaft als unzüchtige Werke zwischen Mann und Weib, 
sondern sie stellt vielmehr die erstem und die letztern 
einander gleich. „Si quis dormierit cum nuru sua", heisst 
es III. Mos. 20, „uterque moriatur, quia scelus 
operati sunt: sanguis eorum sit super eos." — „Qui supra 
uxorem filiam duxerit matrem ejus, scelus operatus est: 
vivus ardebit cum eis, nec permanebit tantum nefas 
in medio vestri." — Qui dormierit cum masculo coitu 
feraineo, uterque operatus est nefas, morte moriantur: 
sit sanguis eorum super eos." Und im 18. Kapitel lesen 
wir: „Turpitudinem sororis patris tui non discooperies, 
quia caro est patris tui." — „Turpitudinem sororis matris 
tuae non revelabis, eo quod caro sit matris tuae. 11 — 
„Turpitudinem nurus tuae non revelabis, quia uxor filii 
tui est." — »Turpitudinem uxoris fratris tui non reve- 
labis, quia turpitudo fratris tui est." — „Sororem uxoris 
tuae in pellicatum illius r.on accipies, nec revelabis tur- 
pitudinem ejus adhuc illa vivente." — „Cum uxore 
proximi tui non coibis nec seminis commixtione macula- 
beris.* — „Cum masculo non commiscearis coitu femineo, 
quia abominatio est/ — „Custodite legitima raea atque 
judicia et non faciatis ex omnibus abominat ionibus 
istis, tarn indigena quam colonus. Omnes cnim 
«xecrationes istas fecerunt accolae terrae, qui fuerunt 



— 196 — 

ante vos, et polluerunt eam. Omnis anima, quae fecerit 
de abom inationibus his quippiam, peribit de medio 
populi sui.* Und schliesslich noch Mosis V, 22, 13, 
20, 21 sowie Job 31, 9, 10,11 : „Si duxerit vir uxorem, . . 
et non est in puella inventa virginitas, ejicient eam extra« 
fores domus patris sui et lapidibus obruent viri 
civitatis illius, et morietur: quoniam fecit nefas in 
Israel, ut fornicaretur in domo patris sui.* — „8i decep- 
tum est cor meum super muliere, scortum alterius sit uxor 
mea et super illam incurventur alii: Hoc enira nefas 
est et iniquitas maxiraa.' 

Wie man sieht, sind hier beide Arten von Unkeusch- 
heit ganz mit den nämlichen Ausdrücken und durch die 
nämlichen Strafen charakterisiert. Die Haltlosigkeit der 
hergebrachten Exegese liegtsomit unwidersprechlich am Tag. 

Die zweite Bibelstelle, worauf man sich beruft, ist 
enthalten im 1. Buch Mosis und bezieht sich auf den 
Untergang von Sodom und Gomorrha. Sie lautet: 

„Und die zwei Engel kamen gen Sodoma abends, da 
Lot im Thore der Stadt sass . . . Und da drang er gar 
sehr in sie, dass sie einkehrten bei ihm; und er machte, 
nachdem sie eingekehrt in sein Haus, ein Mahl und buck 
ungesäuerte Kuchen. Und sie assen. 

Aber ehe sie sich legten, umgaben die Männer der 
Stadt das Haus, vom Knaben bis zum Greis, das ganze 
Volk zusammen. 

Und sie riefen den Lot und sprachen zu ihm: Wo 
sind die Männer, so zu dir gekommen diese Nacht? 
Führe sie heraus, dass wir sie erkennen. 

Und Lot ging hinaus zu ihnen, schloss die Thür 
hinter sich und sprach: 

O meine Brüder, ich bitte, thuet doch dieses Uebel 
nicht! Ich habe zwei Töchter, die noch keinen Mann 
erkannt; ich will sie herausführen zu* euch, und miss- 



— 197 — 



brauchet sie, wie es euch gut dünkt. Nur diesen Männern 
füget kein Leid zu, denn sie sind eingegangen unter den 
Schatten meines Daches. 

Und sie drangen auf Lot sehr heftig ein, und schon 
war es nahe, dass sie die Thür erbrachen. 

Und siehe, die Männer streckten ihre Hand heraus 
und zogen Lot zu sich hinein und verschlossen die Thüre. 

Und die, welche draussen waren, schlugen sie mit 
Blindheit vom Kleinsten bis zum Grössten, so dass sie 
die Thür nicht finden konnten. 

Zu Lot aber sagten sie : Wir wollen diesen Ort ver- 
tilgen, weil sein Geschrei ist gross geworden vor dem 
Herrn, der uns gesandt hat, sie zu verderben.* (19, 1 — 13.) 

„Und der Herr regnete über Sodoma und Gomorrha 
Schwefel und Feuer vom Himmel herab und kehrte diese 
Städte um, und die ganze Umgegend, alle Bewohner der 
Städte und alles, was grünte auf Erden'" (19, 24, 25.) 

Wir wissen somit, dass Sodom und Gomorrha der 
göttlichen Strafgerechtigkeit zum Opfer fielen, und wenn 
wir noch die Stelle heranziehen: „Sicut Sodoma et 
Gomorrha et finitimae civitates simili modo exfornicatae 
et abeuntes post carnem alteram, factae sunt exemplum, 
ignis aeterni poenam sustinentes" ( Jud. 7), so ergiebt sich, 
dass die Zerstörung der genannten Städte speziell auch 
mit den eingeschlechtlichen Sünden zusammenhing, denen 
ein Teil ihrer Bewohner ergeben war. 

Was folgt nun daraus? Folgt daraus, dass jede 
sexuelle Bethätigung, die zwischen Personen des näm- 
lichen Geschlechtes stattfindet, als ein Frevel wider die 
Natur und als ein völliges Verbrechen angesehen werden 
muss? 

Die Antwort lautet: Nicht im mindesten. 
Zum Ersten, weil niemand sagen kann, ob die Strafe 
nicht mehr dem „Wie" als dem „Was", nicht mehr 



— 198 — 



der monströsen Schamlosigkeit, dem raffinierten, 
cynischen Modus, der Gewalttätigkeit und 
Masslosigkeit, womit in Sodoma diese Sünden be- 
gangen worden zu sein scheinen, als den Sünden selber 
gegolten hat. Oder weiss das jemand? 

Zum Zweiten, weil sich unmöglich nachweisen lässt, 
dass die Bestrafung Sodoms nicht auch um noch anderer 
Ursachen willen erfolgte, oder vielmehr, weil die heilige 
Schrift ausdrücklich erklärt, dass dieses Strafgericht 
auch auf andere Ursachen, und in erster Linie 
auf andere Ursachen zurückzuführen ist „Haec 
fuit", spricht Gott durch den Mund Ezechiels, „ini- 
quitas Sodomae: Superbia, saturitas panis et 
abundantia, otium ipsius et filiarum ejus, et 
manum egeno et pauperi non porrigebant. Et 
elevatae sunt et fecerunt abominationes coram 
me, et abstuli eas, sicut vidisti." (Ezechiel 16, 
49 — 50.) Und im Buche Sirach lesen wir: „Et nou 
pepercit (Deus) peregrinationi Lot et execratus 
est eos prae superbia verbi illorum.* (16,9) 

Angesichts dessen sind wir ausserstande, 
zu konstatieren, was für einen Anteil die ein- 
geschlechtlichen Sünden an dem Untergang 
Sodomas gehabt haben mögen, und darum auch 
ausserstande, von der Strafe auf den Grad der 
moralischen Schuld zu schliessen, ganz abge- 
sehen davon, dass Dies schon an und für sich 
nicht möglich wäre. Denn ein zeitlich Bestrafter, 
beziehungsweise ein zeitlich schwer Bestrafter 
kann sich viel geringerer Sünden schuldig ge- 
macht haben, als ein zeitlich nicht, beziehungs- 
weise ein zeitlich nur wenig Bestrafter. 

Zum Dritten, weil die Unzucht zwischen 
Mann und Weib nicht m inder ihre Strafe findet 
und weil sie dieselbe nach dem Bericht der 



— 199 — 



Bibel wiederholt ganz sichtlich und auffällig 
gefunden hat. Die Zeitgenossen Noahs ergaben sich 
der Wollust mit den „Töchtern der Menschen" und 
wurden dafür gestraft. (Mosis I, 6, 1, 2, 3). Die Israeliten 
versündigten sich mit Weibern und wurden dafür gestraft. 
„Lasset uns nicht Hurerei treiben", sagt der Völker- 
apostel im 1. Brief an die Korinther, Ä wie einige von 
unsern Vätern Hurerei trieben und (von denen) an einem 
Tag dreiundzwanzig tausend umkamen." (10, 8.) Andere 
vergingen sich in ähnlicher Weise und wurden dafür gestraft. 

So begegnen wir der göttlichen Züchtigung eben so 
gut auch hier. 

„Als die Menschen", heisst es im 6. Kapitel der 
Genesis, „anfingen, sich zu mehreo auf Erden, und Töchter 
zeugten, da sahen die Kinder Gottes die Töchter 
der Menschen, wie sie schön waren, und nahmen 
sich zu Weibern aus allen, wie sie nur wollten. 

Und Gott sprach: Mein Geist soll nicht ewig- 
lich im Menschen bleiben; denn er ist Fleisch, 
und es sollen seine Tage hundertundzwanzig 
Jahre sein. (Das heisst: Er ist fleischlich gesinnt, und 
es soll über ihn nach Ablauf von 120 Jahren, wenn er 
sich bis dahin nicht bekehrt, die Strafe hereinbrechen. 

Cf. „Die heilige Schrift" von AUioli.) Und es 

wurde vertilgt alles Fleisch, das sich auf der 
Erde regte; die Vögel, die Tiere, das Vieh und 
alles Gewürm, das auf der Erde kriecht, alle 
Menschen und alles starb, worin Odem des 
Lebens war auf Erden. 

Also vertilgte Gott jegliches Wesen, das 
auf der Erde war, vom Menschen bis zum Vieh, 
das Kriechende sowohl als das Geflügel des 
Himmels, und es wurde vertilgt von der Erde; 
nur Noe blieb übrig und die mit ihm in der 
Arche waren." (Mosis I. 7) 



— 200 — 



Das furchtbarste Gottesgericht, das jemals über die 
Welt gekommen, hat somit wesentlich der heterosexuellen 
Fleischeslust gegolten. 

Endlich noch zum Vierten, weil wir durchaus 
kein Recht haben, die eingeschlechtlichen Sünden 
der Sodomiter ohneweiteres zu identificieren 
mit den eingeschlechtlichen Sünden überhaupt. 
Der Grund liegt darin, dass solche Acte, wenngleich 
sie in der Regel einer unabänderlichen Eigen- 
art physischen Lebens entspringen, ausnahms- 
weise doch auch als Folge sexuellen Mutwillens und 
moralischer (Korruption vorkommen können. Sind sie im 
ersteren Fall subjektiv natürlich, so sind sie im letzteren 
subjektiv widernatürlich und müssen darum wesentlich 
verschieden beurteilt werden. Was es mit den ein- 
geschlechtlichen Sünden der Sodomiter für ein 
näheres Bewandtnis hatte, darüber spricht sich 
die Bibel nicht aus. 

Nun aber entgegnet man vielleicht: Hat denn nicht 
Lot gesagt: „O meine Brüder, ich bitte, thuet doch dieses 
Uebel nicht! Ich will meine zwei Töchter herausführen 
zu euch; nur diesen Männern füget kein Leid zu!*? 
Und hat er damit nicht klar und deutlich zu erkennen 
gegeben, dass er solche Sünden für ungleich schwerer 
halte, als irgendwelche unzüchtigen Werke zwischen Mann 
und Weib? 

Die Antwort lautet: Nein. Denn Lot wehrte den 
Sodomitern nicht, weil sie sich an Männern, sondern 
weil sie sich an seinen Gast fr eun den vergreifen wollten, 
die er den morgenländischen Traditionen gemäss um 
jeden Preis schützen zu müssen glaubte. Das geht 
offenkundig aus den Worten hervor, womit er den Vor* 
schlag, seine Töchter zur Verfügung zu stellen, begründete : 
„Nur diesen Männern füget kein Leid zu, denn sie sind 
eingegangen unter den Schatten meines Daches." Das 



— 201 — 



Uebel, von dem er die Sodomiter abzustehen 
bat, war somit nicht der sexuelle Gebrauch von 
Männern, sondern der rohe, frevelhafte Ein- 
griff in die heiligen Rechte der Gastfreund- 
schaft, welcher dem Morgenländer bekannt- 
lich noch heute als eines der grössten Ver- 
brechen erscheint. 

Indessen selbst wenn es sich anders verhalten hätte > 
was folgte daraus? Es folgte selbstverständlich nichts. 
Denn wie wir die eingeschlechtlichen Sünd en der 
Sodomiter nicht ohneweiteres identificier en 
dürfen mit den eingeschlechtlichen Sünden über- 
haupt, so dürfen wir auch ein Urteil über die 
erstem nicht ohne weiteres identificieren m it 
einem Urteil über die letztern. Und davon noch 
völlig abgesehen: War denn Lot ein Organ gött- 
licher Offenbarung? Oder bürgt vielleicht die 
Inspiration der heiligen Schrift für die Rich- 
tigkeit aller in ihr mitgeteilten subjektiven 
Anschauungen, also beispielsweise auch für 
die Richtigkeit der Anschauung, dass ein Vater r 
um junge Männer zu schützen, seine Töchter 
preisgeben und sogar positiv zur Def 1 oration. 
derselben mitwirken dürfe?! Das wird hoffentlich 
niemand behaupten wollen. 

Für eine besonders schwere, mehr als ge- 
wöhnliche Sündhaftigkeit ist somit nichts be- 
wiesen, nichts durch die Katastrophe, von der 
das 19. K apitel der Genesis berichtet, und nicht» 
durch das Benehmen Lots. 

Aber gesetzt noch den Fall, eine solche Sündhaftig- 
keit wäre bewiesen, wäre es dann deswegen auch schon 
die absolute Widernatürlichkeit? Die Antwort 
haben wir bereits vernommen: Nein. Denn viel Wider- 
natürliches ist nicht besonders sündhaft und viel beson- 



— 202 — 



-ders Sündhaftes ist nicht widernatürlich. Die beiden 
Begriffe stehen gewaltig weit von einander ab. 

Nun könnte es scheinen, wir seien fertig. Allein man 
-deutet auf die Stelle 19,4 und sagt: Soll sich also glau- 
ben lassen, dass die Männerwelt von Sodoma, die junge 
wie die alte, möglicher Weise aus fast lauter Urningen 
•bestand?! Die Bibel meldet ja: ,Ehe sie sich legten, 
umgaben die Männer der Stadt das Haus, vom Knaben 
bis zum Greise, das ganze Volk zusammen/ 

Darauf ist Folgendes zu erwidern : 

Zum Ersten trägt die Stelle 19,4 offenbar hyper- 
bolischen Charakter. Sie klänge sonst äusserst unwahr- 
scheinlich, und wenn die Schrift ein verhältnismässig klei- 
nes Stück Land als die ganze Erde bezeichnen kann, so 
kann sie auch vom ganzen Volke sprechen, wo es sich 
in Wirklichkeit bloss um eine kleine Minorität gehan- 
delt hat 

Zum Zweiten sind wir durchaus nicht berechtigt, auf 
Grund dieser Stelle anzunehmen, alle vor dem Hause 
Lots erschienenen Männer hätten die Absicht gehabt, an 
den beiden Fremdlingen ihre Lust zu befriedigen. Die 
meisten von ihnen mögen wohl nur als Zuschauer ge- 
kommen sein. Denn der Satz: „Und sie riefen den Lot 
und sprachen zu ihm: Wo sind die Männer, so zu dir 
gekommen diese Nacht? Führe sie heraus, dass wir sie 
erkennen* darf selbstverständlich nicht ganz nach dem 
Buchstaben gedeutet werden. Sonst müssten die ver- 
sammelten Sodomiter, jeder für sich, eine vereinbarte 
Formel aufgesagt oder, wie die Kinder in der Schule, im 
Chor gesprochen haben. 

Zum Dritten endlich ist es, wie schon hervorgehoben, 
keineswegs unwahrscheinlich, dass viele Sodomiter in der 
That widernatürlicher Unzucht ergeben waren. 
Individuen, die, obwohl mit normalen, oder vielleicht besser 
gesagt, mit fast normalen Anlagen ausgestattet, trotzdem 



— 203 — 



am eigenen Geschlecht Befriedigung suchen, kommen ver- 
einzelt immer vor und können in Sodoma möglicher Weise 
häufiger zu finden gewesen sein als anderswo. Allein was 
ist damit gegen den Homosexualismus, was gegen die 
Homosexuellen bewiesen ? Die widernatürlicheWoll- 
lust Sodomas war nicht die Wollust der sodo- 
mitischen Urninge und die Wollust der sodo- 
mitischen Urninge war subjektiv nicht wider- 
natürlich. 

Nun ist auch schon dargethan, wie die Stellen Richter 
19, 22—25 und Röm. 1, 26—27 aufgefasst werden wollen. 

Letztere bezieht sich auf die vorchristlichen Heiden- 
völker und lautet: 

„Darum überliess sie Gott schändlichen Lüsten ; denn 
ihre Weiber vertauschten den natürlichen Gebrauch mit 
dem, der wider die Natur ist. 

Und desgleichen verliessen auch die Männer den 
natürlichen Gebrauch des Weibes und entbrannten in 
ihren Begierden gegen einander, indem sie, Männer mit 
Männern, Schändlichkeit trieben und so den Lohn, der 
ihrer Verirrung gebührte, an sich selbst empfingen. 4 

Was will der heilige Paulus damit sagen? Er will 
sagen, dass manche, dass verhältnismässig viele 
von den alten Heiden trotz normalsexueller 
Anlagen eingeschlechtlicher Unzucht ergeben 
waren. Das aber zu bezweifeln liegt für niemand irgend 
ein Anlass vor. Gleiches gilt von der Stelle Weish. 14, 
26, während die sonstigen Aussprüche über unsern Gegen- 
stand, die sich in der-Bibel noch finden, nicht mehr weiter 
in Betracht kommen können. 



— 204 — 



Welche Stellung hat die christliche Kirche 
zu der gleichgeschlechtlichen Liebe und ihrer 
staatlichen Bestrafung einzunehmen? 

Von einem evangelischen Theologen. 



Angesichts der wichtigen modernen Bewegung, welche 
aus rein medizinischen und juristischen Gründen die 
Aufhebung gesetzlicher Strafbestimmungen gegen solche 
Personen männlichen Geschlechtes bezweckt, die ihren 
angeborenen konträrsexuellen Trieb zu Personen desselben 
Geschlechtes ohne Verletzung der Rechte anderer be- 
friedigen, dürfte es vielleicht nicht uninteressant sein, ein- 
mal die Frage näher zu beleuchten, wie sich die christ- 
lich-evangelische Kirche zu der Bethätigung angeborener 
konträrer Sexualempfindung und ihrer gegenwärtig in 
Geltung stehenden Bestrafung durch den Staat zu 
stellen hat. 

Zunächst, um auf das Grundprinzip alles Protestan- 
tismus zurückzugehen: welches ist der rein biblische 
Standpunkt? 

Dieser ist ein überaus harter und scheint überhaupt 
jede Diskussion von vornherein auszuschliessen, wie denn 
auch z. B. Herr Pastor Schall in durchaus richtiger, weil 
streng konsequenter Verfolgung des reinen Biblicismus 
in der Reichstagsverhandlung vom 19. Januar 1898 das An- 
sinnen einer „ Aufhebung von Strafgesetzen gegen Sodomie" 
mit Energie und unverhehltem Abscheu zurückgewiesen 
hat So wie Gott schon den coitus interruptus des Onan 



— 205 — 



mit dem Tode gestraft hat — Gen. 38,10: „Das gefiel 
dem Herrn übel, das er that, und tötete ihn auch" — > 
wie ein jeder, »Der ein Vieh beschläft, des Todes sterben 
soll" (Exod. 22,19), ebenso heisst es ausdrücklich in 
Leviticus 18,22 „Du sollst nicht bei Knaben liegen wie 
beim Weibe, denn es ist ein Greuel." Dieser Greuel 
-erscheint fast als die alleinige Ursache des Verderbens 
für die früheren Bewohner des Landes, in das die 
Israeliten gezogen waren, denn eben, weil sie durch solchen 
Greuel das Land verunreinigt haben, sagt Lev. 18,29 
„Hat es die Heiden ausgespien, die vor euch waren" und 
darum „welche diese Greuel thuen, deren Seelen sollen 
ausgerottet werden von ihrem Volk" (Lev. 18,29). Die 
Vertilgung Sodoms und Gomorras durch Schwefel und 
Feuer, das der Herr vom Himmel herab regnen lässt 
{Gen. 19,24), erfolgt, weil ein „grosses Geschrei* über 
den Städten ist und „ihre Sünden fast schwer sind 8 
{Gen. 18,20*). Welcher Art aber dieses Geschrei ist, geht 
unzweifelhaft aus dem Vorakt am Abend vor dem Straf- 
gericht hervor, welchen die Einwohner Sodoms an den 
Engeln Gottes, die als Gäste in dem Hause Lots weilen, 
vollziehen wollen. Wie es wörtlich Gen. 19,4,5 heisst: 
„Aber ehe sie sich legten, kamen die Leute der Stadt 
Sodom und umgaben das Haus, jung und alt, das ganze 
Volk aus allen Enden; und forderten Lot und sprachen 
zu ihm: „Wo sind die Männer, die zu dir gekommen sind 
diese Nacht? Führe sie heraus zu uns, dass wir sie er- 
kennen.* Die Sodomer sind sogar auf dieses Beginnen 
so sehr erpicht, dass ihnen Lot vergeblich seine beiden 
bisher unberührten Töchter zur Prostitution darbietet 
{Gen. 19,8), sie sich mit Gewalt die ihnen zusagende 
konträre Befriedigung ihrer Geschlechtslust verschaffen 

*) Die Citation findet der Verständlichkeit und der Nach- 
kontrolle wegen stets nur nach dem deutschen Texte der Lutherischen 
Uebersetzung statt. 



— 206 — 



und die Thtire aufbrechen wollen (Gen. 19, 9), bis die 
Engel dem Treiben ein Ende setzen. Nicht viel anders 
als im Alten Testament ist die Beurteilung der „wider- 
natürlichen Unzucht" — um den gesetzlichen und den 
dem biblischen Beurteiler allerdings durchaus geläufigen, 
wenn auch an sich unrichtigen Ausdruck festzuhalten — 
im Neuen Testamente. Zwar, und das ist hoch bedeut- 
sam, erwähnt unser Herr Christus selbst, der doch 
inbezug auf andere sittliche Punkte, z. B. auf die mit dem 
gegenwärtigen Gegenstande verwandte Frage des Ehe- 
bruchs eine sehr rigorose Aeusserung thut, indem er sagt: 
„Wer sich von seinem Weibe scheidet, der macht, dass« 
sie die Ehe bricht; und wer eine Abgeschiedene freiet r 
der bricht die Ehe* (Matth. 5,32), die Frage der Horn o- 
sexualität auch nicht mit einem Worte. Um so 
mehr macht aber der feurige Paulus dieselbe zu einem 
Gegenstand seiner Betrachtung nnd zwar, was bei ihm, 
dem schriftgelehrten jüdischen Theologen, der zu den 
Füssen des grossen Gamaliel gesessen (Act. 22,3) und ein 
Eiferer „über die Massen gewesen um das väterliche Ge- 
setz* (GaL 1,4), nicht verwundern kann, in rein alt- 
testamentlichem Sinne. Gleichgeschlechtlicher Verkehr 
von Männern oder Frauen unter sich erscheint ihm als 
ein Nachgeben % schändlicher Lüste " (Rom. 1,20), als eine 
Verwendung des natürlichen Gebrauchs in den unnatür- 
lichen (Rom. 1,26), mit dem alles Ungerechte, Schalkheit, 
Geiz, Bosheit, Hass, Mord, Hader, List, Verleumdung* 
Frevel, Hoffart, Unberechenherzigkeit etc. (Röm. 1,29—31) 
Hand in Hand geht, und daher in ganz gleicher Weise 
wie die Automasturbation (Rom. 1,24) als ein Strafgericht, 
das Gott über die Heiden verhängt hat, weil sie Götzen- 
dienerei getrieben, „die Herrlichkeit des unvergänglichen 
Gottes in ein Bild verwandelt haben 44 (Rom. 1,23). Der 
sittliche Standpunkt Pauli ist also insofern ein im Ver- 
hältnis« zu dem alttestamentlichen vertiefter, als nach 



— 207 — 



ihm Sodomie an und für sich schon eine — göttliche — 
Strafe ist, wenn dieselbe freilich auch nach Paulus wieder- 
um eine neue — göttliche und menschliche — Strafe ^ 
nämlich den Tod verdient. (Röni. 1,32) „Die Gottes 
Gerechtigkeit wissen, dass, die solches thun, des Todes 
würdig sind.* 

Dies der biblische Standpunkt. Nun aber die weitere 
Frage: wie ist dieser Biblizismus theologisch und 
kirchlich zu werten? Und da kommen wir ja aller- 
dings zu einer Grundlehre, über die nicht nur die christ- 
lichen Konfessionen, sondern auch die einzelnen Partei- 
. richtungen innerhalb der Konfessionen selbst in heftiger 
Fehde liegen. Ich meine natürlich die Lehre von der 
Inspiration. Es kann hier nicht Aufgabe des Verfassers 
sein, die Grundsätze und Spezialfolgereihen bezüglich 
unseres Gegenstandes für jede einzelne Richtung dar- 
zulegen: eine derartige Auseinandersetzung würde den, 
Rahmen des vorliegenden Aufsatzes weit überschreiten 
und sich in ein rein fachwissenschaftliches, für den Laien 
interesseloses Gebiet verlieren. Ich muss mich vielmehr - 
damit begnügen, hier meinen eigenen Standpunkt wieder- 
zugeben, der allerdings zugleich der Standpunkt der 
Kirchenregierung und eines grossen Teiles der deutschen 
evangelischen Geistlichkeit ist. Der Verfasser ist näm- 
lich ein Anhänger des strengsten Orthodoxismus und hält 
als solcher an der Inspiration derjenigen biblischen Stellen, 
welche sich auf den Glauben an die christlichen Heils- 
wahrheiten beziehen, unverbrüchlich fest. Anderseits aber 
unterscheidet er sehr wohl zwischen dem, was göttlich, 
und dem, was menschlichen Urspiungs in der Bibel ist. 
Als menschlich und unverbindlich gelten ihm in erster 
Reihe diejenigen Begebenheiten und Aeusserungen, die 
lediglich im Rahmen ihrer Zeit uns den Sitten und An- 
schauungen ihrer Zeitgenossen entsprechend von natur- 
wissenschaftlichen und überhaupt dogmatisch und sittlich 



— 208 — 



gleichgültigen Dingen handeln, wie z. B. dem Sechstage- 
werk der Schöpfung, der Drehung der Sonne um die 
Erde, der Dämonenannahme des Herrn Jesus etc., denn 
unser Herr und Heiland ist nicht in die Welt gekommen, 
um allerhand Künste und Wissenschaften zu lehren, 
sondern um Seelen zu retten. Aber zum Teil gilt diese 
Unverbindlichkeit auch für die sittlichen Anschauungen. 
So in hervorragender, vielleicht einziger Weise, von der 
Frage, die uns in dieser Arbeit beschäftigt, der Frage 
des Konträrsexualismus. Da nach den wissenschaftlichen 
Forschungen der neueren und neusten Zeit, auch ganz 
abgesehen von den Selbsterfahrungen der dabei persön- 
lich Beteiligten, von jedem, der sich nicht mit Recht den 
Vorwurf einer groben Unwissenheit auf diesem Gebiete 
zuziehen will, schlechthin nicht bestritten werden kann, 
dass es Tausende von Menschen beiderlei Geschlechtes 
giebt, welche nicht normal, sondern nur konträr ge- 
schlechtlich fühlen, so kann eine konträrsexuale Handlung 
dieser auch schlechthin nicht mehr als eine „widernatür- 
liche", sondern sie muss als eine eben diesen Menschen 
„natürliche" gewertet werden. Hiermit aber fallen die 
Grundvoraussetzungen der oben dargelegten biblischen 
Anschauungen. Das ganze Gebiet entfällt der religiösen 
Beurteilung und geht in das der naturwissenschaftlichen 
über, in ähnlicher Weise, wie die Annahme der Zauberei 
— nach Ex. 22, 18 sollen die Zauberinnen nicht am 
Leben gelassen werden — schon seit langer Zeit fallen 
gelassen ist, wie die christliche Kirche z. B. die sittliche 
Wertschätzung der Vielweiberei bei den Erzvätern, welche 
als ein durchaus tadelloses Institut in der alttestament- 
lichen Anschauungsweise erscheint, nicht teilen kann, und 
wie niemand den Untergang eines Volkes heute auf 
einen gleichgeschlechtlichen Verkehr zurückführen wird, 
da letzterer nachweislich örtlich und zeitlich unbeschränkt 
bei sämtlichen bekannten Völkern sowohl zur Zeit ihrer 



— 209 — 



Blüte als zur Zeit ihres Untergangs geübt worden ist. 
Selbstverständlich wird hierdurch an dem Worte der 
Bibel auch nicht ein Haar gemindert. Die Bibel bleibt 
für uns in gleicher Weise göttliche Offenbarung wie vor- 
her, aber eben Offenbarung nicht über • normales und 
konträres Fühlen, über Perversionen oder Perversitäten, 
sondern über den Glauben an Gott den Vater, an seinen 
eingebornen Sohn Jesum Christum, an die Wunderkraft 
des Heiligen Geistes, über die Frage: „Was muss ich 
thun, dass ich selig werde?*, über die leibhaftige Auf- 
erstehung des Herrn. 

Eine ganz andere Frage ist es endlich, wie sich 
die christliche Kirche, nachdem die unwahren Vor- 
aussetzungen, die der Homosexualität in der Bibel zu 
Grunde liegen, als solche rückhaltdos anerkannt sind, 
zu der staatlichen Bestrafung und zu der sitt- 
lichen Wertung freiwilliger gleichgeschlecht- 
licher Handlungen unter Erwachsenen über- 
haupt zu stellen hat. Ueber die Frage der Bestrafung 
dürfte bei Anerkennung der „Natürlichkeit* solcher 
Handlungen kaum ein nennenswerter Disput entstehen 
da eine solche, wie sie nur auf Grund jener unrichtigen 
Motive gesetzlich fixiert wurde, selbstverständlich un- 
berechtigt ist. Jedenfalls nicht berechtigter als eine Be- 
strafung der Onanie oder jeder sonstigen ausserehelichen 
sexuellen Handlung, auch wohl kaum berechtigter als 
z. B. die bereits oben erwähnte biblisch fixierte und 
staatlich lange geübte Bestrafung der Zauberei. Vom 
Standpunkt der reinen Sittlichkeit jedoch — und eine 
solche hat natürlich jede evangelisch-christliche Kirche 
in hervorragender Weise zu betonen, so sehr sie auch 
mit Recht die Dogmatik als das Primäre auffassen mag 
— muss der homosexuelle Verkehr von Homosexualen 
genau so gewertet werden, wie der heterosexuelle Ver- 
kehr von Heterosexualen. Wie daher jeder normal- 

Jahrbnch II. 14 



— 210 



geschlechtliche Verkehr ausser der Ehe als sittlich 
schlechthin verwerflich betrachtet werden muss, so auch 
der gleichgeschlechtliche Verkehr der Venus vulgivaga, 
selbst wenn derselbe auf einer noch so starken Hyper- 
ästhesie des Geschlechtstriebes beruht. Ein homosexualer 
Verkehr wird daher von der Kirche nur dann als ein 
sittlicher anerkannt werden können, dann aber auch bei 
vorurteilsloser Beurteilung anerkannt werden müssen, wenn 
derselbe auf einer tief eingewurzelten Neigung zu einer 
andern Person des gleichen Geschlechts beruht. Jeden 
homosexualen Verkehr wird die Kirche, wenn sie anders 
der Wahrheit die Ehre geben will, auf die Dauer als 
schlechthin unsittlich nicht errachten können, wenn es 
natürlich auch ihre Pflicht bleibt, wie beim hetero- 
sexuellen so beim: homosexuellen Triebe zu einer Be- 
schränkung und Mässigung, ja, wenn möglich, völliger 
Enthaltung zu mahnen, und auf Keuschheit innerhalb wie 
ausserhalb der Familien durch ihre Organe hinzuwirken. 

Diese drei Punkte also, die rückhaltslose Anerkennung 
des naturwissenschaftlichen Irrtums der Bibel, als gäbe 
es keinen angeborenen Konträrsexualismus, die hierauf 
begründete Verwerfung einer staatlichen Bestrafung gleich- 
geschlechtlicher Handlungen, aber zugleich die sittliche 
Läuterung der Homosexualen, sie sind das Fundament 
der Zukunft, auf welchem in Bezug auf die Frage des 
Uranismus die Kirche weiter zu bauen hat. 




Die Frauenfrage 
und die sexuellen Zwischenstufen. 

Von 

Dr. phil Arduin. 

Soviel auch schon über die Frauenfrage geschrieben 
und diskutiert forden ist, so verschiedenartige und zum 
Teil einander direkt widersprechende Meinungen darüber 
sich geltend zu machen versucht haben: ein Gesichts- 
punkt ist meines Wissens noch nicht zur Erörterung ge- 
langt, der gerade geeignet ist, die tiefe physiologische und 
psychologische Bedeutung der Frage klarzustellen, und 
von dem aus es erst gelingen wird, eine gerechte Ent- 
scheidung in dem Kampfe der Geister um sie herbei- 
zuführen. 

Aus dem Für und Wider, dem bunten Durcheinander, 
das auf dem Kampfplatze herrscht, ragen zwei Auf- 
fassungen der Frauenfrage besonders hervor, die in einem 
gewissen prinzipiellen Gegensatze zu einander stehen, 
in praktischer Beziehung aber vielfach Hand in Hand 
mit einander gehen. Die eine von ihnen entspringt aus 
der allgemeineren Ansicht, dass alle Menschen ursprüng- 
lich gleich veranlagt sind, dass ein wesentlicher und 
unauf hebbarer Unterschied zwischen den beiden Ge- 
schlechtem in ihrer körperlichen und geistigen Leistungs- 
fähigkeit nicht vorhanden ist; dass vielmehr die Unter- 
schiede, die wir zur Zeit und in den Kultur gebieten 

14* 



— 212 — 



der Erde beobachten, nur eine Folge der ungleichen 
sozialen Erziehung sind, die Mann und Weib seit Jahr- 
tausenden genossen haben. Nach dieser Anschauung wird 
es der Frau, wenn sie künftighin gleiche Erziehung, gleiche 
Ausbildung ihrer Kräfte mit dem Manne erhält, gelingen, 
ihm völlig gleichwertig hinsichtlich ihrer Leistungen 
gegenüberzutreten. — Diese Auffassung wird beispiels- 
weise von Bebel in seinem Buche „Die Frau und der 
Sozialismus" verfochten. 

Auf völlig anderer Grundlage erhebt sich die zweite 
der Anschauungen, die ich oben im Sinne hatte. Sie 
lässt es zum mindesten unentschieden, ob oder inwieweit 
die Frau als dem Manne ebenbürtig zu erachten ist. Sie 
knüpft vielmehr, von vornherein an der theoretischen 
Erörterung des im Vorigen gekennzeichneten grundsätz- 
lichen Problems vorübergehend, an die unleugbare That- 
sache an, dass tausende und abertausende von Mit- 
gliedern des weiblichen Geschlechts in einen schweren 
Existenzkampf gestellt werden, indem sie entweder un- 
verheiratet bleiben oder in derartige Eheverhältnisse ein- 
treten, dass sie gezwungen sind, zum Lebensunterhalt 
der Familie wesentlich mit beizutragen. Um sie nun 
nicht schutzlos und ungewappnet diesem Existenzkampf 
preiszugeben, fordern die Vertreter der zweiten Anschau- 
ung eine mehr oder weniger weitgehende Gleichberech- 
tigung der Frauen mit den Männern — ähnlich, wie 
öie auch, jedoch in der Hauptsache aus anderen Gründen, 
von den Anhängern der ersten Auffassung verlangt wird. 

Im Sinne der zweiten Anschauung ist die Frauen- 
frag& lediglich ein Teil der sozialen Frage, und sie würde 
beantwortet und erledigt sein, wenn diese ihre Lösung 
gefunden hätte. Nach der ersten Auffassung dagegen 
reicht die Bedeutung der Frauenfrage, die nach ihrer 
praktischen Seite auch für sie sozialer Natur ist, 
weiter und entspringt aus tieferem Grunde. Hat diese 



— 213 — 



Auffassung damit recht? Ist es t tatsächlich dem Weibe 
von Natur gegeben, sich in derselben Art wie der Mann 
zu bethätigen? Kommt es ihm sowohl in geistiger wie 
in körperlicher Beziehung an Stärke gleich? — 

Ich war früher der Ansicht (und habe sie auch ge- 
legentlich öffentlich vertreten), dass diese Fragen schlecht- 
hin verneint zu werden verdienen, und zwar aus folgenden 
drei Hauptgründen, die gegen sie sprechen: 

1) ist es in der Geschichte der Menschheit eine ein- 
fache Thatsache der Erfahrung, dass fast in allen 
Gegenden der Erde der Mann die Herrschaft über das 
Weib erlangt hat. Wie war das möglich? — Es giebt 
wohl keine andere Antwort darauf, als dass ihm über das 
Weib eine gewisse, unbestreitbare Ueberlegenheit, sei es 
in körperlicher oder in geistiger Beziehung oder in beiden, 
wirklich zu Gebote gestanden hat und ihm bis zur Gegen- 
wart verblieben ist. Eine derartige Ueberlegenheit aber — 
bei allen Völkern und zu allen Zeiten — kann nicht anders 
denn als eine dem Manne angeborene, zu seinem Wesen, 
seiner Natur gehörige Eigenschaft angesehen werden. — 
Selbstverständlich ist es dabei, dass dies nur im Ganzen 
oder im Durchschnitt gilt, so dass einzelne Männer 
sehr wohl hinter dem „mittleren Weibe" zurückstehen, 
einzelne fVauen den „mittleren Mann" übertreffen 
können. 

2) Die Frau ist auf Grund ihrer natürlichen organisch- 
physiologischen Beschaffenheit zu Zeiten der vollen Be- 
thätigung ihrer nicht ins sexuelle Gebiet gehörigen Kräfte 
entzogen. Wenn es in dieser Hinsicht nun auch viel- 
fache, graduelle Unterschiede giebt und bei manchen 
wilden Völkern sowie innerhalb des Arbeiterstandes bei 
den Kulturvölkern dieser Einschränkung teilweise sehr 
enge Grenzen gezogen sind, so ist doch der Unterschied 
überhaupt, der hierdurch zwischen Mann und Weib 
hergestellt ist, nicht zu leugnen. 



— 214 — 



3) Weil dem Weibe die vorstehend angedeuteten, 
organisch-physiologischen Funktionen obliegen, während 
der Mann gänzlich frei davon ist, so erscheint es ohne 
weiteres klar, dass der Mann seine Lebenskräfte ander- 
weitig besser und vollkommener als das Weib entwickeln 
konnte. In der That zeigt ja doch die unbefangene Be- 
obachtung, dass die Frau viel mehr ans sexuelle Leben 
gefesselt und von ihm umfangen ist, viel mehr in der 
sexuellen Sphäre lebt als der Mann, sofern man zu den 
sexuellen Organen, wie billig, nicht nur die Geschlechts- 
teile im engeren Sinne, sondern auch die Milch gebenden 
Brüste und das für den Gebärakt passend eingerichtete, 
unschöne Becken, und zu den sexuellen Funktionen ausser 
dem eigentlichen Geschlechtsakt und der Menstruation 
auch das Kindergebären, das Säugen und die Pflege des 
Kindes in der ersten Lebenszeit rechnet Kurz gesagt, 
ist die Frau in höherem Grade Geschlechtswesen als der 
Mann. Und demgemäss konnte eben der Mann, vom 
Sexuellen bei weitem weniger absorbiert, seine Fähig- 
keiten auf den nicht-sexuellen Gebieten mehr entwickeln ; 
er konnte insbesondere grössere körperliche Kraft (zu- 
gleich notwendig, um das seinen Mutterpflichten nach- 
gehende Weib zu ernähren und zu schützen) und hervor- 
ragendere geistige Begabung erwerben. 

Fast scheint es, als hätte mit dieser Darlegung die 
Frauenfrage auf einfache Art ihre prinzipiell-theoretische 
Erledigung gefunden und als bliebe sie nur noch nach 
der praktischen Seite — als Teil der sozialen Frage, wie 
zuvor erörtert — offen. Indessen empfindet auch der- 
jenige, der unsere obigen Ausführungen unterschreiben 
kann, dass hinter den Argumenten der Gegner, welche 
die Gleichheit beider Geschlechter proklamieren, etwas 
schlummert, was ihnen eine gewisse Berechtigung giebt. 
Diese Empfindung gewinnt an Deutlichkeit und wird 
schliesslich zur klaren Erkenntnis, wenn man sich einer 



— 215 — 



unter die gewöhnliche Oberfläche hinabtauchenden, ob- 
jektiven Beobachtung der beiden Geschlechter und ihrer 
Eigenart befleissigt. Es offenbart sich alsdann, dass 

1) einem gewissen Prozentsatz der Mitglieder des 
männlichen Geschlechts die Bezeichnung „Mann* nicht 
mit vollem Rechte und bedingungslos zukommt. Ich sage 
das nicht im Sinne des Vorwurfs, indem ich keineswegs 
auf diejenigen Männer exemplifizieren möchte, die durch 
servile Gesinnung ihre Manneswürde mit Füssen treten, 
um Lebensstellungen zu erlangen oder sonstige äussere 
Erfolge zu erringen, durch die ihre Selbstsucht oder ihr 
Ehrgeiz Befriedigung findet. Sondern ich gedenke der- 
jenigen Personen männlichen Geschlechts, die bei durch- 
schnittlich tadellosem Charakter, gewinnenden Manieren 
und liebenswürdigem Wesen so wenig von der kräftigen, 
bestimmten, selbständigen Eigenart des Mannes, von seiner 
körperlichen Stärke und seiner geistigen Veranlagung 
aufweisen, dass sie viel mehr einen mädchenhaften oder 
weiblichen, bisweilen weibischen Eindruck hervorrufen, 
und die sich in ihrem Liebesverlangen, auch innerhalb 
des rein sexuellen Verkehrs, nicht zum Weibe, sondern 
zu ihnen — irgendwie und bis zu einem gewissen Grade 
— imponierenden, Respekt und Bewunderung einflössenden 
Männern hingezogen fühlen. Es sind dies die Angehörigen 
der einen Klasse der homosexuellen Personen 
männlichen Geschlechts; 

2) giebt es demgegenüber einen gewissen Prozentsatz 
der Mitglieder des weiblichen Geschlechts, die keine 
rechten, keine Voll- Weiber sind. Sie besitzen eine 
mehr männlich (als bei den letzteren) geartete äussere 
Erscheinung; zeigen mehr männliche als weibliche Neig- 
ungen; haben weder den Wunsch, die Rolle des Weibes 
im Ehebett zu spielen, noch den, jemals Mutter zu werden, 
der doch sonst in jedem echten Frauenherzen lebt; wollen 
sich endlich nach Männerart ausleben und bethätigen. 



— 216 — 



Unter ihnen befinden sich nicht wenige Lehrerinnen, Er- 
zieherinnen, Buchhalterinnen, Nonnen — insbesondere 
Aebtissinnen — , Krankenpflegerinnen, vor allem aber ge- 
hören zu ihnen, wie schon der Augenschein lehrt, zweifellos 
viele der Führerinnen innerhalb der modernen Frauen- 
bewegung. Sie bilden die eine Klasse der homo- 
sexuellen Personen weiblichen Geschlechts. 

Von ihnen wird sogleich des Näheren die Rede sein, 
denn es ist klar, dass, wenn sie vorhanden sind — 
und daran kann für den, der sehen will, kein Zweifel 
sein — sie im Hinblick auf die Frauenfrage eine ausser- 
ordentliche Rolle spielen und für deren prinzipielle Seite 
von entscheidender Bedeutung sind. 

Zuvor aber möchte ich mit wenigen Worten auf 
einen anderen wichtigen Punkt im Gesamtgebiet der 
homosexuellen Erscheinungen eingehen, der im Vor- 
stehenden berührt worden ist und der um so mehr eine 
gründliche Erledigung finden muss, weil ihm mehrfach 
eine falsche Behandlung zuteil wird. Er betrifft die 
Klassifikation der homosexuell veranlagten Menschen. 

In der That giebt es unter ihnen mehr Hauptarten, 
als von mancher schriftstellerischen Seite angegeben und 
besprochen werden, so dass infolgedessen Eigentümlich- 
keiten, die an einer Klasse der Homosexuellen vor- 
handen sind, eine mehr oder minder weitgehende, unzu- 
treffende Verallgemeinerung erfahren. 

Den Thatsachen entspricht es, wenn wir vi er Haupt- 
arten homosexuell veranlagter Personen unterscheiden: 
1) die homosexuellen Männer, die sich als Mann fühlen 
und deren Liebe sich daher auf Männer mit weiblichem 
Wesen, vor allem auf Jünglinge oder doch jüngere 
Männer erstreckt; 2) die homosexuellen Männer, die sieh 
in der Rolle des Weibes fühlen und die deswegen nach 
geistig und körperlich kraftvoll, d. h. thatsächlich ganz oder 
vorwiegend männlich entwickelten Männern Verlangen 




— 217 — 



tragen ; 3) die homosexuellen Weiber, die sich in der Rolle des- 
Mannes fühlen und demgemäss zarte, völlig weibliche 
Naturen innerhalb des weiblichen Geschlechtes an sich ziehen 
möchten; und 4) die homosexuellen Weiber, die sich auch 
wahrhaft als Weib fühlen und darum zu männlich ange- 
legten Individuen des weiblichen Geschlechtes Neigung 
haben. Kurz gesagt: es giebt unter den Homosexuellen 
virile Männer und feminine Männer, virile 
Weiber und feminine Weiber. 

Zum richtigen Verständnis der Natur der homosexuell 
Empfindenden innerhalb aller dieser Klassen verdient 
hervorgehoben zu werden, dass 

1) in jedem Menschen männliche und weibliche 
Elemente vorhanden sind*), nur — der Geschlechts- 
zugehörigkeit entsprechend — die einen unverhältnis- 
mässig stärker entwickelt als die anderen, soweit es sich 
um heterosexuelle Personen handelt; und dass 

2) der Hauptunterschied der Homosexuellen von den. 
Heterosexuellen darin zu suchen ist, dass in den Homo- 
sexuellen Männliches und Weibliches mehr ausgeglichen 
ist, so dass wir unter ihnen, wenn noch eine hohe ab- 
solute Entwicklung aller Anlagen hinzukommt (wozu 
allerdings gehört, dass die Betreffenden homosexuelle 
Männer — viriler Abart — sind), die vollkommensten 
Blüten der Menschheit antreffen, wie es die Beispiele 
eines Plato, Michel- Angelo, Shakespeare, Winkelmann,. 
Friedrich des Grossen und mancher anderen zeigen. 

Gerade der Umstand nun, dass zwischen Männlichem 
und Weiblichem im homosexuellen Menschen eine grössere 
Gleichheit herrscht als im heterosexuellen, hat zur Folge, 
dass jener zur Ergänzung seines Wesens des eigenen Ge- 
schlechtes bedarf statt des entgegengesetzten, da dieses 



*) Vergl. dieses Jahrbuch, Bd. I, 1899: „Die ob jektive Diagnose 
der Homosexualität" von Dr. M. Hirschfeld, S. 8—9 u. f. 



— 218 — 



von den Geschlechts-Eleraenten einer Art zu viel, von 
denen der anderen zu wenig besitzt. Hierbei bleibt zu- 
nächst noch eine Frage offen. Denn aus unserer theo- 
retischen Betrachtung wird bisher nur klar, weshalb z. B. 
ein homosexueller Mann sich mit keinem heterosexuellen 
Weibe verbinden kann. Es ist noch zu erörtern, ob bczw. 
warum er sich auch keinem homosexuellen Weibe zu- 
wenden kann, das doch ebenfalls (gleich ihm selbst) eine' 
grössere Ausgeglichenheit der Geschlechts-Charaktere auf- 
zuweisen hat, so dass beide am Ende eine harmonische 
Einheit zu bilden vermöchten. 

Angesichts dieser Frage ist vor allem zu bedenken, 
dass, wie es innerhalb der meisten Gruppen von Natur- 
erscheinungen der Fall ist, auch unter den homosexuellen 
Personen tausendfache Abstufungen sich finden. Sodann 
ist hervorzuheben, dass 

1) dem virilen homosexuellen Manne, dessen homo- 
sexuelle Eigenart stark entwickelt ist, auch das (virile) 
homosexuelle Weib einesteils noch zu sehr Weib ist, 
während sich andernteils das männliche Element desselben, 
gleichsam nach Anerkennung schreiend, zu sehr hervor- 
drängt, statt sich mehr abwartend dem Liebeswerbenden 
gegenüber zu verhalten, sich ihm jüngerhaft anzuschliessen 
— eine Art in gewissen Widersprüchen hin- und her» 
wogenden Kampfes, wie er indessen in der Welt des 
psychologischen Geschehens nicht zu den Unmöglichkeiten, 
ja nicht einmal zu den Seltenheiten gehört. Der femi- 
nine homosexuelle Mann dagegen verlangt so stark nach 
dem durch Männlichkeit führenden und hergehenden 
Wesen, dass ihm gleichfalls — im Falle entschiedener 
Ausprägung seines homosexuellen Charakters — das 
homosexuelle Weib nicht zur Ergänzung seiner Persön- 
lichkeit genügt. — Aehnliches lässt sich vom homo- 
sexuellen Weibe sagen. 

2) aber ist es eine nicht seltene Thatsache, dass 



— 219 — 



homosexuelle Männer, wenn ihre homosexuelle Anlage 
weniger stark entwickelt ist oder wenn sie dieselbe über- 
winden wollen, sich mit Frauen ehelich verbinden, die 
dann selbst mehr oder minder homosexuell veranlagt sind 
— und umgekehrt. In derartige Ehen treten von den 
homosexuellen Männern besonders die femininen ein, die 
dann die Erscheinung der Bisexualität, d. h. der doppelten 
Neigung: sowohl zum Manne als auch zum Weibe, dar- 
bieten — wenn man nicht überhaupt die bisexuellen Per- 
sonen als eigene Gruppe von den im engeren und 

strengeren Sinne homosexuellen scheiden will. 

. Von denjenigen, welche die vorstehend entwickelte 
Klassifizierung der Homosexuellen ausser Acht lassen, 
werden vielfach die homosexuellen Männer kurzer Hand 
als verweiblichte Männer = den femininen Homosexuellen 
männlichen Geschlechts und die homosexuellen Weiber 
schlechthin als männlich geartete Weiber = den virilen 
homosexuellen Weibern angesehen und dargestellt, und 
es werden demgemäss z. B. die homosexuellen Männer 
als oberflächlich, unzuverlässig, kokett, unbeständig, ver- 
gnügungssüchtig, rachsüchtig u. dgl. m. geschildert. M i t 
Unrecht! Denn wenn es schon einseitig ist, alle fe- 
mininen homosexuellen Männer, unter denen es sehr 
zarte, feinsinnige, ästhetisch hochbegabte Individuen giebt, 
derartig zu charakterisieren, so trifft diese Kennzeichnung 
auf die virilen homosexuellen Männer, unter denen es 
nach früher Gesagtem, um mit Prof. Gustav Jäger zu 
reden| die Erscheinung der „Supervirilen* giebt, ganz 
und gar nicht zu. — 

Doch wir wollen uns nicht weiter mit einer Erörter- 
ung der verschiedenen Arten der Homosexuellen be- 
schädigen, wollen insbesondere die Betrachtung der Homo- 
sexuellen unter den Männern, so besonders anziehend 
und förderlich sie auch ist, verlassen, um — unseres 
Themas eingedenk — derjenigen Klasse der homo- 



— 220 — 



sexuellen Weiber uns zuzuwenden, die hinsichtlich 
der Frauen frage unsere besondere Aufmerksamkeit 
verdient, Es ist dies, wie oben gesagt, die Klasse der 
virilen homosexuellen Weiber. 

In ihnen ist das männliche Element so stark ent- 
wickelt, dass es nach einer Bethätigung und Befriedigung 
verlangt, wie sie den Männern selbst zuteil wird oder 
doch offensteht. Die Neigungen derartiger Personen 
des weiblichen Geschlechts sind nicht auf die Dienste ge- 
richtet, die sonst das Weib dem Manne leistet; die virile 
Homosexuelle führt nicht dann ein vollkommenes Leben,, 
wenn sie am Manne sich erheben und emporranken, wenn 
sie ihm Kinder gebären und diese aufpäppeln und er- 
ziehen kann; sondern sie will produktiv sein wie der 
Mann selbst, sei es nun — je nach ihrer Veranlagung 
und ihrem Bildungsstandpunkt — körperlich oder geistig. 
Zeigt sich somit in ihr das Bedürfnis, männlichen Be- 
rufsarten obzuliegen, so ist es eine Ungerechtigkeit, ihr 
den Zugang zu denselben zu versperren. Was sie kann,, 
insbesondere, ob sie dasselbe oder nahezu Gleiches 
zu leisten vermag wie der wirkliche Mann — das 
mag, das wird sich zeigen. Jedenfalls darf ihr die 
Möglichkeit nicht genommen werden, sich ihren An- 
lagen und Neigungen gemäss zu entwickeln. Dass dies 
eine unbedingte Forderung der menschlichen Gerechtig- 
keit ist, wird jeder zugeben müssen, der erkannt hat, 
dass es Weiber giebt, die eben nicht reine Weiber sind, 
sondern in die Sphäre des Männlichen hineinragen, an 
ihr partizipieren. 

Die Frauenfrage stellt sich hiernach unter einem 
eigenen Gesichtswinkel dar. Es handelt sich bei ihr nicht 
nur, ja nicht einmal hauptsächlich um die Versorgung 
der eigentlichen Weiber, d. h., um im Sinne der oben 
vorgeschlagenen Terminologie genau zu reden : der hetero- 
sexuellen Weiber, welche sich dem Manne gegenüber 



— 221 — 



zurückgesetzt fühlen (was bei ihnen im allgemeinen gar 
nicht der Fall ist) oder in sozialer Beziehung schiecht 
gestellt sind (was allerdings auf alle Fälle zu berück- 
sichtigen ist), sondern es handelt sich — in prinzipieller 
Hinsicht — um d i e (viril homosexuell veranlagten) weib- 
lichen Personen, die von dem inneren Drang erfüllt 
sind, es in ihrem Wirken, in der Entfaltung ihrer Kräfte 
und Fähigkeiten dem Manne gleichzuthun. Weil es aber 
derartige Frauen und ein derartiges Verlangen in ihnen 
giebt, darum ist mit sozialer Fürsorge die Frauenfrage 
und Frauennot nicht zu beseitigen, darum offenbart sich 
in ihr ein so gewaltiger, tiefer Zug nach freiheitlicher 
Entwicklung. Noch einmal sei es gesagt, dass diese frei- 
heitliche Entwicklung nicht die eigentlichen, echten 
{heterosexuellen) Frauen verlangen, sondern jene im Vor- 
stehenden gekennzeichneten Wesen, die, in der Maske 
des weiblichen Geschlechts erscheinend, doch eine so stark 
ausgebildete Männlichkeit besitzen, dass es nicht fort- 
dauernd gebilligt werden kann, ihnen diejenigen Gebiete 
zu verschliessen, in denen allein sie sich auszuleben im- 
stande sind, 

„Sich ausleben* — frei und rein, der natürlichen 
Anlage gemäss, das ist ja das Zauberwort einer neuen 
Zeit, deren Morgenröte uns entgegenlacht. Giebt es 
Weiber mit nicht zu unterdrückendem männlichem Be- 
tätigungsdrang — und die unbefangene und vorurteils- 
lose Beobachtung lehrt es — so sei ihnen der Weg frei- 
gegeben, auf den sie dieser Drang verweist. 

Da sich nun aber durch kein roh-äusserliches Son- 
-dierungs- Verfahren, durch kein Examenssieb oder dergl. 
die echten Weiber von der in Betracht kommenden Klasse 
der virilen homosexuellen Weiber unterscheiden lassen, 
so müssen allgemein den Frauen die Berufe der Männer 
eröffnet werden. Freilich dürften die Frauen nicht — 
entsprechend etwa dem allgemeinen Schulzwange oder 



222 — 



sonstwie — in dieselben noch überhaupt in die 
männliche Bildun gs Sphäre hineingedrängt wer- 
den, weil wir sonst — unter den wirklichen Weibern 
— der Natur nicht konforme Missbildungen züchten 
könnten, wie sie teilweise schon jetzt die „höheren Töch- 
ter* repräsentieren; nur das muss den Frauen gewähr- 
leistet werden, dass diejenigen, die berufen, fähig und 
gewillt sind, sich in der Bildungssphäre des Mannes zu 
bewegen und zurechtzufinden, nicht von ihr ausge- 
schlossen werden. Wer von ihnen sich in sie ver- 
irrt, wird sich herausstellen. Prüfungen bezw. die Ur- 
teile der Lehrer müssen — wie beim männlichen Ge- 
schlecht — darüber entscheiden. Dass dabei trotz allem 
Existenzen verunglücken können und verunglücken werden, 
darf die Kulturmenschheit nicht abhalten, der Unter- 
drückung ein Ende zu machen, unter der ein Teil ihrer 
Mitglieder so lange geseufzt hat. 

Es liegt übrigens nicht die von ängstlichen Gemütern 
bef ürchtete Gefahr vor, dass die eigentlichen Frauen, die 
ihrem ganzen Wesen nach dazu ausersehen sind, Haus- 
frauen und Mütter zu werden, ihrem natürlichen Berufe 
werden entzogen werden, wenn nur Freiheit waltet, 
Zwang und Schematisierung ausgeschlossen bleiben. Die 
Natur, die mächtige Gestalterin, wird jeden dahin drängen, 
wohin er seiner Beschaffenheit und seinen Trieben nach 
gehört. 

Wir können nunmehr unsere Betrachtungen über die 
Frauenfrage mit folgendem, wie ich glaube, ebenso er- 
schöpfenden wie befriedigenden Endergebnis schliessen: 

Es handelt sich bei der Frauenfrage um zweierlei, 
und zwar deshalb, weil der Begriff „Frau* (ebenso wie 
der Begriff „Mann") kein schlechthin einheitlicher ist 
Hat man das weibliche Geschlecht im allgemeinen, 
vorzugsweise also das Gros desselben: die Masse der 
eigentlichen — heterosexuellen — Frauen im Sinne, so 



— 223 — 



ist die Frauenfrage nichts als ein Teil der grossen sozialen 
Frage. Physiologisch und psychologisch vertieft dagegen 
wird sie und an Schwergewicht gewinnt sie, wenn man 
nur einen beschränkten Teil des weiblichen Geschlechts: 
die Klasse der virilen homosexuellen Weiber in Betracht 
zieht Dann rechtfertigen sich die weitergehenden, all- 
gemeinen Forderungen, die von vielen Führern und 
Führerinnen im Kampf um die Frauenrechte erhoben 
werden. 

Möge die Zeit nicht fern sein, wo alle Welt die 
rechte physiologische und psychologische Einsicht in das 
Wesen der menschlichen Geschlechter erlangt und daher 
ein verständiges und gerechtes Urteil über die dadurch 
bedingten Probleme gewinnt! 



17 Fälle von Koincidenz von Geistesanomalien 
mit Pseudohermaphroditismus, 

zusammengestellt aus einer Gesamtkasuistik von 
713 Beobachtungen von Scheinzwittertum 
von 

Franz Neugebauer, 

Vorstand der Gynaekologischen Klinik des Evangelischen Hospitals 
in Warschan. 

Im Jahre 1896 war mir vom Gericht die Untersuchung 
eines jungen Mädchens wegen zweifelhaften Geschlech- 
tes übertragen worden, gleichzeitig die gerichtlich medi- 
zinische Expertise bezüglich des Geisteszustandes dieses 
jungen Mädchens. Es war eine Anklage wegen Giftmordes 
gegen dasselbe erhoben worden. Das Mädchen, 18 Jahre 
alt, einer Familie aus den besten Kreisen angehörig, war 
angeklagt Mutter und Bruder mit Strychnin vergiftet zu 
haben, wobei der 9-jährige Bruder dem Gifte erlag, die 
Mutter aber dank rechtzeitig erteilter Hilfe gerettet wurde. 
Die Angeklagte hatte sofort nach der Katastrophe an- 
gegeben, sie habe nur sich selbst vergiften wollen, indem 
sie das Gift in ihren Suppenteller geschüttet, dass aber 
ein Teil des Giftes in die Suppenterrine gelangt sei, sei 
ein Zufall gewesen und habe keineswegs in ihrer Absicht 
gelegen! Das Mädchen gestand also die Absicht eines 
Selbstmordes zu 1 Die nächste Frage war, warum sie sich 
habe vergiften wollen? Es handelte sich um einen Selbst- 
mordversuch aus Verzweiflung. Die Ursache zu dieser 



— 225 — 



Verzweiflung war die, dass das Mädchen einer „erreur 
de sexe" zum Opfer gefallen war. Man hatte irrtümlich 
einen männlichen Scheinzwitter als Mädchen erzogen. 
Ich kann hier nicht die detaillierte Beschreibung dieser 
Beobachtung geben aus von mir unabhängigen Gründen 
(siehe: F. Neugebauer: Ein junges Mädchen von männ- 
lichem Geschlecht, verhängnisvolle Folgen einer irr- 
tümlichen Geschlechtsbestimmung. Internationale photo- 
graph. Monatsschrift für Medizin und Naturwissenschaft, 
III. Jahrgang, 189G). Die irrtümliche Geschlechts- 
bestimmung hatte zu einem Zerwürfnis zwischen Mutter 
und" Tochter geführt, zu einer Reihe endloser seelischen 
Qualen für das junge Mädchen, das sich als Mann fühlte 
und auf eigene Faust hin sich einer ärztlichen Unter- 
suchung unterzog, von den beteiligten Aerzten aber den 
Bescheid erhalten hatte, es liege weibliches Geschlecht 
vor, während doch die unglückliche Person Beweise ihrer 
männlichen Natur gefühlt und gesehen hatte. Das Haupt- 
moment, welches die tragische Katastrophe herbeigeführt 
hatte, war nichts Anderes, als der Fehler, den die von 
dem Mädchen konsultierten Aerzte begangen hatten, zu 
erklären, es liege bestimmt weibliches Geschlecht vor, 
statt wenigstens vorsichtiger handelnd das Geschlecht 
für zweifelhaft zu erklären und einen in diesen Fragen 
erfahreneren Kollegen zu Rate zu ziehen. Nachdem ich 
nach eingehender Untersuchung und Konstatierung von 
normalem Sperma das männliche Geschlecht unzweifelhaft 
festgestellt hatte, wurde gerichtlicherseits der Zivilstand 
der Angeklagten geändert Sie erhielt männliche Kleider 
und männliche Rechte. In den Gerichtsverhandlungen, 
die nun weiter folgten, wurden uns drei Experten vom 
Gericht folgende drei Fragen vorgelegt: 1) Konnte 
die Entwicklungsanomalie der Geschlechts- 
teile des Angeklagten einen Einfluss haben 
auf seinen seelischen Zustand, auf seine psy- 

Jahrbuch II. 25 



- 226 — 



chische Sphäre? 2) Lag hier eine angeborene 
psychische Anomalie, psychische Minder- 
wertigkeit vor oder war dieselbe erst später 
entstanden und zur Entwickelung gelangt? — 
3) War sich die angeklagte Person im Moment 
ihres verbrecherischen Handelns der Gesetz- 
widrigkeit ihres Handlung sowie des Charak- 
ters dieser Handlung bewusst oder hatte sie 
die That bedangen im Zustande momentaner 
Umnachtung ihres Verstandes, momentaner 
teilweiser oder gänzlicher Sinnverwirrung, 
Unzurechnungsfähigkeit? 

Meine Antwort auf diese Fragen lautete folgender- 
massen: 

ad I: Der JEntwickelungsfehler der Geschlechtsteile 
hatte eine irrtümliche Geschlechtsbestimmung zur Folge 
gehabt: das Kind, ein Knabe, wurde als Mädchen ge- 
tauft und erzogen. In den ersten Kinderjahren konnte 
dieser Irrtum für den psychischen Zustand des Kindes 
irrelevant bleiben, sobald aber der Charakter des Kindes 
sich zu bilden begann und die Geschlechtsreife erreicht 
war, so begann der Einfluss dieser fehlerhaften sozialen 
Lage sich zu zeigen. Die junge Person begann als 
Mann geschlechtlich zu empfinden, verriet stets nur 
Neigung zu männlicher Beschäftigung, Selbständigkeit und 
hatte sehr stark ausgesprochene erotische Gefühle auf 
das weibliche Geschlecht hin gerichtet. Der Geschlechts- 
trieb war vorzeitig erwacht und äusserte sich ungewöhn- 
lich stark, wie das oft namentlich bei wie hier vor- 
liegendem Kryptorchismus beobachtet wird (siehe: „Etudes 
sur la Monorchidie et la Cryptorchidie chez 
Hiomme" par Ernest Godard. Paris 1857). Die 
nächste Folge war Masturbation vom 16. Jahre an. In 
einer Mädchenschule plaziert, verliebte sich die junge 
Person bald in die eine bald in die andere ihrer Mit* 



— 227 — 



Schülerinnen oder Lehrerinnen, es kam zu heissen Ge- 
fühlsergüssen. Es folgten in rascher Folge mehrere 
Liebesverhältnisse, die mehr oder weniger weit gingen, 
zu allerhand Geklatsch die Veranlassung gaben, endlich 
zu allerhand Chantage-Affären mit Androhung der Ver- 
öffentlichung gewisser Thatsachen, falls nicht die und die 
Summe bezahlt werde etc. Je mehr die Mutter dieses 
Verhaltens ihrer Tochter gewahr wurde, desto strenger 
wurde die Tochter beaufsichtigt, durfte oiicht allein aus- 
gehen, bekam die bittersten Vorwürfe zu hören, oft auch 
harte Strafen. Die Folge davon war ein absolutes Zer- 
würfnis mit der Mutter, ja ein Hass gegen dieselbe. 
Dazu kam der vergebliche Kampf mit dem Laster der 
Masturbation, die Angst vor etwaigen für das Gedächtnis 
deletären Folgen dieses Lasters, worüber das Mädchen 
Manches gelesen hatte. Später las die junge Person be- 
unruhigt durch ihre körperliche Beschaffenheit und ihre 
nicht weiblichen Gefühle, Ausbleiben der längst erwar- 
teten Periode etc. in verschiedenen Büchern nach, verfiel 
auf den Verdacht, ob sie nicht ein Hermaphrodit sei, 
worüber sie in dem Konversationslexikon gelesen hatte. 
Die junge Person sehnte sich nach einem männlichen 
Berufe, schwärmte für das Universitätsstudium, das ihr 
verschlossen bleiben musste als einem Mädchen. 

Der Kampf mit der Masturbation, die Angst vor 
deren Folgen, die Angst vor Schande infolge der immer 
häufiger ihr drohenden Chantagebriefe, das Zerwürfnis 
mit der Mutter, das eigene Bewusstsein männlicher Natur, 
mit dem Zwange zeitlebens als Weib leben zu müssen^ 
die heisse Liebe zu einem Mädchen, wobei die Möglich- 
keit einer ehelichen Vereinigung ausgeschlossen war, alles 
das zusammen war die Quelle einer stetig zunehmenden 
geistigen Aufregung und unaussprechlicher seelischer 
Qualen. Endlich fasste die junge Person einen Entschluss. 
Ihre letzte Hoffnung war darauf gesetzt, wenn ein Arzt 

15* 



— 228 — 



sie untersuche, werde man ihr männliche Rechte zu- 
sprechen. Mit Ueberwindung ihres Schamgefühles unter- 
zog sie sich ohne Wissen der Mutter einer ärztlichen 
Untersuchung. Der von den Aerzten gefällte Entscheid, 
sie sei ein Weib, weil sie eine Scheide besitze, hatte eine 
erschütternde Wirkung! Nun war Alles aus! die letzte 
Hoffnung vernichtet aus dieser verhassten falschen sozialen 
Lage herauszukommen! Die junge Person beschloss diesem 
verfehlten Leben, welches ihr nichts als seelische Qualen 
bot, ein Ende zu machen! Bis hierher war ihr Handeln 
logisch gewesen und ergab sich ein Gedanke als die Folge 
des aiideren. Mit voller Ueberlegung traf sie die An- 
stalten zu dem beabsichtigten Selbstmorde, sie verschaffte 
sich von einem befreundeten Arzte ein Rezept für 
Strychnin unter dem Vorwande, die Mutter brauche 
Strychnin zur Vergiftung der Wölfe auf ihren Gütern, 
sie versuchte, ob das Strychnin sich besser in heissem 
oder kaltem Wasser löse etc. Nun aber beginnen Wider- 
sprüche in ihrem weiteren Handeln. Sie trug den Betrag 
für das gekaufte Strychnin in das Kassabuch ihrer Mutter 
ein, damit es so aussehe, als habe die Mutter das Strychnin 
gekauft, "sie entnahm der Flasche einen Teil des Pulvers, 
die Flasche selbst aber mit der Aufschrift „Strychnin" 
stellte sie in die Kommodenschublade ihrer Mutter. 
(Wozu ? um den Verdacht zu wecken, die eigene Mutter 
habe sie vergiftet?) Nach allen Vorbereitungen kommt 
der Moment der That: die junge Person in der Blüte 
ihrer Lenzjahre stehend sieht den baldigen Tod vor sich! 
Nachdem sie Strychnin auf ihren Teller geschüttet hat, 
giesst sie mit der Kelle Suppe auf den Teller, den sie an 
die Suppenterrine stützte — in diesem Momente tritt die 
Mutter in das Zimmer ein, um am Mittagstische Platz 
zu nehmen. Die Hand zittert, etwas von dem Inhalt des 
Tellers schwappt in die Suppenterrine über. Wenn die 
junge Person nur sich selbst umbringen wollte, wie konnte 



— 229 — 



sie es mit ansehen, dass die Mutter und der Bruder von 
der vergifteten Suppe assen? Hier ist das gesamte 
Handeln voller Widersprüche ! Alles spricht dafür, dass 
das junge Mädchen im Moment der schrecklichen That 
unzurechnungsfähig war. Den grausigen baldigen 
Tod vor Augen, gab es sich keine Rechenschaft mehr von 
seinem Handeln! Es muss der Seelenzustand dieser jungen 
Person, welcher bis zum Tentamen suicidii führte und im 
Momente dieser That bis zur Unzurechnungsfähigkeit, als 
die Folge der falschen sozialen Lage der Person be- 
trachtet werden, letztere aber als die Folge der irrtüm- 
lichen Geschlechtsbestimmung! Es besteht ein kausaler 
Zusammenhang zwischen dem seelischen Zustande des 
Angeklagten und der anomalen Beschaffenheit der Ge- 
schlechtsteile resp. — der irrtümlichen Geschlechtsbe- 
stimmung. 

Die Literatur verfügt über drei analoge Fälle, wo 
eine „erreur de sexe* zum Selbstmorde führte, den ersten 
Fall hat Tardieu in extenso beschrieben, indem er die 
Autobiographie der Person hinzufügte: Alexina B., 
deren Geschlecht als männlich erkannt worden war, nach- 
dem sie 22 Jahre lang als Mädchen gelebt hatte, machte 
ihrem seelischen Leiden durch den freiwilligen Tod ein 
Ende! (Siehe Tardieu: „Question m£dico-l£gale de l'i- 
dentite dans ses rapports avec les vices de conformation 
des organes sexuels contenant les souvenirs et impressions 
d'un individu dont le sexe avait dte* m£connu." Paris 
874 pg (51 — 174). Der andere Fall betrifft eine Bäuerin 
Barbara Sk., welche sich mit Phosphor vergiftete, nach- 
dem ihr wiederholt die Aerzte erklärt hatten, sie sei ein 
Weib, obwohl sie sich als Mann fühlte; die Necropsie 
ergab, dass die unglückliche Person ein männlicher Schein- 
zwitter war, der den Irrtum der Aerzte mit dem eigenen 
Leben bezahlte. (Protokolle der Gyn. Geb. Gesellschaft 
in Kijew 1895. Bd. 8. pg 73.) Den dritten Fall, eine 



— 230 — 



Kohlenoxydvergiftung, haben Bacaloglu und Fossard 
beschrieben. — 

ad II : Im gegebenen Falle liegen keinerlei Momente 
vor, welche dafür sprächen, dass eine angeborene geistige 
Anomalie vorlag. Andererseits kennt die Kasuistik des 
Scheinzwittertumes eine Anzahl von Fällen, wo der geistige 
Zustand von Kind auf ein krankhafter war. Debierre 
(„1/ Hermaphrodisme*) Paris 1891. pg 134: .,Herma- 
phrodisme au point de vue psychologique" schreibt: 

„Les pseudoh ermaphrod i tes sont ils des 
Gtres normaux au point de vue moral? II est 
assez difficile de repondre h cette question d ; 
une facon catlgorique. Les uns sont faibles d'esprit, 
les autres, s' ils sont intelligents, actifs et laborieux, dit-on, 
sont le plus souvent d£siquilibr£s; ce seraient des impulsifs. 
Christian, Legrand du Saulle, Magnan ont Sig- 
nale Y importance des malformations genitales (Cryptorchi- 
die, hypospadias) sur le developpement des maladies men- 
tales. Raffe ge au conseille au mexlecin alilniste et au 
meMecin legiste de considerer les sujets de ce genre comrae 
des d£g£neres et de les traiter comrae tels. Cette con- 
clusion, base> sur un certain nombre d' observations du 
reste comporte une importance qui n T Ichappera h, per- 
sonne. Ce point de vue de la question est d* autant 
moiii ii oublier qu'il parait aussi bien Itabli que Von 
trouve souvent des antecedents her£ditaires du cöte* du 
Systeme nerveux chez les pseudohermaphrodites, hypos- 
pades, cryptorchides. — Des lors, si ce sont des d£g£neres 
ils peuvent aussi bien devenir des impulsifs, irr^sponsables. 
La chaine n* est pas briste, le nenropathe engendre 
Physttfrique aux goAts, aux allures et aux penchants fugi- 
tifs et bizarres; il donne naissance au chorelque ou k 
l'epileptique et de celuici la fammile s' achemine vers la 
folie." Für Debierre ist der Pseudohermaphrodit ein 
geistig anormales Individuum, welches auch „deg£ner£ tt 



— 231 — 



sein kann: „d'oü k Panomalie pbysique peut se joindre 
la defectuositä psychique." „Ce n'etait qu'un d£sh£rit£ 
mais il peut devenir un danger pour autrui.* Im gegebenen 
Falle liegen keine positiven Anzeichen einer Degeneration 
vor*) ebensowenig Verdacht auf die von Vielen angezwei- 
felte „Moral Insanity/sondernnur Unzurechnungsfähig- 
keit im Momente der That. Die That selbst aber war die 
entfernte Folge der perversen sozialen Lage des Indivi- 
duums. Hätten die seiner Zeit von der Person konsul- 
tierten Aerzte nicht den Irrtum der falschen Geschlechts- 
bestimmung begangen, sondern das Geschlecht richtig als 
männlich erkannt oder zum mindesten erklärt, sie können 
die Frage nicht entscheiden und behufs Entscheidung die 
Person an einen mehr kompetenten Arzt gesandt, so 
würde schwerlich die junge Person den Selbstmordversuch 
begangen haben. Hätte man rechtzeitig der Person die 
ihr zuständigen männlichen Rechte zuerkannt, so hätte 
dieselbe wohl ihr moralisches Gleichgewicht, den Seelen- 
frieden wenn nicht ganz so wenigstens in hohem Grade 
wiedererlangt, dessen sie verlustig gegangen war nach 
Erreichung der Geschlechtsreife. 

ad. III: Die falsche soziale Lage des Angeklagten 
samt allen Besonderheiten, die höher oben aufgezählt 
sind, lässt es wahrscheinlich erscheinen, dass der Ange- 
klagte im Moment der verbrecherischen That sich im Zu- 



*) Der verstorbene 9jährige Bruder litt an „Epilepsie nocturna" 
lind wies die Sektion phthisische Cavernen in den Lungen auf, die 
Mutter ist hochgradig neurasthenisch, der Vater leidet an einer 
Tabes. Wenn ich auch die Möglichkeit einer organischen Belastung 
hier nicht in Abrede stellen darf, so glaube ich doch, dass wenn 
der Angeklagte seiner geschlechtlichen Anlage gemäss als Mann er- 
zogen worden wäre, Uberhaupt sein Geisteszustand ein normaler 
geblieben wäre, es wäre dann Uberhaupt nicht zu dem unglück- 
lichen Familiendrama gekommen, das ihn vor die Schranken des 
Gerichtes geführt hat. 



— 232 — 



stände einer verminderten oder aufgehobenen Zurechnung^* 
f ähigkeit befand. Da ein Beweis für beabsichtigten Mord 
der MutteT oder des Bruders nicht erbracht wurde, son- 
dern nur ein Beweis für das „Tentamen suicidii* sowie 
ferner, da der Angeklagte noch nicht majorenn ist, so 
erfolgte eine Verurteilung zu einer Kirchenbusse und der 
Angeklagte wurde unter Aufsicht der Eltern gestellt. 

Gelegentlich dieser Expertise stellte ich 17 Fälle von 
Koincidenz von geistigen Anomalien mit Scheinzwitter- 
tum zusammen. 

Da die einzelnen Mitteilungen in den verschiedensten 
Zeitschriften der gesamten Welt zerstreut sind, so wird 
es für den Psychopathologen und Gerichtsarzt von Nutzen 
sein, die bisher bekannt gewordenen Fälle zusammen- 
gestellt zu finden. 

1) C. W. Allen: „ Report of a case of psychosexual 
Hermaphroditisin" [siehe: Medical Record 8. V. 1897 — 
siehe Referat: Wracz 1897 Nr. 29 pg. 813 (Russisch).] 
Allen trug in der medizinischen Akademie in New- York 
folgenden Fall vor: 

Viola Estella Angell bat um Aufnahme in das 
Asyl für moralisch gefallene Frauen in der Florence- 
Mission. Sie wurde 1874 als das 17., jüngste Kind 
ihrer Eltern geboren in Nova Scotia und erzählt, ihre 
Mutter sei im dritten Monate, als sie mit ihr schwanger 
ging, sehr erschrocken über einen sie verfolgenden Mann, 
ihr Vater aber habe einen „teuflischen Charakter" 
gehabt. Bis zum 14. Jahre wurde Viola als Mädchen 
erzogen, später jedoch als gewisse Veränderungen an den 
Geschlechtsorganen auftraten, gab man ihr männliche 
Kleidung. Am meisten trug der Entscheid der Mutter 
tu dieser Aenderung bei, welche der Ansicht war, dass 
Viola als Mann sich leichter werde ihr Brot erwerben 
können, denn als Mädchen. Viola wurde dann für drei 



— 233 — 



Jahre in einer männlichen Schule untergebracht, wo ihre 
Lage eine sehr unangenehme war, weil sie von den Mit- 
schülern wegen ihres mädchenhaften Aussehens ständig 
ausgelacht und geneckt wurde und den Spitznamen „sissy" 
sich gefallen lassen musste. Sogar die Passanten auf der 
Strasse hielten den Knaben für ein verkleidetes Mädchen. 
Vom 14. Jahre an trat jeden Monat eine Mastdarm- 
blutung von 4 — 5 lägiger Dauer auf, welche bis jetzt bis 
zu dem 23. Jahre sich regelmässig wiederholt. Ab und 
zu entleert sich das Blut aus der Harnröhre statt aus 
dem Mastdarm. Zu jener Zeit empfindet Angela starke 
Schmerzen, welche von den Aerzten erfolgreich bekämpft 
wurden mit antidysmenorrhoischen Mitteln. Schon ein 
Jahr vor dem Auftreten dieser Blutungen litt Viola an 
Bleichsucht, Kopfschmerzen, häufigen Ohnmächten und 
starkem Husten, in den letzten drei Monaten hatte sie 
vor jeder kommenden Blutung starke Leibschmerzen. 
Der Harn soll stets sowohl durch die in dem penis ge- 
legene Harnröhrenöffnung als auch durch den Mastdarm 
abgeflossen sein. Viola hatte niemals eine Erektion 
oder Pollution und empfand nur geschlechtlichen Trieb 
zu Männern, d. h. sie empfand als Frau. Viola oder 
An gell, wie er jetzt genannt wurde, hatte mehrere 
Male den Beischlaf mit Männern ausgeübt, zu einem Bei- 
schlaf mit Frauen empfand er niemals die Lust. Da 
Angell durchaus keine Neigung zu männlicher Beschäf- 
tigung empfand und überhaupt ihm das Leben als Mann 
im höchsten Grade zuwider war, so kleidete er sich auf 
eigene Faust hin wieder weiblieh und entfloh aus dem 
Elternhause, nahm eine Stellung als Dienstmädchen an, 
später aber bat er um Aufnahme in das vorgenannte 
„Asyl für moralisch gefallene Frauen*. Körpergewicht 
150 Pfund, Körperhöhe 5 Fuss und 10 Zoll. Das Ge- 
sicht verrät den Goethe'schen Typus, die Haare jedoch 
sind infolge Brennens geringelt. Die Barthaare sind 



— 234 — 



offenbar ausgerissen, Gesichtsausdruck weiblich. Sopran- 
stimme; die rechte Brust war grösser als die linke, ein 
Fuss und eine Hand sollen männlich, die anderen weib- 
lich gebildet sein (? N.), Becken männlich. Charakter 
und Neigungen absolut weiblich. Hysterie; Intellekt sehr 
beschränkt, Hang zur Musik und Poesie. In dem Hoden- 
sacke liegen die auf Druck sehr empfindlichen Geschlechts- 
drüsen, der Cremasterreflex fehlt vollkommen. An gell 
behauptet bei der Aufnahme, alle vier Wochen Blutungen 
aus dem Mastdarm und der Harnröhre zu haben. Damm 
sehr lang, Mastdarmöfihung breit und klaffend von 
fleischigen Erhabenheiten umgeben, ähnlich den Hymenai- 
resten. (? N.) Aus der Mastdarmöffnung tropft noch Blut 
(nach Angabe des An gell soll dies der letzte Rest der 
letzten Monatsblutung sein). Der sphincter ani iternus 
ist dick — enges Mastdarmlumen — , erinnert an eine 
portio vaginalis uteri. (? N.) Es gelang nicht, eine 
Kommunikation zwischen Harnblase und Mastdarm nach- 
zuweisen. Man fand auch keine Spur von weiblichen 
Geschlechtsorganen vor. Man hatte nur wenige Tage 
lang die Gelegenheit, An gell zu beobachten, da er Angst 
bekam, man werde ihn wieder in die ihm verhasste 
männliche Kleidung stecken und eines schönen Tages 
wieder die Flucht ergriff. Er hinterliess nur einen Brief, 
in dem er schrieb, er werde gutwillig männliche Kleider 
anlegen und sich „so oder so 4 einrichten! Eigentümlich 
ist es und schwer zu verstehen, weshalb die Eltern das 
Kind, als es zur Welt kam, als Mädchen tauften, da ge- 
sagt ist, man habe später keine Spur weiblicher Ge- 
schlechtsorgane gefunden, zweitens giebt die allmonatliche 
typische Blutung ein Rätsel auf, sofern diese Angabe auf 
Wahrheit beruht, drittens frappiert der Umstand, dass 
das allgemeine Aussehen dieser Person so weiblich war, 
dass selbst die Passanten auf der Strasse den schon als 
Jungen gekleideten An gell doch für ein verkleidetes 



— 235 — 



Mädchen hielten, ferner das absolut homosexuale ge- 
schlechtliche Empfinden. Die erweiterte Analöfihung und 
die Angaben des nur mit Männern, niemals mit Frauen 
ausgeübten Beischlafes weisen auf Päderastie hin, wobei 
An gell die passive Rolle übernahm. Allen betont die 
geringe Intelligenz des Individuums. Leider fehlen jeg- 
liche Angaben über die Antecedentien des Vaters und der 
Mutter, vom Vater ist nur gesagt, er hatte einen „teuf- 
lischen Charakter" aber nicht, ob hier Lues hereditaria 
vorlag, ob der Vater einiTrinker war etc. [Leider konnte 
ich mir die Originalbeschreibung von Allen nicht ver- 
schaffen, sondern war auf Referate in dem Journal: 
„Wracz* und Fromme Ts Jahresbericht angewiesen.] 

2) J. C. Carson und Hrdliczka: „An interesting 
case of pseudohermaphroditismus masculinus extermus.* 
(Albany Medical Annais. Vol. XVIH. Nr. 10. 1897. — 
Referat: Centraiblatt für Gynäkologie 1898. Nr. 13 pg. 341.) 

In einer Anstalt für idiotische Kinder wurde eine 
weiblich gekleidete, als Mädchen erzogene 27jährige 
Person untergebracht. Möns Veneris behaart, unterhalb 
eine Schamspalte, aus der in der oberen Partie eine penis- 
artige Clitoris hervorragt, die so aussieht, wie der penis 
eines mosaischen Knaben von 4 — 5 Jahren. Eichel und 
Vorhaut existieren; dieses Glied ist aber nicht von einer 
Harnröhre durchbohrt. Es finden sich grosse Scham- 
lippen, die unten etwas breiter sind als oben, die kleinen 
Schamlippen fehlen. Die Harnröhrenöffnung liegt in der 
Tiefe einer trichterartigen Grube, unterhalb dieser Harn- 
röhrenöfinung liegt die von einem Hymen umgebene Oeff- 
nung der Vagina. Die Scheide ist eng, lässt aber den 
Finger auf 7 cm Tiefe ein. Weder Ovarien noch Uterus 
wurden getastet. Die Scheide gleicht einer solchen nach 
vaginaler Hysterektomie. In jeder grossen Schamlefze 
wurde ein Gebilde von der Gestalt eines Hodens ge- 
tastet. Es scheint sich also um einen Mann zu handeln 



— 236 — 



mit Hypospadiasis peniscrotalis und ziemlich langer 
Scheide. 

Ueber das Wesen der Geistesanomalie ist nichts 
Spezielleres angegeben, als dass das Individuum in die 
Idiotenanstalt aufgenommen wurde. 

3) Georges Dailliez: [„Les sujets du sexe dou- 
teux etc. Thfcse de Paris. Lille 1893] giebt 1. c. Seite 39 
die Biographie der Marie L£onie Antoinette, des 
einzigen Kindes vermögender Eltern. Das Kind wurde 
als Mädchen erzogen, lebte vorherrschend in weiblicher 
Umgebung. Im 14. Lebensjahre zeigte sich ein Anflug 
von Schnurrbart, Kinnbehaarung und die Stimme wurde 
männlich. Ebenso änderte sich zusehends der Charakter 
des Kindes. Endlich traten solche Erscheinungen auf, 
welche die Eltern veranlassten, einen Arzt zu konsultieren. 
Die Professoren Pelletan, Dubois und Boyer kon- 
statierten, dass das Mädchen ein männlicher Schein- 
zwitter sei mit Kryptorchismus behaftet. Man fand sogar 
die Prostata und stellte fest, dass das Kind nicht nur 
ein Mann sei, sondern auch in Zukunft fähig zur Fort- 
pflanzung und dass diese Fähigkeit noch gesteigert werde 
durch den Kryptorchismus. „Les naturalistes savent que 
les animaux dont les testicules ne se montrent jamais au 
dehors, ont plus de salacitd que dans le cas contraire 
(Haller). 4 * Pelletan zitierte hier Haller: ,Elementa 
Physiologica" T. VII pg. 415: „Non rarum est, ut aut 
imup alter testis aut omnino uterque scrotum non subeat 
ini|ue inguine moretur, aut in annulo aut demuni in ab- 
(Inmifle maneat, quales homines veteres minime ignoraverunt 
et dixerunt testicondos. Nulla inde noxa sequitur et potius 
saliu-iores fuisse autores exstant. Sed etiam inanimalibus 
ra fabrica reperitur.* 

Die drei Herren erklärten: „Le vice de conformation 
exn'rieure ne sera jamais qu'un l£ger obstacle auquel 
fioatmct saura pourvoir.* Das Tribunal änderte dem- 



— 237 — 



gemäss den Zivilstand des Mädchens und Marie wurde 
fortan als Mann erzogen. 

In der Folge wünschten die Eltern, besorgt, ihr Ge- 
schlecht könne aussterben, der Sohn solle heiraten. Sie 
konsultierten abermals Pelle tan, welcher abermals er- 
klärte, das Zurückbleiben der Hoden in der Bauchhöhle 
könne keinen Einfluss auf den Kopulationsakt an sich 
haben. Der Sohn wurde also verheiratet, aber die Ehe 
blieb kinderlos. Man trat eine Hochzeitsreise an, welche 
volle zwei Jahre dauerte. Im Laufe dieser Zeit täuschte 
die junge Gattin eine Schwangerschaft vor und auch die 
Entbindung, indem auf Verlangen des Mannes ein fremdes 
Kind untergeschoben wurde um Erbschaftsansprüche er- 
heben zu können auf den Nachlass des Grossvaters. Die 
junge Frau litt so furchtbar unter dem Bewusstsein des 
mit ihrem Manne gemeinsam ausgeübten Betruges, sowie 
unter dem Einflüsse seiner „travers d* esprit", dass 
sie nach einigen Jahren aus Kummer und Sorge krank 
geworden, elend zu Grunde ging. In der Folge suchte 
der Witwer nachzuweisen, das Kind sei nicht seines, 
sondern ein fremdes, untergeschobenes, da er zu jener 
Zeit impotent gewesen sei, als angeblich seine Frau 
schwanger geworden war. — Dieses Individuum ging 
schliesslich nach einem Leben voller Ausschweifungen zu 
Grunde an Myelitis cum paraplegia, incontinentia alvi et 
urinae. 

4) Charles Dulles (zitiert nach Garin: 
Wjestnik obszczestwjennoj Gigjeny, sudjebnoj i prak- 
ticzeskoj Mediciny T. XXIX. Kniga II. Fewral 1896 
pg. 59) schreibt: Ein gewisser Delbert Reynolds 
in San Raphael in Kalifornien geboren, heiratete 
als Frau einen Schmied vom besten Rufe in der 
Ortschaft Ale na und gilt von jener Zeit an als liebendes 
Weib unter dem Namen „Belle Hardmann". Der 
Mann ist bereit darauf zu schwören, seine Frau sei ganz 



— 238 - 



normal gebaut, die Mutter jedoch behauptet, das Kind 
sei bei der Geburt ein Knabe gewesen und bis zum 20. 
Jahre ein solcher geblieben, der Knabe habe stets in 
männlicher Umgebung gelebt und männliche Arbeiten 
verrichtet. 

Nach der Angabe eines Arztes in San Franzisko soll 
sich der Wechsel des Geschlechtes binnen anderthalb 
Jahren vollzogen haben, was keinem Zweifel unterliegen 
könne (?) Dr. Du 11 es wandte sich nun an den Hausarzt 
der Familie Reynolds. Dieser, Dr. Henry A. Dubois, 
erklärte, er habe das Kind stets für einen Knaben ge- 
halten, desto mehr später als der Bartwuchs erschien, 
und erklärte sich die Verheiratung des Delbert an einen 
Mann entweder als Folge einer Psychopathie oder 
als die Folge der Sucht von sich reden zu machen 
und die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. 
(The Philadelphia Medical and Surgical Reporter. X. 1890. 
Nr. 43. pg. 90.) Es wäre interessant, wenn einer der 
dortigen Kollegen dieser merkwürdigen Beobachtung auf 
den Grund gehen wollte. Es ist ja immerhin möglich, 
dass Delbert ein männlicher Scheinzwitter ist mit einer 
den Beischlaf gestattenden Scheide und homosexuellem 
Empfinden. 

5) Dailliez (1. c. pg. 37) zitiert als Beispiel von 
Demoralisation eine von Filippi in Florenz beschriebene 
Person zweifelhaften Geschlechtes, die Filippi in einer 
humoristischen Brochure: ,Umo o donna?" beschrieben 
hat Virginia M. sollte eine missbildete Frau sein. 
Schon im 10. Lebensjahre veranlassten sie heftige erotische 
Triebe zur Masturbation. Sie empfand stets Hang zu 
Männern, aber mehr „par besoin d'affection m orale, 
car il me plait" sagte sie „d' €tre libre comme 
l'air et de n'etre commandde par personne, pas 
meme par mes parents." Jm 20. Lebensjahre hatte 
sie den ersten Beischlaf mit einem Mann. „J' avais" 



— 239 — 



schreibt sie, ,,1'esprit plein de cette chose et je la 
dlsirais. Maintenant, j'ai (toujours besoin 
d'£motions et de changer souvent d'homme et de 
pays." Dieser geschlechtliche Hang zu Männern schlug 
später in das Gegenteil um und Virgin ie hatte später 
zweimal den Beischlaf mit Frauen ausgeübt. „8i ce n' 
etait mon physique petit et mäle* fügt sie hinzu, 
je sens que je ferais fortune au milieu des artistes 
dramatiques.* Es liegt eine Aberration des geschlecht- 
lichen Empfindens vor, die heute einer Erklärung noch 
vergeblich harrt. 

6) Guermonprez („Une erreur de sexe avec ses con- 
s£quenccs* Annales d'Hygifene publique. Paris. Septembre- 
Octobre 1892) beschreibt eine ihm am 2. VIL 1892 von 
Dr. Keumeaux aus Dünnkirchen zugesandte Person. 
Das 23jährige Fräulein meldete sich bei Guermonprez 
mit einem Briefe von Keumeaux, der die Worte ent- 
hielt. „Sujet interessant au point de vue psychologique" 
„La personne porte des v€tements de femme d'une 
manifere bien Strange, ses traits sont durs, sa contenance 
embarrass£e, sa parole h&itante et brfeve, et son allure 
aussi £nigmatique que le mot d' introduction qui 1' annonce." 
Dieses Fräulein war vor einer Woche zum Besuche ihrer 
Verwandten eingetroffen und sofort erkrankt unter Er- 
scheinungen der Stuhlverhaltung, des Erbrechens und 
Schmerzen. Man konstatierte eine Inguinalhernie, welche 
sehr tief herabreichte. Es war unmöglich, eine Unter- 
suchung vorzunehmen ohne sofort eine bizarre Ueber- 
raschung zu empfinden! Dieses Fräulein erwies sich als 
Mann! Guermonprez war erstaunt und staunte noch 
mehr, als das Mädchen ihm sagte, sie halte sich für ein 
Weib, habe oft mit Männern den Beischlaf ausgeübt und 
empfinde nur zu Männern geschlechtlichen Trieb. 

«Bizarre contradiction entre la valeur anatomique du 
sujet et les caractäres psychiqucs de ses tendances 



— 240 - 



.sexuelles!" Man beseitigte mit Erfolg die Erscheinungen 
einer Brucheinklemmung durch entsprechende Therapie. 
Am 4. Juli untersuchte G. diese Person genauer: Die 
Stimme war absolut männlich. Einen eigentümlichen Ein- 
druck machte diese Person in ihren weiblichen Kleidern : 
„toilette mal ajustäe: denule de gräce et de legferetl! 
Tous le £l£ments qui la composent sont bien en rapport 
avec les modes de la saison, mais la broche est placee 
maladroitement de cöt£, la ceinture remonte d'avantage 
d'un c6t£ que de l'autre, les fleurs et les rubans de son 
chapeau sont disposäs sans goüt et tout l'ensemble 
repond k une sorte de negligeance qui n'est nullement 
la conslquence d'un mauvais vouloir, mais qui rlsulte 
manifestement de cette absence de bon goüt, de bon ordre, 
de soin de sa personno, de tendance k la parure, qui 
caracterise quelques femmes mal doules, il n* y a rien 
qui ressemble raeme de loin k la coquetterie!* Gesichts- 
ausdruck männlich, tägliches Basieren verlangt der üppige 
Bartwuchs. Der Damm, die Schenkel, die Unterbauch- 
gegend sind stark behaart, die Schambehaarung reicht 
bis an den Nabel. Linkerseits findet sich eine 18—19 cm 
tief herabreichende Inguinoscrotalhernie. Der Leisten- 
kanal lässt bequem zwei Finger zugleich eintreten. Nach 
Reduktion des Bruches tastet man in der scheinbaren 
Schamlefze Hoden, Nebenhoden und Samenstrang. 
Während diese Organe rechterseits von normaler Grösse 
sind, sind sie linkerseits etwas kleiner, atrophisch. Zwischen 
dem gespaltenen Penis und dem Damme liegt eine Scham- 
spalte, in der sich die scheinbar weibliche Harnröhren- 
öflhung und die Oefihung der Scheide befinden. Keine 
Spur von Uterus entdeckt, ebensowenig eine Spur einer 
Prostata. Androraastie. Allgemeinaussehen und Becken 
echt männlich. „Tous les mouvements dlmontrent les 
formes musculaires, les saillies osseuses et articulaires et 
meme les veines souscutanles avec la vigueur et Paccen- 



— 241 — 



tuation qui caractfcrise le sexe masculin." Das Mädchen 
hatte niemals die Periode, wohl aber oft Erektionen und 
Pollutionen. Bis zum Jahre 1891 führte sie wie es scheint 
ein keusches Leben, später jedoch trat sie in ein öffent- 
liches Haus ein, nahm später alle Augenblicke wechselnd 
die verschiedensten Stellungen an, in Bierhäusern, Cafös 
etc.! Sie führte eine „vie de d£bauche" und sank von 
Stufe zu Stufe immer tiefer. Obwohl der Beischlaf mit 
Mäunern ihr Schmerzen verursachte, so blieb sie doch 
bei dem horizontalen Mutier! Guermonprez hält sie 
für psychopathisch affiziert und glaubt, dass diese 
Psychopathie im Zusammenhange stehe mit der ange- 
borenen Anomalie der Geschlechtsteile. 

7) Louet („Des anomalies des organes glnitaux chez 
les d£gdner£s". Thfese de Bordeaux 1889) (zitiert von 
Laurent: „Les bisexu6s,gyn6comastes ethermaphrodites* 
Paris 1894 pg. 215) sah einen männlichen Scheinzwitter 
von weiblichem Aussehen der Geschlechtsteile (wegen 
Hypospadiasis peniscrotalis), „qui dtait manifestement un 
d6s£quilibr£". 

8—9) Magna n (Soci6t£ mldico — psychologique. — 
siehe Laurent: 1. c.) erwähnt ebenfalls zwei männliche 
Scheinzwitter „dlbiles au point de vue intellectuel." 

10) Magnan (Communication ä la Soci£t£ nildico- 
psychologique 28. II. 1887. Archives de Neurologie. 
T. XIII. Nr. 39. Mai 1887 pg. 419) beschrieb einen 
männlichen Scheinzwitter mit Hypospadiasis peniscrotalis 
von weiblichem Aussehen, welcher sich der Päderastie 
hingab (siehe Laurent: 1. c. pg. 208). Dieses als Mäd- 
chen erzogene Individuum war in einer Mädchenschule 
untergebracht worden. Schon im 7. Lebensjahre bemerkten 
die Mitschülerinnen etwas Absonderliches in dem Bau 
der Geschlechtsteile ihrer Schlafgenossin. Sie wurde dann 
in einem Kloster plaziert. Im 13. Jahre verliess dieses 
Individuum das Kloster und trat in das Kloster der 

Jahrbuch II. 16 



— 242 — 



Benediktinerinnen ein, wo man es vorbereitete für das 
Noviziat. Der absolute Mangel jeder Intelligenz, die Un- 
lust zu irgend welcher Arbeit, endlich das Hervorsprossen 
eines männlichen Bartes brachten es mit sich, dass das 
unglückliche Wesen vielfach zur Zielscheibe des Spottes 
gewählt wurde. Infolgedessen verliess dieses Mädchen 
bald das Kloster und kehrte zu seiner Mutter heim. Nach 
dem Tode des Vaters schloss sich das Mädchen an einen 
60jährigen Mann an und reiste mit ihm auf die Insel 
Martinique. Kaum aber war das Paar in Amerika an- 
gekommen, so fing der Mann an, sein Dienstmädchen zu 
poussieren; da er jedoch bald zur Ueberzeugung kam, 
seine desideria werden pia bleiben, dass ein richtiger 
Beischlaf nicht gelingen werde, so entschloss sich das 
Paar zu gegenseitigem buccalen Onanismus. Eine Negerin, 
die in demselben Hause diente, erkannte alsbald den 
Sachverhalt des Baues der Geschlechtsteile ihrer Kameradin 
und lud sie in ihr Bett ein. Das Mädchen kohabitierte 
nun als Mann mit der Negerin, später mit einer Mulattin, 
empfand jedoch weder hier noch dort die Annehmlich- 
keit, welche ihr der angeblich geschlechtliche Verkehr 
mit dem alten Manne bereitete. Nach erfolgter Rückkehr 
nach Frankreich erlangte dieser männliche Scheinzwitter 
endlich die ihm zustehenden männlichen Rechte und trat 
als Infirmier in eine religiöse Genossenschaft ein. 

11) C. E. L. Mayer (Verhandlungen der Gesell- 
schaft für Geburtshilfe in Berlin 1869 pg. 102) (.Die 
Beziehungen der krankhaften Zustände und 
Vorgänge in den Sexualorganen des Weibes zu 
Geistesstörung") beschrieb einen 52jährigen geistig 
gestörten männlichen Scheinzwitter. 

12) Moreau (siehe Laurent: 1. c. pg. 215) stellte 
in der Society mtfdico-psychologique in Paris ein 12 jähriges 
Mädchen vor, bei dem die Untersuchung männliches Ge- 
schlecht feststellte mit Hypospadiasis peniscrotalis, einem 



— 243 - 



erektilen Penis, Kryptorchismus und einem utriculus mas- 
culinus. Das Kind war behaftet mit „D£bilit£ moral e* 
(Bulletin m^dical 3. IV. 1887 — siehe auch: Repertoire 
Universel d'Obst&rique et de Gynäcologie 1887 pg. 321). 

13) Poppesco (, Hermaphrodisme au sexe mal d£- 
fini" in der Arbeit: „L'hermaphrodisme au point 
de vue m£dicol£gal. Thfese. Paris 1874) beschreibt 
pg. J4 folgende Beobachtung. 1867 wurde er zu einem 
Freunde eines seiner Bekannten geholt. Er traf unter 
der ihm gegebenen Adresse einen jungen Mann von un- 
gefähr 25 Jahren an, der jedoch weiblich gekleidet war. 
Langes Kopfhaar, keine Spur von männlicher Gesichts- 
behaarung vorhanden. Die Bewegungen, das Gebaren, 
die Allüren dieser Person waren solche, dass Poppesco 
sich unwillkürlich fragen musste, ob er es mit einem 
Manne oder mit einer Frau zu thun habe. Auf die 
Frage, worum es sich handle, wurde dieses Individuum 
verlegen, bat um Stillschweigen über den Untersuchungs- 
befund, ging dann in das Schlafzimmer, entkleidete sich 
und legte sich ins Bett. „Cette chambre", schreibt P., 
„etait magnifiquement orn£e; des parfums innombrables 
£taient diss£min£s cä et \k tout en un mot dans cet appar- 
tement revdlait la coquetterie la plus efltfminde." Das 
merkwürdige Individuum klagte über Schmerzen in den 
Geschlechtsorganen. Poppesco fand eine Clitoris von 
5 — 6 cm Länge, einen gespaltenen Penis mit Eichel und 
Vorhaut Unterhalb findet sich eine Grube, welche den 
Finger aufnimmt und in der sich die scheinbar weibliche 
Harnröhre öffnet. Die Person hatte weder jemals die 
Periode gehabt noch fand sich eine Spur eines Uterus 
vor. Die grossen Schamlefzen erschienen normal, auf 
der rechten fand sich ein weicher Schanker, weshalb 
Poppesco geholt worden war. Der Bekannte war der 
Liebhaber dieser Person. Die Stimme war weiblich. 
Poppesco fand keine Spur von Hoden; der Brustkorb 

IG* 



— 244 — 



war breit, die Brüste wenig entwickelt. Diese Person 
empfand keine Spur von geschlechtlichem Triebe zu Frauen. 

Da sie vermögend war, hielt sie sich zahlreiche Be- 
dienung und zwar nur männliche. P. sah die Person 
mehrmals in sehr grellen Farben gekleidet, in allerhand 
phantastischer Kleidung. Zu Hause ging diese Frau stets 
weiblich gekleidet umher, sowie sie aber auf die Strasse 
ausging, trug sie männliche Kleider. Da P. nicht im 
Stande war, Hoden oder Eierstöcke zu konstatieren, so 
konnte er auch das Geschlecht dieser Person nicht be- 
stimmen, deren geistiger Zustand ebenfalls unerklärlich 
blieb, jedenfalls aber pathologisch zu nennen ist. 

14) Porti IIa ( „ Annales de Ost^tricia, Ginecopathia 
y Pediatria N: 89, 1888, siehe Referat: Repertoire 
Universel d' Obst£trique de Gyn^cologie et de Pädiatrie 
1888 pg 502. „Pseudohermaphroditi8me feminin*) be- 
schrieb ein in Valencia geborenes, jetzt 20 Jahre altes 
Individuum von 160 Centimeter Körperhöhe, augenblick- 
lich gefänglich inhaftiert wegen Teilnahme an einer 
revolutionären Bewegung. Allgemeinaussehen und Brüste 
weiblich, die Scheide endet blind (?); es existiert ein 
hypospadischer penis. Hoden konnten nicht getastet 
werden. Angesichts dessen, dass dieses Individuum nur 
Geschlechtsdrang zu Frauen empfand und trotzdem ein 
Beischlaf mit einer Frau unmöglich sich erwies, könnte 
man dieses Individuum für einen männlichen Scheinzwitter 
halten, aber das Vorhandensein einer regelmässigen 
Periode spricht für das Vorhandensein von wenn auch 
rudimentären Ovarien, „c'est un homme-femme par son 
aspect, par son caractfcre hautain et indocile, par sa 
conduite comme citoyen; il a £t£ consid£r£ comrae un 
homme a instincts d£prav£s, mlritant la punition de la 
justice." Leider ist die Beschreibung eine sehr wenig 
genaue. 

1 ^ Reverchon („Annales mt'dicopsychologiques 



— 245 — 



V — eme s£rie T. IV. 28 — eme ann£e. pg 377) beschrieb 
eine Person aus der Anstalt für Geisteskranke im Asyl 
in Laroche Gandon: Marie C hupin, die bis zum 30. 
Lebensjahre als Frau gelebt hatte. In jenem Alter be- 
gann sie ihr weibliches Geschlecht zu bezweifeln und 
unterzog sich einer ärztlichen Untersuchung. Das Er- 
gebniss war, dass man sie für einen Mann erklärte und 
ihr männliche Rechte zuerkannte. Um diese Zeit 
herum beging diese Person ein Verbrechen, sie 
6türzte ein Kind in einen Brunnen. Die That 
geschah im Moment einer geistigen Umnachtung. 
Kaffegeau („Du röle des anomalies cong£niales, des 
organes g£nitaux dans le de*veloppement de la folie chez 
l'homme". These. Paris, 1884 pg 38) giebt einige Details 
betreffend diese Beobachtung an: Er hatte die Gelegen- 
heit, Marie Chupin mehrmals zu beobachten in dem 
Asyle de Saint-Gemmes sur Loire, wo er als 
Assistent des Dr. Petrucci arbeitete. Im Jahre 1881 
wurde Marie Chupin in dieser Anstalt beschäftigt als 
Aufwärterin, sie war damals im Alter von 43 Jahren und 
gehörte es zu ihrem Dienste, die Zimmer der Aerzte auf- 
zuräumen. Marie Chupin von hohem Körperwuchse, 
von 171 Centimeter, war sehr kräftig gebaut, hatte einen 
starken Bartwuchs und nur ein Auge, das andere hatte 
sie in der Kindheit eingebüsst aus unbekannter Ursache. 
Die Brüste waren grösser als gewöhnlich bei Männern. 
Der Kehlkopf stand fast gar nicht vor und erinnerte 
mehr an einen weiblichen als an einen männlichen, ebenso 
ist die Stimme eher weiblich. Die Behaarung im Allge- 
meinen ist sehr spärlich mit Ausnahme der Schamgegend. 
Hypospadiasis peniscrotalis: Der 5 Centimeter lange 
penis ist hakenförmig nach unten gebogen, die Harn- 
röhrenöffnung weiblich, die Harnröhre drei Centimeter 
lang. Angesichts des Modus der Harnentleerung findet 
Marie Chupin die männlichen Hosen viel bequemer 



— 240 — 



als ihre frühere weibliche Kleidung. Zu seinem Erstaunen 
fand Raffegeau unterhalb der Harnrohrenöffnung die 
Oeffhung einer für den Finger in der Länge von 9 Centi- 
metern eingängigen Scheide, die in der Höhe blind endete. 
Um die Oeffnungen der Harnröhre und Scheide erblicken 
zu können, musste man die beiden kleinen Schamlippen 
auseinanderziehen, die sich unten mit einer Art frenulum 
mit einander vereinigten. Es handelt sich um ein ge- 
spaltenes Scrotum, rechterseits eine leicht reduzierbare 
hernia inguinalis, nach Reduktion derselben tastet man 
einen Hoden und Nebenhoden in der Schamlefze. 
Während der Erektion krümmt sich der penis noch mehr 
als sonst nach unten, sodass Marie Chupin ihn schwer- 
lich jemals pro coitu mit einer Frau benützt haben dürfte. 
Als Marie Chupin geboren wurde, erklärte die Heb- 
amme, das Kind sei ein Mädchen und der herbeigeholte 
Pfarrer pflichtete dieser Ansicht bei! In der Schule hatte 
Marie sehr schlechte Zeugnisse und hatte nach 18monat- 
lichem Schulbesuche kaum das ABC gelernt. Im 13. 
Jahre jedoch lernte sie ohne fremde Hülfe lesen und 
begann alsbald mit besonderem Eifer religiöse Bücher zu 
lesen, sie empfand einen ganz besonderen Reiz darin, sich 
mit Angelegenheiten zu beschäftigen, welche Kirche und 
Religion anbetrafen und gehörte zu mehreren Kongre- 
gationen, indem sie deren Vorschriften streng beobachtete. 
Als sie mehr herangewachsen war, bemerkte sie mit 
Schrecken, das« ihre erwartete Periode ausblieb, ebenso- 
wenig nahmen ihre Brüste an Umfang zu, statt dessen 
fand sich ein männlicher Bartwuchs, welcher sie zwang, 
sich ständig zu rasieren. Immerhin erwartete Marie 
noch immer ihre Periode und Hess sich, um deren Ein- 
treten zu beschleunigen, Blutegel setzen, gebrauchte heisse 
Fussbäder mit Senf etc! Endlich jedoch machte sie sich 
vertraut mit dem Gedanken an das Ausbleiben der Periode, 
Im 35. Jahre erkrankte sie an Typhus und drei Jahre 



— 247 — 



später ereignete sich ein Zufall, der Marie Chupin in 
das Irrenbaus führte. Schon seit längerer Zeit schlief 
Marie in einem Bette mit einer sehr schönen Kousine 
aus Nantes und begann damals ihr weibliches Geschlecht 
anzuzweifeln, ja sie hob sogar den Unterrock und das 
Hemd einer anderen 14jährigen Kousine in die Höhe, 
um das Aussehen der Geschlechtsorgane derselben mit 
dem der eigenen zu vergleichen! Der Gedanke, dass sie 
anders gebaut sei als andere Frauen, fing an, sie beständig 
zu quälen, und sie trug sich seit längerer Zeit mit der 
Absicht, einen Arzt zu fragen, was das bedeute. An- 
dererseits kam sie oft in Streit mit ihrem älteren Bruder, 
der bis zur Schlägerei führte. Endlich beschloss Marie, 
ihren Heimatsort zu verlassen, jedoch verweigerte man 
ihr die Auslieferung eines Passes. Sie verfiel damals auf 
die schreckliche Idee, welche eine psychische Anomalie 
und religiösen Fanatismus verrät: Nur um arretiert und 
untersucht zu werden, beschloss sie einen Mord zu be- 
gehen, sie ergriff eines Morgens das Kind einer Nach- 
barin und stürzte dasselbe in einen 32 Fuss tiefen Brunnen. 
Sofort nach dieser Unthat, ohne sich um das Loos des 
Kindes zu kümmern, das"" übrigens gerettet wurde, begab 
sie sich in die Gensdarmerieverwaltung des Ortes, um 
ihr Verbrechen zu bekennen, sie erklärte, sie häbe sich 
an ein Kind gewandt „parcequ' il etait en £t&t de gräces 
et qu'il £tait sur d'aller au ciel. Au reste il esp£rait* 
schreibt Raffegeau „que la Sainte Vierge ferait un 
miracle et que son action servirait seulement ä faire re- 
connattre son identitä.* Im Oktober 1868 wurde Marie 
Chupin in weiblicher Kleidung in das Irrenasyl einge- 
liefert. Binnen Kürze verwechselte sie das weibliche 
Kostüm mit einem männlichen und verriet starke Ge- 
wissensbisse und Reue nach ihrer That, „mais ses id£es 
restaient bizarres, on se voyait en prlsence d'une intelli- 
gence mal Iquilibrle, et aujourdhui encore, on doit h£siter 



— 248 — 



avant de tenter un essai de sortie!" In der Familie der 
Marie Chupin gab es mehrere Fälle von Geisteskrank- 
heit, auch war ein Epileptiker darunter. Marie resp. 
der Mann, wenn Marie ein solcher ist, verrät eine De- 
generation psychischerseits. 

16) Ricoux und Aubry („Un prltendu androgyne 
dans un Service de femme". Le Progres mddical 1899 
Nr. 37 pg. 183): Es handelt sich um die Beschreibung 
eines Individuums, welches die beiden Aerzte untersuchten 
in der Anstalt für Geisteskranke in Mar£ville. Die Be- 
obachtung ist doppelt interessant, erstens, weil das In- 
dividuum einen bisexuellen Lebenswandel trieb, zweitens, 
weil man irrtümlicherweise einen 72 jährigen Mann in der 
Abteilung für kranke Frauen untergebracht hat! Nach 
der Geburt dieses Individuums wurde verzeichnet, es ge- 
höre dem hermaphroditischen Geschlechte an (sie!) und 
wurde ihm ein doppelter Vorname gegeben, ein männ- 
licher und ein weiblicher. Nach Abfluss eines Jahres 
fand eine Untersuchung auf Veranlassung des Prokurateure 
statt und wurde das Geschlecht als männlich bestimmt. 
Dieses Individuum war 1828 geboren. In seiner Familie 
waren bisher keinerlei Missbildungen beobachtet worden. 
Einer der Brüder ist verheiratet und hat Kinder. Bis 
zum 10. Jahre wurde dieses Individuum als Knabe er- 
zogen, damals aber gaben ihm die Eltern weibliche Klei- 
dung, weil das Kind nicht im Stande war zu harnen, ohne 
sich die Hosen zu beschmutzen und weil sie dem vor- 
beugen wollten, dass der Sohn zum Militär genommen 
werde. Von jener Zeit an bis zum Eintritt in die An- 
stalt, galt dieses Individuum als Zwitter, „il resta un 
homme-femme." Die weitere Beschreibung zitiiere ich im 
Original: „Suivant la manifere assez repandue en Lorrain 
de d&igner par les diminutifs en: „on* comme Manon, 
Fauchon etc. les femmes au type raasculin, D. fut 
appell Finon. IVune intelligence ddbile, il frlqnenta 



— 249 — 



peu P£cole et fut employ£ k la garde des pourceaux. 
Devenu plus grand, ses travaux restferent plutöt des 
travaux d'homme: il travaillait au bois, fauchait et s'£tait 
fait une sp£cialit£ des plus rüdes besognes: £quarissage, 
forage des puits, vidange etc. Quand les occupations 
masculines lui faisaient d£faut, D. tricotait et faisait la 
lessive; malgr£ le costume feminin, les allures de D. 
£taient celles d'un homme. Porteur d'une forte barbe, il 
se rasait chaque seraaine, montait k cheval, fumait, jurait 
et s'enivrait. II lui arrivait parfois, aprfcs avoir absorbl 
de copieuses rations d'eau de vie, de s'attaquer aux 
femmes, elles , auraient eft souvent k se dlfendre contre 
ses attentats qui ne pouvaient cependant pas avoir de 
grandes cons£quensces, le coit lui £tant anatomiquement 
impossible. IVautre part il aurait jou£ le role inverse 
vis-k-vis de soldats d'une garnison voisine. II £tait d* 
ailleurs l'objet de curiositl et connu dans le pays sous 
Pltiquette de femme k barbe. En resum£ d'aprfes ce 
qui pr^cede, nous voyons que D. avait une existence ab- 
solument bisexu£e, alliant aux travaux des champs et 
aux habitudes du sexe fort des occupations et im costume 
tout f&ninin. Am£n£ k P ksyle fin Juillet 1899 pa* le 
garde champetre de son village, D. marchait tres difficile- 
ment et donnait le bras k son conducteur. II s* £tait vdtu 
d' habits de femme usls, corsage et jupe noirs, chemise 
sans manche, et bonnet k ruches. 

Son visage bien que fraichement rase, contrastait 
singuliferement avec son bonnet blanc. Ädmis k P ksyle 
en vertu d* un arret administratif avec des pifeces ne 
donnant que des renseignements trfes succincts de ses 
antecedents, il fut envoy£ par les bureaux dans le Service 
des femmes en raison de ses pr£noms et de son costume. 
La personne qui P accompagnait n' ayant pu fournir 
aucun renseignement.") 

„Alite dfes son arriv^e dans un dortoir de femmes, 



— 250 — 



D. trfes sourd d' ailleurs, n' eut nullement 1' air depaysä 
dans ce milieu. Immldiatement mis ea £veil par ses 
allures et sa voix, nous 1' avons examinl facilement saus 
provoquer de sa part aucun Itonnement ni aucun senti* 
meut de pudeur, et nous avoos constatl, ce qui suit: les 
cheveux sont assez courts, gris et rares. D. nous dit de 
ne les avoir jamais coupl. La face trfes masculine nous 
montre un systfeme pileux, trfes bien d£velopp£. Les 
oreilles sont assym&riques, mal cerclls et nou perctfes, la 
droite est sensiblelent deform£e. Le sujet ne präsente 
pas a la face de signes de deg^nerescence. Les muscles 
du cou sont bien developp^s ; le cartilage , thyr^oide fait 
une forte saillie, il est dur et surmonte un corps thyroide 
peu volumineux, le lobe median prldomine sensiblement. 
La voix, forte et grave en temps ordinaire, s' adoucit 
quand le malade assez craintif manifeste un sentiment de 
frayeur. Le syst&me osseux est en g£n£ral trfes d£velopp<5, 
les membres sup£rieures sont bien muscl£s, les avantbras 
sont aplatis, les mains noueuses et 1 arges.* 

„Les membres införieurcs sont maigres bien muscles. 
Quelques poils assez rares recouvrent la r£gion du genou. 
U arcade plantaire est tres accas^e. Le thorax est bien 
conforml, cylindrique, recouvert de pectoraux vigoureux. 
Quelques poils au niveau des mamelons, ces derniers 
etant petita, tr^s peu saillants, le tissu glandulaire sous- 
jacent fait totalement ddfaut. Le ventr« plat est niarqul 
par un ombilic saillant qui se trouve a 20 centini&tres de 
1' appendice xiphoide. L' ossature du bassin est tont ä 
fait masculine. La distance entre P ombilic et le m£at 
urinaire est de quatre centimfetres et demi. Le systfeme 
pileux de la rlgion glnitoanale est normalement d^veloppe.* 

„Les organes glnitaux sont ceux d'un Ipispade com- 
plet avec monorchidie. Les penis est aplati et relevl 
contre l'abdonien au quel il est en quelque sorte accol£, 
ne permettrait pas le coit, l'intromission n'ltant 



/ 



— 251 — 

gufcre possible et le sperme en cas d'äjaculation ne pouvant 
Stre proj6t4 que sur l'abdomen. II raesure 5lj milimetres 
de longueur et 35 de largeur h la naissance et 46 an 
niveau du gland. La paroi supärieure est constitu£ par 
Purfctre £tal£e, präsentant ses dätails anatomiques normaux, 
et se continuant dans la vessie par une crSte divisant en 
deux un m£at v£sical, dont les dimensions sont de 15 
millimgtres horizontalement, et verticalement sur la ligne 
mediane de deux mi Uimfetres seulement. La face infiSrieure 
du pdnis nous montre un gland 6tal6 uni par un frein 
tres court k un pr£puc e sans adh£rences, qui se continue 
par les faces laterales avec 1 'uretre pr£c£demment d£crite. 
Le scrotum lisse, sans poils, ne präsente pas de cicatrices; 
il est normalement retractile, le raphe est bien marqul. 
On y trouve h. droite un testicule de volume peu ijif^rieur 
ä la normale, de sensibilite trfes exag£r£e, de consistance 
assez molle, coiffß d'un £pididyme nettement perceptible. 
Les canaux d£ferents semblent normaux des deux c6t£s. 
Le gauche se continue avec une petite masse molle, nodu- 
leuse, de volume d'une grosse lentille. Pas de testicule 
de ce cöt£. L'anus large dilatl pennet facilement le 
toucher rectal qui fait sentir une prostate atrophi^e.* 

Nach Konstatierung des männlichen Geschlechts 
wurde D. in die für Männer bestimmte Abteilung ge- 
bracht. Es gefiel ihm dort keineswegs und schien er 
sehr geniert zu sein durch die männliche Kleidung. Er 
verstand es aber sehr bald, sich dem Zwange der männ- 
lichen Kleidung zu entziehen, indem er sich die Hosen 
am Damme zerriss, um In der Weise harnen zu können 
wie früher. Diese Beobachtung ist um so interessanter, 
als trotzdem schon im zweiten Lebensjahre das männliche 
Geschlecht festgestellt worden war, dennoch dieses Indi- 
viduum 70 Jahre lang als Frau weiter lebte, sich selbst 
zeitlebens für eine Frau hielt und auch von seiner Um- 
gebung für eine Frau gehalten wurde. „L'erreur menle 



jusqu' ä un asyle d'ali^n&s par Pommission de l'envoi d'un 
extrait de naissance aurait peut^etre dur£ jusqu* k sa 
mort si un examen des organes glnitaux ne l'eüt fait 
rev£ler." Die Autoren verlangen, man solle jeden geistes- 
kranken Patienten bei seiner Aufnahme unbedingt auch 
auf sein Geschlecht hin untersuchen, da nur so etwaigem 
Unheil vorgebeugt werden könne. Im gegebenen Falle 
war freilich jede Sorge dieser Art ausgeschlossen, da D # 
überhaupt nicht fähig war zur Vollziehung oder auch nur 
zu dem Versuche eines geschlechtlichen Aktes. 

17) White: „A Hermaphrodite in insane Asylum* 
(Daniels Texas M. J. Austin 1890—1891 Vol. VII. 
pg. 19G). Leider war mir nicht einmal ein Referat dieser 
Beobachtung zugänglich, geschweige denn die Original- 
arbeit White's. 

18) Comstock („Alice Mitchell of Memphis 
a case of sexual perversion of Urning* New- York Medical 
Times 1892—1893 Vol. XX pg. 170) beschreibt folgende 
Beobachtung: Zwei Fräulein verliebten sich in einander 
und gaben sich der Lesbischen Liebe hin. Als die eine 
von ihnen sich später mit einem Manne verlobte, so ent- 
brannte die verlassene Freundin in einer solchen Eifer- 
sucht, dass sie die frühere Lesbos-Gefährtin ermordete, 
indem sie erklärte, sie könne ohne dieselbe nicht leben. 
In der Gerichtsverhandlung wurde die Frage erhoben 
nach der „pervertits sexuality" und dem krankhaften 
Geisteszustände dieser Person. 

Ich konnte leider nicht in Erfahrung bringen, ob das 
Gericht im gegebenen Falle bei seinem Entscheide eine 
sexuelle Perversion berücksichtigte oder nicht? War 
diese Person, welcher der unerfüllte Geschlechtstrieb eine 
Mordwaffe in die Hand zwängte, nicht einfach ein männ- 
licher Scheinzwitter? Diese Angelegenheit soll erörtert 
worden sein.: The Medical Reeord, 1892 Vol. XVI. pg. 
104: „Lesbian Low and Murder*. Es wäre er- 



— 253 — 



wünscht, die Originalbeschreibung dieses Falles zu 
kennen. 

Es ist Sache des Psychopathologen, die einzelnen 
Fälle kritisch zu beurteilen. Sehr eingehend erörtert die 
Frage nach dem Zusammenhange zwischen Missbildungen 
der Geschlechtsteile und der Entwicklung von Geistes- 
anomalien Raffe geau in seiner These: „Du röle des 
anomalies cong£niales des organes gänitaux 
dans le d^veloppement de la folie chez Phomm e* 
Paris 1874. Die interessanten Schilderungen Raffegeau's 
machen es leicht verständlich, wie namentlich Kryptor- 
chismus, Pseudohermaphroditismus nur allzuleicht zu 
Melancholie, Verfolgungswahnen führen können. Ebenso 
interessant ist auch der Aufsatz von Poppe sco: „De 
l'herm aphrodisme au point de vue m£dicol£gal" 
These, Paris 1874, der Aufsatz von Legrand du 
Saulle: »Les signes physiques des folies 
raisonnantes" Annales m£dico-psychologiques, Paris 
1877, und sei das Studium dieser Aufsätze Jedem 
empfohlen, der sich für die Koincidenz geistiger Anomalien 
mit Scheinzwittertum interessiert. 



Michel Angelo's Urningtum. 

Von 

Dr. jur. Numa Praetorius. 

Eine grosse Anzahl berühmter Männer ist der Homo- 
sexualität verdächtigt worden. 

Bei Vielen mag es zweifelhaft sein, ob dieser Ver- 
dacht begründet ist und überhaupt schwer sein, die 
völlige Wahrheit zu erfahren, bei Keinem jedoch tritt 
die urnische Natur so unzweideutig zu Tage, wie gerade 
bei Michel Angelo.*) Deshalb begreift man es nicht, wie 
immer noch die meisten Gelehrten den Gefühlen des 
grossen Meisters verständnislos gegenüber stehn. Auch 
der letzte Herausgeber der Dichtungen M. A/s**) kann 
sich die Liebesgefühle des Künstlers nicht erklären und 
spricht in seinen kritischen Anmerkungen von dem zur 
Zeit des Dichters herrschenden Freundschaftskultus, von 
dem Geschmacke des damaligen Zeitalters für eine über- 
schwengliche Lyrik u. dgl. 

Aehnlich drückt sich auch der Verfasser eines im 
September 1898 in den „Grenzboten 44 erschienenen, die 

*) Z. vgl. auch Molls in der dritten Auflage seiner r Conträren 
Sexualempfindung" (Berlin 1899) S. 118: „Man möge es nur ganz, 
unverblümt aussprechen, dass manches Michel Angelo betreffende 
Rätsel, insbesondere seine Gedichte, am ehesten erklärbar sind, 
wenn man die urnische Natur des Künstlers annimmt." Ferner 
Carpenter: „Die homogene Liebe" (Leipzig, Spohr) S. 8 und 9. 

**) Karl Frey: Die Dichtungen von Michel Angelo-Buonarrotti, 
Berlin 1897. 



— 255 — 



neue Herausgabe Frey's besprechenden Artikels aus. Es 
berührt wirklich eigentümlich, wenn heute noch trotz der 
Forschungen über Urningtum gelehrte Philologen in 
Michel Angelo's Seelenleben ein Rätsel erblicken, während 
doch des grossen Künstlers Schriftwerke beredt uns 
künden, dass er ein Konträrsexualer war. 

Wenn man nicht annehmen will, was kaum glaublich 
erscheint, dass gebildete Litteraten die Forschungen über 
mannmännliche Liebe nicht kennen, so bleibt nur die 
eine Erklärung übrig, dass sie beim Studium von Michel 
Angelo seine konträre Sexualempfindung einfach ver- 
schweigen, aus Furcht, das Ansehen des berühmten 
Mannes könne darunter leiden. 

Desshalb ist es doppelt angezeigt, auf Grund der 
über Michel Angelo bekannten Thatsachen und insbesondere 
seinen veröffentlichten Sonetten und bekannt gewordenen 
Briefe seine Homosexualität nachzuweisen. 

Dieser Nachweis wird uns besonders erleichtert durch 
das schon im Jahre 1892 erschienene Buch von Schettler: 
„Michel Angelo eine Renaissancestudie 41 (Altenburg, Ver- 
lag von Geibel). Scheffler, von den obigen Vorwürfen 
frei, hat uns den wahren Michel Angelo erst erschlossen. 

Scheffler hat die Entstehung der Gedichte und 
Briefe, sowie die Verhältnisse und Erlebnisse, aus denen 
sie herausgewachsen sind, in überzeugendster Weise ge- 
schildert und den Mut gehabt, unbekümmert, ob seine 
Feststellungen opportun erscheinen mögen oder nicht, 
den eigenartigen Eros Michel Angelo's darzulegen. 

Allerdings erwähnt auch Scheffler nicht, dass es sich 
bei Michel Angelo um konträre Sexualempfindung handelt 
und versäumt es, des Künstlers Gefühle mit ihrem 
wahren Namen als homosexuelle zu bezeichnen, daher 
haftet auch seinen Schlussfolgerungen und Ausführungen 
eine gewisse Unklarheit und Unsicherheit an. 

Nur dann, wenn man Michel Angelo vom Gesichts- 



- 256 — 



punkt der Homosexualität aus betrachtet, nur dann kann 
man ein völlig klares Bild seiner ganzen Persönlichkeit 
und ein rechtes Verständnis seiner Dichtungen erhalten. 

Die Veröffentlichung und Erklärung der Schriftwerke 
Michel Angelo's hat eine wechselvolle Geschichte hinter 
sich, über die uns Scheffler eingehend berichtet. 

Schon zu Lebzeiten M. A.'s veranstaltet ein Zeit- 
genosse, Varchi, Vorlesungen über die Sonetten des be- 
rühmten Künstlers. 

Varchi verschweigt nicht, dass eine Anzahl von 
Sonetten an den intimen Freund M. A.'s, den jungen 
Tommaso de Cavalieri, gerichtet sind, und bezeichnet auch 
des Dichters Liebe zu seinem Freund als eine socratische, 
voll platonischer Gedanken. 

Nach Varchi kommt, wie Scheffler sich ausdrückt, 
das System der Verdunkelung der Thatsachen auf. 

Zunächst Condivi — noch bei Lebzeiten M. A.'s — 
und dann später im 17. Jahrhundert ein Grossneffe M. 
A.'s suchen die wahren Gefühle des grossen Künsters zu 
vertuschen. Während Condivi M. A/s freundschaftliches 
Verhältnis zu einer älteren Dichterin, der Marquese 
Vittoria Colonna, als Liebesleidenschaft darstellt, revidiert 
der Grossneffe einfach den Text der Sonette nach seiner 
Willkür. Er lässt aus, was ihm nicht passt und allzu 
deutlich M. A.'s Liebe zu Jünglingen zum Ausdruck- 
bringt, deshalb ändert er an manchen Stellen einfach das 
„Signior" in eine „Donna". 

Erst in unserem Jahrhundert wurde der fromme 
Betrug des Grossneffen entdeckt; erst in unserem Jahr- 
hundert sind auch die Briefe M. A/s herausgegeben 
worden, welche ein neues Licht auf seine Gefühlswelt 
werfen.*) 

*) Ein grosser Teil der an M. A. gerichteten Briefe sind noch 
nicht veröffentlicht. Wahrscheinlich liegt der Grund dieser Säumnis 
in dem allzu deutlichen Charakter dieser Korrespondenz. 



— 257 — 



Die Thatsache, das zahlreiche Briefe und Gedichte 
Liebesleidenschaft atmen und trotzdem an Jünglinge ge- 
richtet sind, kann man nunmehr kaum noch leugnen. 
Die einen (so z. B. der Italiener Guasti) wollen M. A/s 
Ausdrucksweise aus dem herrschenden Zeitgeschmack 
erklären, ein anderer (so Lange in „M. A. als Dichter 
1861) fasst den Inhalt der Sonette symbolistisch auf. 
Die Liebe M. A.'s sei sein künstlerisches Ideal, unter dem 
geliebten Gegenstand sei die Idee der Schönheit zu ver- 
stehen; in einigen Gedichten sei unter symbolischem Ge- 
wände seine Vaterstadt Florenz besungen, ja sogar seine 
politischen Schmerzen habe der Dichter in die Form von 
Liebessonetten eingekleidet. 

Bei Langes Erklärungen weiss man nicht, ob man 
sich mehr über dessen Naivetät oder seine vielleicht mehr 
oder weniger bewusste Selbsttäuschung wundern soll. 

Aehnliche seltsame Deutungen müssen sich auch M. 
A/s Briefe gefallen lassen. Gotti (Vita di M. A. Firenze 
1875) ist zwar genötigt, ihren erotischen Inhalt zuzugeben, 
er meint aber, die an Männer gerichteten Liebesbriefe 
seien thatsftchlich für die Marquese Vittoria Colonna be- 
stimmt gewesen, die Adressaten seien nur als Mittels- 
personen aufzufassen! 

Scheffler verwirft alle diese gesuchten und phan- 
tastischen Erklärungsversuche und stellt die wahren 
Thatsachen auf Grund des Quellenmaterials, soweit es 
ihm zugänglich war, fest. 

Er weisst nach, dass die einzige Frau, welche in 
M. A.'s Leben eine grössere Rolle gespielt hat und auf 
die sich eine Anzahl von Gedichten bezieht, die Marquese 
Vittoria Colonna, nur in freundschaftlichem Verhältnis 
zum grossen Künstler gestanden habe und dass nur Freund- 
schaft, aber keine Liebe beide verband. „ Siebenundfünfzig 
Jahre muss der Künstler erst werden/' bemerkt Scheffler 
treffend, „um von dem „kalten platonischen Lächeln* 

Jahrbuch II. 17 



- 258 — 



einer frommen Matrone in Liebesglut entzündet zu werden? 
Tote, stumme Zeit im Herzen, die dieser verspäteten 
Episode vorhergeht, Kälte des Alters, die ihrem Ablauf 
folgt?! Das wäre an einer abnormen Natur überhaupt 
schon schwer zu begreifen. 

Bei Michel Angelo's feurigem Künstlertemperamente 
ist diese Vorstellung geradezu eine Unmöglichkeit, eine 
Aufhebung seines sonstigen Seins." (Scheffler S. 155.) 

Mit Recht stellt Scheffler fest, dass die der Colonna 
gewidmeten Gedichte im Gegensatz zu den Sonetten an 
Cavelieri einer echten Liebesleidenschaft entbehren und 
nur die an Jünglinge gerichteten Dichtungen wirkliche 
echt empfundene erotische Gefühle wiederspiegeln. 

Scheffler zögert auch nicht, es offen auszusprechen, 
dass nicht blosse Freundschaft den Meister beseelt, son- 
dern wahre Liebe mit sinnlicher Grundlage, «der in der 
Glut wahrer Leidenschaft sich offenbarende Eros. * ( Varchi). 

Bei der Erklärung von Michel Angelos Erotik betont 
Scheffler besonders, dass Piatos Werke und Gedanken 
und sodann das ästhetische Gefühl die Liebesrichtung 
des grossen Meisters beeinfiusst hätten. 

Für Michel Angelo sei der schöne Mensch ein Kunst- 
werk gewesen. Das reine ästhetische Gefühl habe zu 
Freundschaft und Liebe geführt. In dem schönen Körper 
habe er ebenso wie Plato nur das Abbild der seelischen 
Schönheit, das Urbild der himmlischen Liebe gesucht 

Die Bedeutung beider Einflüsse ist nicht in Abrede 
zu stellen. Michel Angelo selber spricht sich sehr oft 
gerade in Bezug auf die Liebe ähnlich wie Plato aus, 
z. B. in folgendem Sonett (Scheffler S. 89): 

„Die Liebe, die ich für dich, für die Schönheit, hege, stammt 
im Grunde gar nicht aus dem Herzen, (das auch würdige Gedanken 

hegt) sondern das gesunde Auge erfaast sie nur In deinen 

Augen lebt der Abglanz des Paradieses, wo ich früher weilte. 
Wie das Feuer mit der Wärme, ist meine Liebe mit diesem Ewig- 
schönen verbunden. Um dorthin also zurückzukehren, wo ich Dich 



— 259 — 



früher (im Paradiese) liebte, stürze ich erglühend unter Deine 
Augenbrauen." 

Die Ursachen dieser Liebe liegen aber tiefer, nämlich in 
der eigenartigen konstitutionellen Anlage Michel Angelo's. 
Denn warum erblickt er das Schönheitsideal in dem 
jungen Mann und nicht in dem schönen Mädchen? Warum 
liebt er glühend Jünglinge, die, wie Scheffler richtig be- 
merkt, weder ihrem Alter noch ihrer unreifen Bildung 
nach die tiefe Seelenliebe des Meisters zu rechtfertigen 
vermögen? Warum ist ihm Plato und nicht der viel 
näher liegende Petrarca vorbildlich geworden? 

Weil Michel Angelo in Plato dem verwandten Geist 
begegnet und in seinen Lehren Entschuldigung und 
Rechtfertigung seiner eigenen Liebesrichtung findet ; weil 
er eben ein Urning, ein Konträrsexualer ist, dessen Natur 
ihn zwingt, Jünglinge und nicht Mädchen zu lieben. 

Michel Angelo selber hebt die Notwendigkeit und 
Natürlichkeit seiner Liebe an einigen Stellen hervor: 

„Und weiterhin handle ich in meiner Liebe ja auch unter einem 
Naturzwange, der mich entschuldigt." Ferner: 

„Wenn ich im Anblick Deiner göttlichen Schönheit erglühe, 
ist das nur Trost, dass ich demgegenüber nicht anders kann." 
(Scheffler S. 91.) 

Das wichtigste Liebesverhältnis im Leben Michel 
Angelo's ist dasjenige mit dem jungen Cavalieri. 

Ungefähr im Jahre 1532 lernt ihn der Künstler 
gelegentlich eines vorübergehenden Aufenthalts in Rom 
kennen. Während des Jahres 1533 entwickelt sich dann 
eine von Michel Angelo ausgehende Korrespondenz 
zwischen beiden, in welcher der Meister den gewaltigen 
Eindruck, den Cavalieri auf ihn gemacht hat, und die 
Sehnsucht, ihn wiederzusehen, offen zum Ausdruck bringt. 

Ein Passus eines auf der Rückseite eines Briefes be- 
findlichen Madrigales, das die damaligen Gefühle Michel 
Angelo's wiederspiegelt, mag hier angeführt werden: 
„Die Liebe nimmt so mich ein und will es auch nicht, das« ich 

IT 



— 260 — 



Anderes begehre, als was Dir gleiche. Und da von Deinen Augen- 
brauen allein Tugend, Ehre, Leben, Heil abhängen, kann auch meine 
Seele — von den Sinnen beschwert — nur durch Dich klar er- 
fassen, was die Natur mir verbirgt und der Himmel mir verhüllt. 11 
(Scheffler S. 46.) 

Aus demselben Jahr entstammt wohl auch folgendes 
Sonett: 

„Ich sehe mit Euren schönen Augen ein süsses Licht, das ich 
nicht mit den eigenen blinden erblicken kann. Mit Euren Füssen 
vermag ich auf meinen Schultern ein Gewicht zu tragen, das zu be- 
wältigen mir nicht gegeben ist mit meinen lahmen Füssen. 

Mit Euren Flügeln schwinge ich mich auf, selbst flügelarm. 
Mit Eurem Geist fühle ich mich stets zum Himmel erhoben. Nach 
Eurem Gefallen werde ich bleich und heiss, bin in der Sonne kalt 
und fühle mich erwarmen im starken Frost. 

Mein Wille ist in dem Euren beschlossen, meine Gedanken 
entstehen in Euren Herzen, und meine Worte leben in Eurem Atem. 

So scheint es, ich bin wie der Mond, der für sich allein nicht 
leuchtet, da unsere Augen ihn nicht am Himmel zu sehen vermögen, 
ausser wenn die Sonne ihm Glanz giebt." (Scheffler, S. 49—50.) 

Im Dezember 1533 kann Michel Angelo endlich 
Florenz verlassen und begiebt sich nach Rom. Von 
dieser Zeit an dauert nun das feste Freundschaftsverhält- 
nis zwischen ihm und Cavalieri 32 Jahre lang bis zum 
Tode des Meisters. Cavalieri wird Michel Angelo's 
Schüler, er gewinnt einen Einfluss auf ihn wie Niemand 
jemals vorher; erjdarf seiner unvergleichlichen Schönheit 
wegen der Einzige sein, dessen Porträt Michel Angelo 
malt, er bekommt eine Reihe von Zeichnungen des 
Künstlers von diesem geschenkt; auf seinen Antrieb hin 
verfertigt Michel Angelo das Modell für die Kuppel zur 
Peterskiche. Während der letzten Krankheit des Meisters 
verläs8t Cavalieri nicht das Bett des Freundes, er trifft 
die letzten Maasnahmen vor Ankunft des Erben ans 
Florenz. Von dem Erbvollstrecker erhält er die schon 
zu Lebzeiten des grossen Künstlers für ihn bestimmten 
Cartons mit Zeichnungen Michel Angelo's zugeteilt 
(Scheffler, S. 55). . 



— 261 — 

Einen deutlichen Einblick in Michel Angelo's Ge- 
fühle für Cavalieri gewähren uns die an diesen gerichteten 
zahlreichen Gedichte, von denen noch einige hier Platz 
finden mögen: 

(Wir entnehmen die folgenden, ebenso wie die später 
zitierten, aus derUebersetzung von Walter Robert-Tornow; 
Ausgabe von Georg Thouret, Berlin, Haude u. Spener'sche 
Buchhandlung 1896.) 

Nr. 34: Ich spiegle mich in Dir und ans der Ferne 
Erfleh ich, heim zum Himmel zu gelangen; 
Gleichwie ein fisch am Haken wird gefangen, 
Also geködert, komm 1 zu Dir ich gerne! 
Und weil ein schwankend Herz nur dürstig schlägt, 
Hab ungeteilt ich mein's Dir hingegeben, 
Dass ich (Du kennst mich ja!) fast brach zusammen, 
Und weil die Seele gern das Beste hegt, 
Muss ewig ich dich lieben, will ich leben .... 
Ich bin nur Holz, und Du bist Holz in Flammen! 

Nr. 48: Wenn in den Augen wir die Seele sehen, 
Sind meine meiner Gluten klarstes Zeichen; 
Um Deine Gunst, mein Liebling, zu erreichen, 
Genüge dies ! Du wirst mich nun verstehen. 

Siehst Du in keuscher Glut mich fast vergehen, 
Wird sich vielleicht Dein Sinn für mich erweichen, 
Mir glaublich kaum, vertrauend ohne Gleichen, 
Wie Huld Die überströmt, die sie erflehen. 

0 sel'ger Tag, der einst Gewissheit bringt! 
Erbarmt Euch, Zeit und Stunde, Tag und Sonne: 
Steht plötzlich still in Eurem ew'gen Gange; 

Dass mir's auch ohne mein Verdienst gelingt, 

Zu schliessen in die Anne voller Wonne 

Den holden Freund, nach dem ich längst verlange! 

Nr. 50: Ich weine, mich verzehrt der Liebe Brand 

Und nährt mein Herz! 0 süsses Schicksal Du! 
Wer neigt sich, sterbend nur, dem Leben zu, 
Wie ich, dem Trübsal ward zum Lebensband ? 



— 2G2 — 



Grausamer Schütz, die Hand ist Dir bekannt, 
Wo uns're kurzen Qualgedanken Du 
Mit starker Hand versenkst in Seelenruh! 
Nie stirbt ja, wer durch Tod sein Leben fand ! 



Als Michel Angelo Cavalieri's Bekanntschaft machte, 
war er schon in den Sechszigern. Cavalieri ist aber weder 
der erste noch der einzige Jüngling, der Michel 
Angelo's Liebe entfacht hat. Schon lange vor Cavalieri's 
Begegnung haben ihn Jünglinge gefesselt; so sagt Michel 
Angelo selber in einem Brief an seinen Freund Riccio: er 
vermöge sich nicht gegen den Liebeseindruck zu waffnen 
„da ein Tag die Gewohnheit langer Jahre nicht tilgt* 
(Scheffler S. 167.) 

Dass auch andere Jünglinge als Cavalieri ihm Liebe 
eingeflösst haben, zeigt z. B. folgendes Gedicht an Febo 
die Poggio: 

Vor Deiner Augen Pracht 

Sinkt jeder Blick, der Trotz ist tiberwunden! 

Wenn einer je den Freudentod gefunden, 

Geschieht's in solchen Stunden, 

Wo Schönheit unterliegt der Liebe Macht. 

Ich sank in Todesnacht, 

Wenn sich raein Herz im Feuer nicht bewährte, 

Durch deinen vielversprechend ersten Blick, 

Vor dem ich nie zurück 

Mein Auge hielt, das sehnend mich verzehrte. 

Wenn Schwäche mich zerstörte, 

Wärst du nicht Schuld; ich dürfte gar nicht klagen! 

Du Huld und Schönheit, die Du niemals endest, 

Zu Grabe mehr Du sendest 

Je mehr Du Gnade spendest; 

Bewundrer musst Du ja mit Blindheit schlagen ! 

Michel Angelo's Liebe zu Jünglingen tritt uns sodann 
gerade in seiner Korrespondenz mit dem schon erwähnten 
Riccio entgegen. Sein Verhältnis zu letzterem ist ein 
eigentümliches. Riccio ist nämlich ebenso geartet wie 



der grosse Künstler selber, auch er schwärrat für schöne 
Jünglinge und besonders für einen, den frühzeitig — im 
17. Lebensjahr — verstorbenen Cecchino Bracci. 

Eiccio, dem Gleichgesinnten, gegenüber, thut sich 
Michel Angelo keinen Zwang an, dem verständnisvollen 
Vertrauten braucht er seine Gefühle nicht zu verbergen. 

In den Briefen an Riccio findet sich deshalb manche 
Stelle, wo Michel Angelo unverhohlen seine Liebe zu 
Jünglingen verrät. Als der Liebling von Biccio, der 
junge Bracci, stirbt, da dichtet Michel Angelo eine Beihe 
von Epitaphien über ihn. Wie Biccio Michel Angelo's 
Gefühle versteht, so war auch Michel Angelo wie kein 
Anderer befähigt* den Schmerz und die Liebe Biccio's 
dichterisch wiederzugeben. 

Einige dieser Verse lauten: 

(Der Dichter lässt den Toten z. B. wie folgt sprechen): 

Nr. 14: Zu früh muss ich hier ruh'n; nicht tot, am Leben 
Noch bin ich ; meine Seele zog nur aus 
Und fand im Freund, der mich beweint, ihr Haus. 
Sollt' es kein Aufgehn ineinander geben V 

Nr. 17: Mein staubge wordenes Fleisch und mein Gebein, 
Der Augenpracht und holder Reize baar, 
Bezeugen ihm, dem einst ich Wonne war, 
Wie hier die Seele wohnt in Kerkerpein. 

Nr. 24: Ich lebte! ... Gut! .... Im Tode leb' ich fort, 
Vom Freund geliebt noch, dem ich nun entrissen! 
Tod ist ein Glück, Verklärung durch's Vermissen, 
Liebt er mich mehr, als er es einst vermocht. 

(Der Sarkophag spricht zu Riccio): 
Nr. 84 : Dein Leben war die Lichtgestalt des Knaben, 
Der tot hier liegt. Verlustlos leben Die 
Und friedlich, die Cecchino gesehen nie, 
Lebendig tot, die ihn gesehen haben. 

Schon den Zeitgenossen des Dichters muss sein Ver- 
hältnis zu den Jünglingen aufgefallen sein, denn ein 



— 264 — 



schmähsüchtiger Schriftsteller, Aretino, hat ähnlich wie 
Heine gegenüber Platen, den Umgang Michel Angelo's 
mit Jünglingen verdächtigt und in einem Schmähbrief 
seinen Verkehr mit seinen Lieblingen nur auf grobsinnliche 
Triebe zurückführen wollen. „Man müsse ein Gherardo 
oder Tommaso sein, ■ sagt Aretino, „um Etwas von Michel 
Angelo zu erlangen/ 

Michel Angelo selber suchte seine Gefühle mehr 
oder weniger vor der Welt zu verbergen, so z. B. gerät 
er in grosse Aufregung, als er erfährt, dass durch Riccio's 
Schuld einige seiner Sonetten dritten Personen bekannt 
geworden sind, und droht auch Riccio, dessen Sachen 
(die dieser auch nicht veröffentlicht wünschte) weiter zu 
verbreiten ; ferner hat er die Vorsicht, in manchen Sonetten 
das im Urtext befindliche Masculinum bei den in die 
Hände Dritter gelangenden Exemplaren in ein Femininum 
zu verwandeln. 

Michel Angelo lebte gerade in einem Zeitalter, wo 
auch namentlich an den sittenlosen Höfen der Päpste 
und der Medicäer grobsinnliche Männerliebe nichts un- 
gewöhnliches war, andererseits Kenntnis der Urningsliebe 
fehlte. Michel Angelo war daher gezwungen, seine Ge- 
fühle nicht allzu offen kundzugeben, wollte er nicht be- 
fürchten, sie Missdeutungen ausgesetzt zu sehen. 

An manchen Stellen seiner Gedichte verwahrt sich 
der Dichter selber gegen eine niedrige Anschauung seiner 
Liebe : 

Z. B. in Sonett Nr. 65: 
Was ich, Gebieter, schau' in Deinem hehren 
Gesicht, ich kann es kaum hienieden sagen: 
Die Seele, noch in Fleischeslust und -plagen, 
Sie durfte schonend so zu Gott oft kehren. 

Und kann man's auch den Schuften nicht verwehren, 

Uns ihrer eignen Sünden anzuklagen, 

So gilt doch noch ein Wille ohne Zagen 

Und so auch Lieb' und Treu' und keusch' Begehren. 



— 265 — 



Am besten wird der Weise doch vergleichen 

Die Reize alle, die uns hier erfreuen, 

Dem Gnadenquell, aus dem wir Menschen fliessen. 

Sonst ward uns keine Spende und kein Zeichen 
Vom Himmel hier, und wer Dich liebt in Treuen 
Steigt auf zu Gott, wird sich den Tod versüssen. 

Sonett Nr. 66: 

Nur Himmelsfriede habe ich erblickt 

In Deiner Augen Glanz, kein Erdenstreben; 

In Ihrer reinen Tiefe sah ich leben, 

Was liebevoll mein liebend' Herz berückt. 

Es würde nur, was unser Aug' entzückt 
Die Seele wünschen, war' ihr nicht gegeben 
Gottähnlichkeit ! Sie weiss sich zu erheben 
Zur Urform, weil sie Flüchtges nicht beglückt. 

Mir scheint, dass Sterbliches in uns nicht stille 
Die Sehnsucht nach dem Ew'gen, die uns zwingt, 
Bald zu vertauschen unser Erdenkleid. 

Die Sinnlichkeit ist zügellosser Wille, 

Ein Seelenmord; nur edle Glut beschwingt 

Uns hier mehr noch in der Ewigkeit. 

So viel ist gewiss: Dies spricht aus jeder seiner 
Zeilen, dies verkündet auch das Zeugnis seiner Bekannten 
und dafür bürgt seiner erhabener Geist: Michel Angelos 
Liebe darf nicht mit dem nur grobsinnliche Wollust 
erstrebenden Eros verwechselt werden, wahre edle Liebes- 
leidenschaft hat ihn erfüllt, die wenn auch durch sinn- 
liche Reize angefacht, eine tiefere seelische Anziehung 
sucht und mit geistigem Band Liebhaber und Liebling 
umschlingt. 

Desshalb wird man aber nicht jede sinnliche Be- 
friedigung bei Michel Angelo für ausgeschlossen halten 
dürfen. 

Psychologisch und physiologisch scheint es wohl kaum 
möglich, dass ein Mann wie Michel Angelo, der mit der 



— 2GG — 



ganzen Glut eines der gewaltigsten Künstlertemperamente, 
welche die Kunstgeschichte kennt, mit der sein tiefstes 
Innerstes aufwühlenden Leidenschaft des heissblütigen 
Italieners Jünglinge und nur Jünglinge liebte, lebens- 
länglich jedem sinnlichen Begehren entsagend, in reiner 
platonischer Liebe sich verzehrt hat. 

Jedenfalls weist auch manches gegen Ende seines 
Lebens verfasste Gedicht — als er bald den Tod erwartet 
und die Religion immer mehr sein Gemüt beherrscht — 
darauf hin, dass gerade die sinnliche Seite in seinem 
Leben eine grössere Rolle gespielt hat, als man gewöhn- 
lich glaubt. 

Fortwährend kehren die Gedanken von begangener 
Sünde und von Schuld, von Reue und sündhaftem Hang 
wieder. 

So z. B. in Sonett Nr. 286: 

Ob ich auch mein Gesicht 
Verändre für den Schluss der Lebenszeit 
Kann ich doch ändern nicht verjährten Hang, 
Der fester mich von Tag zn Tag nmrankt. 
Amor, ich berg es nicht: 
Wer tot ist, weckt mir Neid! 
So tief verzagt und krank 
Bin ich, dass meine Seele hangt und bangt 
u. s. w. 

Oder in Sonett Nr. 299: 

Bedrückt' vom Alter und der Sünde Schwere, 
Mit eingewurzelt starkem, argem Hang 
Bin ich vor zwiefach dräu'ndem Tode bang, 
Und bis er naht, ich doch vom Gift nur zehre. 

Mir fehlt's an eigner Kraft, die fähig wäre, 
Zu ändern, Was ich trieb mein Leben lang, 
Wenn Du*) nicht Ziel und Halt giebst meinen Gang, 
Nicht Dein Geleit mir giebst, das leuchtend-hehre! 

Bei der damaligen Auffassung der mannmännlichen 



*) nämlich Gott. 



— 267 — 



Liebe, in einem Zeitalter, wo das Wesen der Urnings- 
liebe der Wissenschaft völlig fremd ist und Wissenschaft, 
Religion und allgemeine Anschauung in ihrem blinden 
Verdammungsurteil einig sind, ist es nicht zu verwundern, 
wenn den greisen Dichter — mochte er noch so sehr von 
der Berechtigung und Natürlichkeit seiner Liebe durch- 
drungen sein — Gefühle der Sündhaftigkeit seiner Liebes- 
richtung befallen, wenn er mit zunehmenden Alter an 
sich selbst irre wird und Gewissensbisse seinen Lebens- 
abend trüben. 

Heute aber, wo wissenschaftliche Erkenntnis anfängt, 
die jahrhundertjährigen Vorurteile zu zerstreuen und in 
das verborgene Dunkel der menschlichen Psyche heller 
hineinzuleuchten, wird man den gequälten Dichter getrost 
zurufen können: 

Deine Liebe war nicht sündhafter als die 
Liebe des Normalmannes zum Weib. Dein 
Ruhm wird nicht verdunkelt, die Lauterkeit 
Deines Charakters und Deiner Gesinnung nicht 
befleckt, weil Du den Jüngling liebtest. 

Auf alleZeiten wirst Du bleiben das strahl- 
ende Beispiel eines Urnings, der mit der ihm 
eingeborenen Liebe, Seelenadel, Künstlergrösse 
und Genie vereinigte. 



Georges Eekhoud. 



Ein Vorwort 

von 

Dr. jur. Numa Praetorlus. 

Georges Eekhoud — ein Bahnbrecher in der künst- 
lerischen Darstellung der Homosexualität, ein Pfadweiser 
für die poetische Auffassung der Urningsliebe — in 
diesen Sätzen lässt sich die Bedeutung des belgischen 
Dichters, soweit sie für dieses Jahrbuch in Betracht 
kommt, zusammenfassen. Kunst und Wissenschaft ergänzen 
sich gegenseitig: Während die Wissenschaft durch genaues 
Studium und durch die wissenschaftliche Methode 
die Wirklichkeit zu erforschen strebt, dringt der Dichter 
kraft der Macht seiner Phantasie in das Wesen der Er- 
scheinungen und weiss oft vermöge seines Seherblicks 
dunkle Gebiete wie mit einem Lichtstrahl zu erhellen und 
ungeahnte Perspektiven zu eröffnen. 

Diese Erkenntnis der Homosexualität durch künst- 
lerische Dichtung, dieses Eindringen in den Kern der ur- 
nischen Liebe macht gerade Eekhouds Werke wertvoll 
und für jeden, der sich mit der Frage des konträren Ge- 
schlechtsgefühles befasst, unentbehrlich. 

Wir ergreifen daher mit Freuden die Gelegenheit^ 
der schönen historischen Studie, welche Eekhoud dem Jahr- 
buch gewidmet hat, einige Worte über den Dichter und seine 
Werke, soweit sie für die Homosexualität von Bedeutung 
sind,*) voranzuschicken. 

*) Nur diese Seite in den Werken Eekhoud s soll hier näher 
besprochen werden. 



— 269 — 



Georges Eekhoud ist geboren 1854 zu Antwerpen 
von Eltern, die beide aus Antwerpen stammten, von seinem 
Grossvater mütterlicher Seite bat er deutsches (hessisches) 
Blut in den Adern. Nach frühzeitigem Verlust seiner 
Eltern wurde er in ein Pensionat der französischen Schweiz 
geschickt, wo er eine spezifisch französische Erziehung genoss. 

Im 17. Lebensjahr musste er auf Wunsch seines Vor- 
mundes die Militärschule zu Brüssel besuchen, um sich 
der militärischen Laufbahn zu widmen. 

Aber mit Gewalt zog es ihn zur Litteratur hin und 
schon damals vertiefte er sich neben selbständiger pro- 
duktiver litterarischer Thätigkeit in das Studium der 
englischen und deutschen Meisterwerke, die er im Urtext 
lesen konnte. 

Seine Neigung für die Litteratur nahm immer mehr 
zu und eines Tages verliess er plötzlich die Militärschule. 

Mit seiner Familie wegen dieses Schrittes verfeindet, 
war Eekhoud gezwungen, eine Zeit lang in Antwerpen 
eine dürftige Stelle bei einer Zeitung anzunehmen. 

Nach einer etwas stürmischen Jugend führte Eekhoud 
mit dem von seiner Grossmutter ererbten Vermögen das freie 
ungebundene Leben des wohlhabenden Landedelmannes. 

1881 siedelte dann Eekhoud nach Brüssel über, wo 
er jetzt noch wohnt. 

Im Jahre 1893 erhielt er für seinen Roman: „La 
Nouvelle Carthage" den alle fünf Jahre ausgeteilten Preis 
für französische Litteratur, den sog. Preis des «Königs". 
Seine Verehrer veranstalteten bei dieser Gelegenheit ein 
grosses Fest, an dem ausser einem Teil der höchsten 
Behörden Minister, Bürgermeister, Abgeordnete, nahezu 
an dreihundert Künstler und Schriftsteller teilnahmen. 

Eekhoud ist heute Kunstkritiker an der Zeitung „La 
R^forme" und Professor an der „Uni versitz Nouvelle* 
in Brüssel. Er liefert ausserdem den Monatsbericht für 
Belgien in dem Pariser „Mercure de France". 



— 270 — 



Eekhouds Hauptwerke sind ausser dem erwähnten 
Roman „La Nouvelle Carthage", aus früherer Zeit: tKees 
Doorik», cKermesses», tLes Milices de Saint Francis», 
tNouvelles Kermesses» ; ferner cLes Fusilles de Malines», 
sodann aus den Jahren 1896 und 1897 die zwei Novellen- 
sammlungen: tLeCyclePatibulaire» und «MesCommunions» 
und aus dem Jahre 1898 ein weiterer Roman: cEscal Vigor». 
Zu nennen sind auch noch dieUebersetzungen der englischen 
Dramen: Philaster von Beaumont und Fletscher, Duchesse 
de Malfi von Webster und des echt homosexuellen Stückes 
Eduard II. von Marlow, ferner Studien über die englische 
Litteratur und die Zeit Shakespeares. 

Eekhoud, einer der bedeutendsten Roman- und 
Novellenschriftsteller Belgiens, kann geradezu als der 
Führer der jungbelgischen Litteraturschule bezeichnet 
werden. 

Schon Eekhoud's Sprache verrät eine eigenartige 
Persönlichkeit. Vor keiner Neuerung und Kühnheit der 
Wortbildung zurückschreckend, wenn sie zum charakter- 
istischen Ausdruck des Gedankens dient, macht er sich 
die Erwerbungen der jüngsten Richtung nutzbar, ihre 
Uebertreibungen aber vermeidend, verleiht er seinem Styl 
durch Wärme und Schwung persönliches Gepräche. 
Alles, was Eekhoud schreibt, erglänzt in echt künsterischem 
Gewand, zielt auf ästhetische Wirkung und poetische 
Gestaltung hin. 

Und doch huldigt Eekhoud nicht bedingungslos dem 
Satz: «L'art pour Part," sucht nicht den Selbstzweck in 
prunkenden Formen und Farbenbildungen, will nicht des 
Absonderlichen wegen nach seltsamen Gefühlen und 
Stimmungen haschen; aber ebensowenig verliert er sich 
in die trockene Wirklichkeitsphotographie und den Kleinig- 
keitskram eines trüben Naturalismus, obgleich er sozial 
verpönte Leidenschaften und gesellschaftlich niedrig 
stehende Menschen gerade mit Vorliebe malt. UeberaU 



— 271 — 



durchbebt der warme Hauch lebhafter Sympathie der 
Pulsschlag eigenen Mitempfindens und Mitgefühls die 
Gestaltungen des Dichters. 

Der ausgesprochene Schönheitssinn Eekhoud's, sein 
Bestreben allen Erscheinungen die ästhetische Seite ab- 
zugewinnen, erklärt seine Bewunderung für die mensch- 
lichen Formen, da wo die Schönheit am reinsten erstrahlt, 
in dem männlichen jugendlichen Körper; giebt den 
Schlüssel zu seiner oft enthusiastischen Schilderung 
frischer Naturburschen und kraftstrotzender harmonisch 
gebildeter Volkstypen. 

In vielen Stellen seiner Werke tritt dieses sinnlich 
gefärbte Wohlgefallen an männlicher Schönheit, Grazie 
und Anmut, diese Verherrlichung jugendlicher Kraft, 
Tüchtigkeit und Selbstbewusstsein hervor, ohne dass das 
homosexuelle Moment direkt betont würde, so namentlich 
in seinem ersten Roman: „La nouvelle Carthage*, wo ins- 
besondere die Schlusskapitel „Le Moulin de pierre", „Les 
Runners", „Contumace", „Le Carnaval", „La Cartoucherie" 
schwärmerische Begeisterung für die Plastik und Schön- 
heit ländlicher Arbeiter, herrlich geformter Piraten und 
unerschrockener flämischer „Runners 11 atmen. 

Aber Eekhoud ist weiter gegangen. Die Verstossenen 
und Parias der Gesellschaft, Ausnahmemenschen aller 
Art, nach Freiheit dürstende Seelen, Feinde des Alltags- 
lebens und der gesellschaftlich geheiligten Form und 
Konvention wählt er zu seinen Lieblingshelden. 

Und so führt ihn seine Zuneigung zu den Sozial- 
geächteten und -missachteten in Verbindung mit seiner 
Bewunderung für männlicher Schönheit dazu, die Anar- 
chisten der Liebe, die Gefühlsrebellen, die Homo- 
sexuellen künsterisch zu verwerten und befähigt ihn 
das schwere Problem wie kein Anderer, zu verstehen. 

Die Novellensammlung: Le Cycle patibulaire(Mercure 
de France Paris 1896 (Der Zyklus der Leidenden) ent- 



— 272 — 



hält an deutlich homosexuellen Novellen: Zunächst 
„Aux bords de la Durme • und „Suicide par amour." 
Beide die Macht der Einbildung und Phantasie; gleich- 
sam die Projizierung des inneren Gefühls auf ein durch 
die Einbildungskraft und die Sehnsucht nach Verwirk- 
lichung des Schönheitsideals verklärtes Objekt darstellend. 

Ferner: Ä Le tribunal au Chauffoir": Die er- 
greifende Lebens- Liebes- und Leidensgeschichte des 
homosexuell Geborenen, der jahrelang seine glühende 
Leidenschaft unterdrückt, bis er bei der Verlobungsanzeige 
des Geliebten die langverhaltene Glut nicht mehr be- 
meisternd dem Freund seine wahren Gefühle gesteht, 
von diesem aber auf immer Verstössen wird. Im Sinnen- 
taumel sucht der Urning Vergessenheit und Beruhigung 
aber vergeblich. Haltlos vom Strudel der sinnlichen 
Lust hingerissen ereilt ihn sein Verhängnis — das Ge- 
fängnis, wo er seine Leidensgeschichte erzählt und selbst 
bei den Verbrechern Teilnahme und Mitleid findet 

Sodane: „Le Tatouage": Die Eifersucht des Mannes 
gegenüber dem Jüngling, der ihm angehörte, und der 
Heroismus des Jünglings, der, als das Zeichen seines 
früheren Liebesverhältnisses — die auf seinem Arm täto- 
wierten Liebesworte — im Streite mit dem früheren ge- 
liebten Mann den Blicken der Anwesenden sichtbar wird, 
mit glühendem Eisen den verräterischen Spruch ausbrennt. 

Endlich: „Le Quadrille du Lancier 11 : Der ganze 
Unverstand und die Grausamkeit der boshaften Menge 
gegenüber den Homosexuellen und der Sieg der Schön- 
heit und der selbstbewussten Ueberlegenheit des un- 
schuldig Verfolgten trotz seines Unterganges. Der wegen 
homosexuellen Vergehens aus dem Regiment verstossene 
Oavallerist wird nach dem schmaoh- und schmerzvollen 
Spiessrutenlaufen zwischen den Reihen seiner Kameraden 
* einem öffentlichen Tanzlokal von den Weibern erkannt 
•ud langsam hingemartert. Vergeblich suchen die er- 



— 273 — 



bitterten Frauen den Weiberfeind zu bekehren und ihm 
ein Gefühl für ihre Reize einzuflösen. Durch die Ruhe, 
Schönheit und das Selbstbewusstsein des Märtyrers werden 
wie durch eine magnetische Kraft selbst die zuschauenden 
Männer umgestimmt. Sie gebieten zwar der Wut der 
Frauen keinen Einhalt, aber nichtsdestoweniger geht der 
Gefolterte mit der tröstenden Gewissheit zu Grunde, dass 
er in den Blicken der Männer Sympathie und Berech- 
tigung seiner Liebe gelesen hat 

In dem Novellenband : „Mes Communions" (Mercure de 
France Paris 1897) behandelt Eekhoud das homosexuelle 
Problem in: „Apoll et Brouscard", „Une mauvaise ren- 
contre", „Le sublime escarpe" und ,Une partie sur Peau\ 

Apoll et Brouscard bringt zum Ausdruck die 
gegenseitige leidenschaftliche Zuneigung zweier Vaga- 
bunden, ihr inniger Liebesbund, der sie durch alle Aben- 
teuer ihres Verbrecherlebens hindurch zusammenhält, bis 
eines Tages Brouscard von einer vorübergehenden sinn- 
lichen Begierde für ein wollüstiges Weib ergriffen, mit 
dem eifersüchtigen Apoll in Streit gerät und in einem 
Augenblick sinnverwirrender Wut dem geliebten Freund 
einen tötlichen Messerstich versetzt. Sofort aber ernüchtert 
und überwältigt vor Schmerz und Reue wirft sich Brous- 
card, Verzeihung erflehend, dem Sterbenden in die Arme, 
während er mit einer mechanischen Bewegung seines 
Messers nach rückwärts das buhlerische Weib tot nieder- 
streckt und gelassen die gerichtliche Sühne erwartet. 

„Une mauvaise rencontre". Die seelische Ge- 
meinschaft zwischen Prinz und Vagabund, der veredelnde 
Einfluss des Prinzen auf den Verkommenen und die 
Macht seiner Liebe, welche dem Verbrecher die schon 
bereite Mordwaffe entwindet und den Hass und die Hab- 
sucht in Reue und Anhänglichkeit für einen Mann um- 
wandelt, der nie geahnte Worte der Güte und Milde zu ihm 
gesprochen, der als Freund und Wohlthäter sich erwiesen. 

Jahrbuch n. 19 



— 274 — 



Zugleich aber weist die Novelle hin auf die Ver- 
bildung und Perversion edler Eigenschaften durch Schuld 
der Gesellschaft, welche durch ihre Härte und Lieblosig- 
keit den liebebedürftigen sozialen Paria zum anarchist- 
ischen Verbrecher werden lässt 

„Le sublime escarpe*: Der Weltkampf an Edel- 
mut und Grossmut zwischen Zanardelli, dem Rechtsanwalt 
und seinem Geliebten Teodato, dem Bettler und Dieb; 
die Aufopferungsfähigkeit wahrhaft Liebender. Der wegen 
Mordes unschuldig verhaftete Teodato weigert sich trotz 
aller Bitten Zanardellis, sein Alibi nachzuweisen und dem 
Richter zu verraten, dass er die Nacht des Mordes bei 
dem Rechtsanwalt zugebracht, da er dadurch seinen Ge- 
liebten sozial vernichten würde. Dieser ist entschlossen, 
in der Hauptverhandlung selbst die Wahrheit zu sagen, 
aber Teodato erhängt sich inzwischen, um Zanardelli vor 
Schaden zu bewahren. 

f Une partie sur l'eau*: Die Spazierfahrt auf der 
See zweier Männer mit zwei Matrosen als Ruderer, mehr 
ein Gedicht in Prosa als eine Novelle schildert Die 
Freude der Spazierfahrer an der Schönheit und dem 
Seelenreiz der Naturburschen, ihre Wonne, fern von der 
gewohnten Umgebung mit diesen jugendfrischen Menschen 
einige Stunden verleben zu können, den poetischen und 
sinnlichen Reiz dieser Fahrt in der Vertrautheit und der 
Gemeinschaft mit diesen blühenden Söhnen des Volkes. 

In dem „Mercure de France", Augustheft 1897, be- 
findet sich eine Novelle Eekhouds: ,Tremeloo", ein 
poetisches Stimmungsbild, in welchem die seelische 
Harmonie des Dichters mit einer verödeten traurigen 
Gegend und ihren sozial geächteten Einwohnern, seine mit- 
fühlende Sympathie, in dem ergreifenden Eindruck eines 
hübschen plastischen Jünglings ihren Höhepunkt erreicht 

Das letzte Werk Eekhouds: Le comte de la Digue* 
naoQ i m ^ Mercure de France" erschienen) im Buchhandel: 



— 275 — 



^Escal-Vigor", vielleicht der schönste, echt künstlerische 
Urningsroman, der auch, was Aufbau, Geschick der Dar- 
stellung , psychologisches Verständnis und lyrischen 
Schwung anbelangt, als vortrefflich bezeichnet werden 
muss, behandelt die Liebe eines jungen mit allen Vor- 
zügen des Geistes und Körpers ausgestatteten Grafen zu 
Gidon, dem einfachen Bauernburschen, dessen Erziehung 
der Graf unternimmt, den er zu sich emporhebt und in 
dem er das Ideal von Jugendschönheit und Charakter- 
güte findet. 

Der Roman gewährt zugleich einen Einblick in die 
Seelenkämpfe und -Qualen, die ein Homosexueller durch- 
zumachen hat, bis er sich zur Erkenntnis seiner Natur 
und der Berechtigung seiner Liebe hindurch gerungen 
hat; er schildert sodann nicht nur die Entwicklung der 
Leidenschaft des Grafen zu Gidon, sondern auch den 
Eindruck dieser Leidenschaft auf die Umgebung und den 
Ansturm der Vorurteile gegen sie. Ueberall begegnet 
der Graf dem Misstrauen, der Verleumdung, der Bos- 
heit und dem Hass; nur eine Frau, die ihn hoffnungs- 
los liebt, vermag ihm Mitleid und Verständnis entgegen 
zu bringen. In einer grandiosen Schlussszene pracht- 
vollen Colorits wird der tragische Untergang des Ge- 
liebten dargestellt, der an einem Tage allgemeiner Volks- 
belustigung, wo die entfesselte Sinnlichkeit des Volkes 
wahre Orgien feiert^ durch wütende Frauen — wahre 
Mänaden — getötet wird. 

Die trockene Inhaltsaugabe kann nur ein schwaches 
Bild von dem Gedankenreichtum, poetischen Glanz, der 
Tiefe und Feinheit dieser Erzählungen gewähren. 

Eekhoud stellt nicht das rein geschlechtliche Moment 
in aufdringlicher Weise in den Vordergrund, er fasst 
nicht die urnische Liebe von ihrer brutal sinnlichen Seite 
auf. Er schildert die gegenseitige, seelische Anziehung, 

18* 



— 276 — 



welche die Schönheit der Charaktere, die Affinität des 
Empfindens, der Beiz edler Eigenschaften ausübt 

Aber auch das spezifisch Eigentümliche gerade der 
urnischen Liebe kommt zum Ausdruck. Die in der Wirk« 
lichkeit häufig zu beobachtende Anziehungskraft der sozial 
Niederstehenden, der Naturburschen auf gebildete, sozial 
höher stehende Urninge, sodann die in Folge dieser Ge- 
meinschaft zwischen Vertretern extremer sozialer Klassen 
nivellierende Gewalt dieser Liebe, ihre soziale Gegensätze 
überbrückende Macht, welche Rechtsanwalt und Bettler, 
Prinz und Vagabund in Freundschaft verbindet. 

Damit wird dann auch der Gedanke in Verbindung 
gebracht, dass der oft gute und edle Charakter des sozial 
Geächteten nur durch die Gesellschaft verdorben war 
und die Macht der homosexuellen Leidenschaft gezeigt, 
wie sie selbst den Verkommenen und Gesunkenen zu ver- 
edeln und über sein Niveau emporzuheben vermag. 

Eekhouds Novellen reichen also weit über die indi- 
viduell-geschlechtliche Seite hinaus, Anklänge an Rousseau 
und wiederum an Nietzsche finden sich vor, aber nirgends 
drängen sich moralisierende Tendenzen oder philosoph- 
ierende Reflexionen auf, überall bleibt der Charakter des 
dichterischen Kunstwerkes gewahrt. Eekhoud ist der 
erste Schriftsteller, Dichter und Denker zugleich, der eine 
wirkliche künstlerische Darstellung des Homosexuellen 
gegeben hat, der die Gefühle des Urnings mit dem 
Schimmer der Poesie verklärt und die mannmännliche 
Liebe nicht als Vorwand pikant lasciver Schilderungen 
oder geistreichelnder ironischer Satiren oder moralischer 
Entrüstungspredigten benützt, sondern die urnische Leiden- 
schaft als das erkannt und demgemäss geschildert hat, 
was sie in Wirklichkeit ist, als die der normalen Liebe 
parallelen Minne, die wie jene einer poetischen und idealen 
Auffassung fähig, auch würdig ist vom Dichter besungen 
zu werden. 



— 277 — 



Mit vollem Recht sagt daher ein bedeutender und 
ernster Philosoph und Moralist, Eugfene de Roberty, in 
seinem Buch: L'Ethique (Les Fondements de FEthique) 
(Felix Alcan id. Paris 1899) Kap. IV: 

„Der um die in der Entwicklung der Gesellschaft 
möglichen Ueberraschungen bekümmerte Soziologe und 
Moralist wird die kraftvollen und gesunden Werke dieses 
herrlichen Schriftstellers, Georges Eckhoud, (ich habe be- 
sonders seinen prächtigen „Cycle Patibulaire" im Auge)*) 
mit Vorteil befragen." 



Un illustre uraniste du XVII 6 siede 
Jeröme Duquesnoy. 

Sculpteur Flamand. 

par Georges Eekhoud. 

Jeröme Duqnesnoy n£ a Bruxelles en 1602 et mort 
h. Gand le 28 septembre 1654 dans des circontances par- 
ticulierement atroces, fut un des plus grands sculpteurs 
du XVII e siecle, et l'lgal, sinon le sup^rieur de son frfere 
Francis Duquesnoy que les critiques vulgaires et d'esprit 
Itroitement puritain dont nos temps sont encore afHigls, 
feignent de lui pr^fferer parce que lui, Jeröme, se rendit 
coupable du soi disant crime ayant entratn£ la destruction 
des Sodome et Gomorrhe. 

Comme Francis, son ain£, Jerome fut Peleve de leur 
pere, Jeröme Dusquesnoy le Vieux. A peine äg6 de dix 
neuf ans (1621) il rejoignit son fröre Francis ä Rome 
oü celui-ci Itudiait avec enthousiasme et ferveur les grands 
mattres de la Renaissance, et y acquerrait cette £l£gance 

*) Roberty kannte wohl noch nicht: „Mes ('onunur.ions" und 
da8 Meisterwerk Eekhonds: „Eacal-Vi#or u . 



— 278 — 



et cette harmonie de formes qui devaient complfeter ses 
dons de robuste et cordial Brabancon. Jusquä ce moment 
le frfere cadet n'avait £t£ que simple apprenti en l'atelier 
paternel, mais dou6 d'une äme intr£pide et d'un templra- 
ment aventureux il partit plein d'ardeur avec la volonte 
de se perfectionner dans la profession qu'il avait llue et 
oü Tun des siens avait excelll, oti un autre promettait de 
8'illustrer ä son tour. Guide* par les conseils de son frfcre 
il commenc^ par faire des copies des chefs d'oeuvre de 
l'Antiquitä et de la Renaissance. Mais bientdt il se 
trouva de force & s'essayer, lui aussi, a la creation; et 
dans la taille du bois, de l'ivoire et du marbre, dans le 
modelt des chairs, dans le jeu des muscles et des attaches, 
dans le bonheur des mouvements, dans Fexpression de la 
beaut£ feminine, mais surtout dans l'£panouissement ing£nu 
et la gaucherie potel£e des figures enfantines il devait 
Egaler et m&me surpasser son fröre Francis, Pauteur du 
d£licieux Manneken Pis de Bruxelles, h teile enseigne 
qu'on a souvent confondu leurs enfants Jlsus, leurs petits 
Saint Jean Baptiste, leurs anges et leurs cupidons. 

Autant ils se ressemblaient par les aptitudes et les 
goüts artistiques, meme par la conception et la facture 
de leurs Oeuvres, autant ils diffiSraient, paratt-il, d'humeur 
et de caractfere. De fräquentes querelies se seraient 
£lev£es entre eux. Daprfcs certains biographes, un peu 
suspects de partialitä pour des motifs dont je touchais 
un niot en commencant, Jerome aurait eu un caractfere 
ombrageux, empörte, envieux et cupide. La legende veut 
meme que son frbre finit par le chasser, r£volt£ par ses 
mauvaises moeurs, et que plus tard, pour se venger et 
aussi pour lui voler son bien, le cadet aurait empoisonne* 
son afnd. Mais il n'existe aucune preuve de cette haine 
et de ce crime. 

Quoiqu'il en soit les deux Duquesnoy se s£parfcrent 
quelque temps aprts le sejour que fit a Rome le c£lt?bre 



— 279 — 



peintre anversois Antoine Van Dyck. Le disciple favori 
de Rubens s'^tait lid aussi bien avec Jlröme qu'avec 
Francis. Leur souci de gräce et de v6rit£ dtait fait 
pour lui plaire et il devait priser leur talent a tous deux. 
Les particularit^s de leurs relations aroicales eussent £t£ 
faites pour nous intöresser, malheureusement on ignore 
presque tout du s^jour de Van Dyck a Rome. On prd- 
tend qu'il se häta de quitter la ville ^ternelle choqu£ par 
la trivialitä et la crapule de la colonie artistique flamande. 
Tout nous porte ä supposer, ä commencer par la noblesse 
de leur art m^me, Hans parier de l'estinie de Van Dyck, 
que corame le futur portraitiste d'une aristocratie supreme, 
les Duquesnoy faisaient exception dans ce monde d'ivrognes, 
de tape-dur et de bas mystificateurs. Van Dyck peignit 
meme ses deux amis: il montre Francis Duquesnoy 
tenant ä la main une tete de faune antique, tandis qu% 
J6röme il donne pour attribut un buste de bei enfant 
contemporain. 

La m£me lacune qui se produit ici dans la biographie 
de Van Dyck existe ä ce moment dans ce qui nous est 
parvenu sur la vie du plus jeune des Duquesnoy. Tandis 
que l'atn£ demeure ä Rome oü il se lie avec Nicolas 
Poussin et Algardi, et partage m£me leur maison, nous 
perdons la trace du cadet jusqu'au moment oü nous le 
trouvons en Espagne oü il a 6t6 appel£ par Philipe IV 
qui lui accorde sa faveur et le comble de commandes. 
Mais, de nouveau, nous ignorons les 6v£nements de sa 
vie durant cette p£riode espagnole. 

Notre sculpteur 6tait revenu de Madrid vers 1641 
et il logeait depuis neuf mois ä Florence, chez un cora- 
patriote, Vorf&vre bruxellois Andrl Ghysels, quand lui 
parvint en 1642, la nouvelle de la grave maladie de 
Francis, demeur£ a Rome. 

J^röme se häte de se rendre auprfes de son atn£ et 
les medecins ayant recommandl pour le malade un climat 



— 280 — 



plus templr£ que celui de Korne, les deux fiteres partent 
ensemble et remontent vers le Nord, mais arriv& ä Li- 
voorne ils sont forc£s de s'arrfeter : le malade a une rechute, 
les fifevres le reprennent avec une nouvelle violence, le 
mal empire, et trois semaines apres, Francesco il Fiammingo 
succombe entre les bras de son cadet et de leur ami 
Andr£ Ghysels. 

II tardait k J&örae de regagner sa patrie, surtout k 
präsent qu'il avait perdu celui qui la lui reprlsentait et 
la lui incarnait le mieux. II s'empresse donc de r£unir 
toutes les oeuvres et les objets de valeur du d£funt et 
de partir pour les Pays Bas en traversant la France. 

II se fixe k Bruxelles, sa bonne ville natale, et aprfes 
s^tre dlbattu quelque temps contre d'autres h£ritiers de 
son frfere dans des procfcs oü il obtient gain de cause, — 
tous les cartons, dessins, moulages, pifeces d'ivoire, de marbre 
et de bois poli, collections de Fran9ois lui <*tant attribu<5s 
comme „materiel de sa profession" — il se remet r6- 
solument au travail et dlploie non seulement une activitä 
prodigieusemaisaussi un talent primesautier etincomparable. 

En son fitere, Jlröme Dusquesnoy avait perdu son 
seul rival. II £tait considerl dlsormais comme le plus 
habile statuaire des Pays Bas. Artiste complet» ressemblant 
sous ce rapport k ses mattres, les Italiens de la belle 
£poque,il£taitnon seulement sculpteur mais encore statuaire, 
graveur de mldailles, ciseleur, orffcvre et architecte; bref 
une sorte de Cellini flamand. 

Accabl£ de commandes, il ne cessait de produire 
mais cela sans se rel&cher, sans se contenter d'improvi- 
sations et d'äbauches. Ce n'est pas ici la place pour 
dresser un catalogue de ses oeuvres. Bornons nous k en 
citer quelques unes: les quatre grandes statues des S S 
apätres Paul, Thomas, Bartbelemy et Mathieu, dans la 
enef de la colllgiale Sainte Gudule k Bruxelles; le christ 
an croix tailll dans un seul bloc d'ivoire, du Grand 



— 281 — 



Be*guinage de Malines; les statues de saints Commanders 
par PAbbaye de Saint Michel d'Anvers, enfin ce fameux 
Ganymede et l'aigle de Jupiter offert par Jeröme 
a son confrere, le sculpteur Luc Faid'herbe de Malines 
et qui fut cause d'un accident bien singulier, surtout si 
Pon songe au sujet de ce groupe ainsi qu'a la mauvaise 
reputation de Duquesnoy et a sa fin tragique et infamante : 

Luc Faid'herbe avait legue* le Ganymede de Duques- 
noy a son fils. Or la cbute de ce groupe causa en 1704 
la mort du jeune Faid'herbe. Des esprits superstitieux 
ou enclins ä la merveillosite' trouveraient en ce fait as- 
surlment peu ordinaire, une sorte de correspondance a 
la Swedenborg. Iis attribueraient k ce Ganymede, chef 
d'oeuvre du genial uraniste, une vertu mallfique et ex- 
piatoire. L'infortune* J£röme avait il prSte" une äme oü 
tout au moins une mission, une destin^e ä son oeuvre? 
Eut-il par la suite k se plaindre de Faid'herbe ? Celui-ci 
ne prit-il pas assez Inergiquement sa defense lors du 
douloureux procls ? Ou la statue du mignon de Jupiter, 
devenue une idole consciente, vengeait-elle sur un fils 
de chr£tien, sur le premier venu, le traitement aborainable 
inflige* a un paien £gar<* dans nos siecles d'intoldrance, et 
coupable d'avoir imite* le maitre des dieux dans sa passion 
pour de plastiques dphebes? . . . 

Cependant J e>öme Duquesnoy, vers ces temps, k Papog£e 
du talent e*tait aussi parvenu au falte des honneurs. 
L'archiduc Leopold Guillaume d'Autriche, alors gouverneur 
ge*n£ral des Pays Bab pour le roi d'£spagne Philippe IV 
Pavait nomine* statuaire et sculpteur de la Cour. 

Son style pur et correct, mais oü Pel£gance et la 
gräce ne contrariaient point le mouvement et le frisson 
naturel; m£me un rien d'abiable morbidesse et de vague 
sensualite* qui se dlgage de ses productions les plus 
vantäes, avaient fait appeler Je*r6me Duquesnoy PAlbane 
de la sculpture. C'est IMpoque oü il crlait ses suaves et 



— 282 — 



mutins enfants ä la chfcvre et ses non moins gentils 
Enfants et le Jeune Faune. 

II allait s'llever encore en exlcutant un chef d'oeuvre: 
le mausol£e d' Antonie Triest, 6vfique de Gand, £rig£ en 
1654, du vivant m£me de ce prälat, dans le choeur de la 
cathldrale Saint Bavon. La statue du v£n£rable chef 
dioclsain, grandeur nature, ä demi coucböe sur un sarco- 
phage de marbre noir, ölfeve ses regards supremes vers 
le christ qui lui montre sa croix. En face du Rldempteur 
apparalt la Yierge Marie. Six petita anges ou g£nies 
dllicatement traitls, tenant des flambeaux ou des clepsydres, 
soutiennent ou encadrent le monument. 

» J£röme Duquesnoy arriva ä Gand le 6 juillet 1654«, 
dit M. Edmond de Busscher un des biographes les plus 
intäressants et les plus impartiaux du grand sculpteur 
bruxellois*) >il s'installa avec ses aides dans une chapelle 
de la cath£drale pour y dresser et achever les pifeces de 
ce tombeau admirable qui aurait pu §tre pour le maftre 
le premier fleuron d'une nouvelle couronne sculpturale 
s'il n'y avait trouvd une malheureuse fin. Dans les derniers 
jours du mois d'aout une Strange ruineur circula dans 
la ville de Gand: le sculpteur Jdröme Duquesnoy dtait 
incarclre au Chfttelet accuse d'avoir mesuse de deux jeunes 
gar^ons dans la chapelle oü il travaillait.« 

Bien n'etait plus vrai que cet emprisonnement et cette 
accusation, la plus sinistre qui füt en ces temps oü des 
penalites sanglantes et feroces consacraient la puissance 
d'un inique prejuge. Cette accusation etait-elle justifiee 
et jusqull quel point? Y avait-il eu violence et abus 
d'autorite? S'agissait-il vraiment d'actes de Sodomie, d'un 
attentat brutal sur des enfants? Les procfes verbaux de 
cette lamentable cause, rldiges en flanand consignes aux 
archives communales de Gand et signees Hieronimus 

*) Voir le toraeil des Bibliograp h ies Nationales pub- 
H>* pnr tAcademie de Belgique. 



— 283 — 



Quesnoy, gardent sur ces points d£licats maia essentiels 
un silence reprobateur et scandalise. Et cependant il 
nou8 importerait d'Gtre fixes sur l'etendue du pretendu 
abus Srotique pour lequel od etrangla un grand lionimc! 
II parait etabli que Paccuse n'avait' commis aucun acte 
sadique et contre la cbarite. Kien ne nous garantit, au 
surplus, qu'il ne fut pas la victime d'une läche vengeance, 
d'un guet-apens, d'une machination des ennemis et des 
envieux qu'il s'etait fait par son independance de caractere, 
sa vie ä part et non conforme, et surtout son genie et 
sagloire. Autant de points d'interrogation ou mieux autant 
de probabilitäs. 

Dans ses deux premiers interrogatoires, les 31 aoüt 
et premier septembre, il nia energiquement les trans- 
gressions qu'on lui imputait, malgre les aveux de ses 
complices. Ceux-ci auraient ete deux de ses jeunes eleves 
ou apprentis, non des enfants mais des adolescents. 
Duquesnoy pr&endait ne les avoir re^us dans son atelier 
que pour faire une dtude au crayon de leurs bras et de 
leur poitrine. Le pauvre diable n'osa m£me parier de 
leurs hanckes et de leurs jambes! Et cependant celles- 
ci n'eussent-elles point sollictt^ au meme titre que le reste, 
ses yeux et son admiration d'artiste pour ne point parier 
d'une autre ferveur? Un troublant mystfere continue h 
planer sur ces deux jeunes creati. Qui sait si les 
figures juveniles ornant le niausolle de l^veque ne nous 
pr£servent pas les traits et le galbe des deux Inigmatiques 
modales ? 

Ne parvenant point üi lui arracher d'autre confession, 
pour son troisifeme interrogatoire, le 3 septembre, les juges 
(il s'agit de juges civils, d'un tribunal ordinaire et non 
d'inquisiteurs) recoururent k la torture et, naturellement, 
les questionnaires firent consentir sa parole ou mieux ses 
cris de d'ouleur, a tout ce dont ils avaient besoin pour 
l'envoyer a la mort. 



— 284 — 



Cependant, dfcs le 2 septembre, Partiste avait adress£ 
une requfete au roi d'Espagne en son conseil priv£ des 
Pays Bas pr£sid£ par le gouverneur g£n£ral. Dans cette 
requgte J£röme Duquesnoy, entretenant, a bon droit 
aurait-on peu croire, plus de confiance en la clairvoyance 
et en la sagesse d'un tribunal d'^lite qu'en la compltence 
et P£quit£ d'un arlopage de bourgeois born£s et vulgaires, 
d&linait la juridiction Ichevinale de Grand sous les auspices 
de laquelle on Pavait appr£hend£ et poursuivi. 

Mais ces bourgeois encrassls dont Pinfortun£ avait 
toutes les raisons de se d£fier, n'entendaient pas lächer 
l'audacieux adorateur de la beautl masculine, et le 10 
septembre, le Grand Bailli et les Ichevins de Gand, en- 
voyferent au Conseil priv£, un avis dlfavorable aux pr6 
tentions de leur prisonnier, accompagn£ des pifeces du 
dossier et de la demande de pouvoir prononcer la sentence. 

D*autre part les parents, les amis et les admirateurs 
du statuaire ne l'abandonnaient point dans sa d£tresse et 
adressaient directement une supplique, en latin, ä Parchiduo 
Leopold Guillaume, dans laquelle ils invoquaient le scan- 
dale qu'entrainerait la condamnation du malheureux artiste 
en ce sens que de cette manifere seraient divulgu£s les 
faits honteux miß ä sa cbarge; ils faisaient aussi entrer 
en considlration Phonneur de la famille jusque la imma- 
cule, ils d£ploraient la tache qui rejaillirait sur un nom 
illustre par d'autres encore que par ce grand coupable, 
mais ils insistaient principalement et avec plus de raison, 
sur la haute valeur artistique de J£r6me Duquesnoy et 
sur la perte que la sculpture Iprouverait dans la personne 
de cet artiste de moeurs exceptionnelles mais de g&iie tout 
aussi rare, si on Pabandonnait ä la merci des honnetes 
mais fort communs magistrats gantois. En cons£quence 
ils suppliaient le prince de faire extraire JdrAme de sa 
prison de Gand pour le faire conduire sous bonne escorte 
ä Bruxelles et Py faire comparattre devant le Conseil 



— 285 — 



Prive\ Enfin ils conjuraient l'archiduc d'user en demier 
ressort de son pouvoir absolu pour commuer le cas 
£che*ant la peine de mort en une d£tention a perp£tuite\ 
De cette fagon concluaient les p£titionnaires tout en ex- 
piant sa faute le sculpteur pourrait continuer ä produire 
des chefe d'oeuvre. 

Contre Pattente de Järöme et de ses amis les grands 
seigneurs du Conseil Prive* se montrerent aussi prüdes 
et aussi implacables que les marchands ignares et rassis 
du banc echevinal gantois. Iis n'attendirent mßme pas 
pour se prononcer que le prevenu eüt e*te" amene* dfevant 
eux, mais, ayant pris connaissance du dossier envoye de 
Gand, ils s'empresserent de rejeter les consid£rations des 
signataires de la requöte a l'archiduc ,et dans une „con- 
sulte* ä celui-ci ils approuverent les conclusions des pre- 
miers juges en demandant qu'il lui plüt de laisser la 
justice suivre son cours. 

Le Conseil prive* d£clarait opiner contre le recours 
du reque*rant et de ses amis parce que «quand meme 
l'artiste aurait le droit de dlcliner la judicature du magi- 
strat de Gand, il y aurait matiere süffisante en terme de 
justice de l'en declarer de*cbu et indigne.» 

cEnsuite, £tait-il dit plus loin, comme il convient de 
nlcessite* d'en faire un chastoy exemplaire afin de couper 
s'il se pouvait par sa racine ce mal qui se vat glissant 
et serpente permy le monde, il nous a semble* que Votre. 
Altesse pourrait estre servie de refuser la grace requise 
et, pour le surplus, en laisser convenir le Magistrat de 
Gand, lä oü le crime et Pesclandre ont <He* commis et 
le proces instruitt 

Cet avis impitoyable fut apostille* par le prince et 
approuve en ces terra es p£remptoires: me conformo 
in tutto. 

H£las, Jlröme Duquesnoy nVtait plus sous le ciel 
cllment et radieux, conseiller de tolerance, secourable ä 
toute passion, de la genereuse Italie! 



— 286 — 



Puis les temps etaient loin d£jä de ces princes et 
de ces papes, philosophes et artistes, mlcfenes absolus, 
h£t£rodoxes ou mieux largement Ivangeliques absolvateurs 
et m^me complices des amants £perdus de touteBeautä! 

Passe* et fini le sifecle des Leon X et des Jules II! 
U Europe e*tait redevenue orthodoxe et austäre et sur- 
tout cette Flandre h la fois espagnolis£e et protestantisee, 
sous le gouvernement d'un prince cagot et bornl dont 
les grandes admirations artistiqaes allaient aux magots 
d'un Teniers le Jeune! 

Pourtant il convient de dire ä la gloire des vrais 
chr£tiens de ce temps et h la honte des magistrats com- 
munaux prltendus garants de la libertä, que le vln&able 
evfcque Triest s'&ait mis du c6t£ de son artiste et avait 
signe* en tdte de la supplique adressle au gouverneur! 

On a vu que rien n'y fit. La masse, le pr£jug£, le 
voeu du plus grand nombre, Pemport&rent. 

A la suite de Papprobation souveraine, en sa slance 
du 22 septembre le Conseil priv£ formula en d£cret cette 
r&olution definitive avec confiscation de biens au profit 
du Roi. 

Pour commencer on inventoria tout ce que poss^dait 
Duquesnoy en sa somptueuse demeure de la Place des 
Walions k Bruxelles. Un orf&vre bruxellois se rendit 
ra£me le 26 septembre, au Chätelet de Grand, avec une 
dlllgation du mar^chal de la cour pour rlclamer au pri- 
sonnier le moule d'une image de Notre Dame quil avait 
& couler en argent pour son Altesse Slrlnissime. 

Enfin le 28 septembre 1654 la sentence de mort fut 
pronopcee en assembl£e speciale dans la salle de justice 
de Gand. Elle condamnait Jeröme Duquesnoy, convaincu 
de Sodomie, k Hre attache* h. un poteau, £trangl£ et son 
corps rlduit en cendres sur le marchl aux Qrains de 
ladite ville. 

L'ex£cution eut lieu le m€me jour avec Pappareil 



— 287 



usitä. Le bailli de Gand, deux Ichevins d£l£gu£s et 
l'amman ächeval y pr£sidaient accompagnls du conseiller 
criminel, du clerc de sang, des gens de justice et des 
secr&aires communaux. L/officier des hautes oeuvres 
G£rard Van Wassenburgh fonctionnait avec ses aides 
sons la protection des hallebardiers du bailli. 

L'historien gantois Dierickx pr£t£nd que la gräce 
de J£röme Duquesnoy arriva le lendemain de son supp- 
lice, de sorte qu'on ne proc£da point ä la confiscation de 
ses biens. Mais Dierickx fait erreur. Des documents 
prouvent que les b^ritiers plaidferent bien longtemps aprfes 
pour rentrer en la possession desdits biens et toucher les 
arriferls dus ä leur malheureux parent pour le mausol^e 
de 1'^vSque Triest. 

Un portrait de J£röme Duquesnoy d'aprfes Van Dyck, 
grav£ ä la manifere noire en 1779, par Richard Brooks- 
haw, artiste anglais, porte celle inscription: 

Hic ille est quondam fratri vit dispar in 
arte, Felix! In felix altamen igne perit. 

Non perisse, abiss£ scias; sua foma celebris 
arte, manet: redit; nam redivimus adest! 

En effet la gloire de Partiste supplictä et fl£tri ray- 
onne de plus en plus pure en d£pit des rlticences, des 
b£gueuleries et des conspirations pharisiennes. 

Les temps sont proches oü loin de consid£rer corame 
oeuvre infame et une cause d'anathfeme les actes pour les- 
quels il fut men£ au supplice, nous serons tent£s d'y voir 
une preuve de cet esthltisme absolu qui, sous un Magi- 
strat de bourgeois profanes comrae celui des Pays Bas du 
XVII 6 sifccle, aurait valu le bücher aux plus nobles ar- 
tistes de la Renaissance a commencer par le Sodoma, le 
Vinci et Michel-Ange. 




David und der heilige Augustin, 
zwei Bisexuelle. 



Es kann keinem Zweifel linterliegen, dass auch David, 
der „Streiter Gottes*, der Hagiograph und Prophet, der 
Bibelheros, ein Liebhaber seines eigenen Geschlechtes war. 
Desgleichen Jonathas, sein Freund. Das Verhältnis 
zwischen beiden weist mit aller Deutlichkeit auf ihre 
homosexuelle Ader. „Als David den Philister erschlagen 
hatte und zurück kam, da nahm ihn Abner und brachte 
ihn vor Sau], da er das Haupt des Philisters in seiner 
Hand hielt. Und Sau! sprach zu ihm: Von welchem 
Geschlecht bis Du, o Jüngling? Und David sagte: Ich 
bin der Sohn Deines Knechtes Isai, des Betblehemiters. 
Und es geschah, als er mit Saul zu reden aufge- 
hört, da verband sich die Seele Jonathas mit 
der Seele Davids und es liebte ihn Jonathas wie 
sich selbst. — Und David und Jonathas' schlössen 
einen Bund, denn er liebte ihn wie sich selbst Und 
Jonathas zog seinen Hock aus und gab ihn dem David, 
und auch seine übrigen Kleider, sogar sein Schwert, 
seinen Bogen und seinen Gürtel." (I. Buch der Könige, 
17, 57 und 58. — 18, 1, 3 und 4.) Ist das die Art, 
wie Freundschaften entstehen? Nein, mit solcher Schnellig- 
keit zündet nur der Strahl sexueller Liebe! 

Sehr beachtenswert ist sodann L Buch der Könige, 
20, 27—41. — Der erzürnte Saul spricht zu Jonathas, 
seinem Sohn: „Du Sohn eines mannsüchtigen Weibes! 
Weiss ich nicht, dass Du den Sohn Isais liebet, Dir 
selbst und Deiner schamlosen Mutter zur 



— 289 — 

Schande!* (30.) Das ist eine ganz klassische Stelle. 
Was soll das anders heissen als: „Weiss ich nicht, dass 
Du, von einer männertollen Mutter geboren, selbst Männer 
liebst, dass Du mit David in einem ^schändlichen' Ver- 
hältnis stehst? 11 — «Und sie küssten einander und 
weinten zusammen." (41.) David, an dem kein Funke von 
Sentimentalität wahrzunehmen ist, der kriegslustige, 
oft zur Härte geneigte Jüngling, wie hätte er küssen 
können, wo er nicht in Liebe entbrannt war! 

Und endlich : Als Jonathas in der Schlacht gefallen 
war, spricht David: „Wie sind doch die Helden gefallen 
im Streit! Jonathas ist erschlagen auf deinen Höhen, o 
Israel! Leid ist mir um dich, mein Bruder Jonathas! 
Ueberaus schön warst Du und lieblicher als 
Frauenminne! Wie eine Mutter liebt ihren einzigen 
Sohn, also habe ich dich geliebt/ (II. Buch d.Eön. 1. 25. 26.) 

— Da ist ein Zweifel wohl ausgeschlossen. — 

„Als ich", schreibt der beilige Augustin in seinen 
autobiographischen ,Bekenntnissen', „in meiner Vaterstadt 
Unterricht zu erteilen begann, hatte die Uebereinstimm- 
ung der Neigungen mich durch innige Freundschaft mit 
einem jungen Mann verbunden, der in meinem Alter und 
wie ich in der Blüte der Jahre stand. Er war mit mir 
aufgewachsen. Wir hatten dieselben Schulen besucht, 
dieselben Spiele geteilt. Damals aber war er mir 
noch keineswegs in diesem Sinne Freund ge- 
wesen, obgleich es auch nicht einmal zu jener 
Zeit die rechte Freundschaft war. (,Sed nondum 
sie erat amicus, quamquam ne tunc quideni sicuti est 
vera amicitia.") 

Denn eine solche ist nur diejenige, welche du selbst 

— o Gott — zwischen den Seelen befestigest, durch 
das Band der Liebe, die in unseren Herzen aus- 
gegossen ist vom heiligen Geist, der uns ge- 
geben worden'. Allein sie war überaus wonnig, unsere 

Jahrbuch II. 19 



♦ 



— 290 - 

Freundschaft, geschlossen durch die Glut der gleichen 
Neigungen • 

n Meine Seele konnte ohne ihn nicht mehr leben. 
Aber, o mein Gott, du Gott der Rache und Quelle aller 
Erbarmungen zugleich, du, dessen Arm ausgestreckt ist 
über deinen flüchtigen Sklaven, und der du sie auf wunder- 
baren Wegen zu dir zurückführst, siehe, plötslich nahmst 
<Ju mir diesen Menschen aus der Welt, nachdem ich seine 
Freundschaft kaum ein Jahr genossen gehabt hatte, sie, 
die mir süss war über alle Süßigkeiten meines damaligen 
Lebens. Was thatest du damals, o Gott ! Wie undurch- 
dringlich ist der Abgrund deiner Gerichte! Dieser junge 
Mann ward von einem hitzigen Fieber ergriffen und lag 
lange ohne Bewusstsein im Todessch weiss ... .Er 
starb in meiner Abwesenheit/ 

„O welch düsterer Schmerz erfüllte da meine Seele! 
Alles, was ich sah, zeigte mir das Bild des Todes. Der 
Aufenthalt in mainer Vaterstadt wurde mir zur Marter 
und das väterliche Haus zu einem furchtbar unglücklichen 
Ort. Betrachtete ich ohne ihn die Gegenstände, deren 
Genuas wir geteilt hatten, so zerrissen sie meine Seele 
durch unaussprechliche Qujden. Ueberall suchten ihn 
meine Augen und ich fand ihn nicht mehr. Alles war 
mir verbasst, weil er nicht da war, und weil nichts mehr 
wie zur Zeit seines Lebens mir sagen konnte: Siehe, er 
kommt wieder. Ich war mir selbst ein unauflösliches 
Rätsel geworden. Ich fragte meine Seele nach der Ur- 
sache ihrer Traurigkeit und warum sie sich so sehr be- 
trübe. Und sie konnte mir nichts antworten " 

„Jetzt, Herr, ist das alles vorüber, und die Zeit hat 
meine Wunde geheilt. Darf ich nun das Ohr meines 
Herzens deinem Munde näher bringen und von dir er- 
fahren, warum die Thränen für die Unglücklichen so süss 
sind ? Wie, bist Du nicht> obwohl überall gegenwältig, 
unendlich entfernt von unserem Elend? Würde 



die Stimme unserer Thränen nicht zu Deinem Ohr auf- 
steigen, so würde uns keine Hoffiiung mehr in unserem 
Unglück bleiben. Warum also ist es so süss, diese 
Früchte unserer Bitterkeiten zu pflücken, zu weinen und 
zu seufzen, zu ächzen und zu klagen? Kommt diese 
Süssigkeit etwa von der Hoffnung, dass Du uns erhören 
werdest ? Das ist wahr von den Thränen, welche wir im 
Gebet vergiessen, weil es ihre Absicht ist, sich zu Dir 
zu erheben. Das war aber nicht der Fall, als meine 
Seele beweinte, was sie verloren hatte und in düsterer 
Qual versenkt blieb. Denn ich hoffte nicht» ihn wieder 
aufleben zu sehen und meine Thränen flössen nicht, um 
ihn zurückzuerlangen. Ich seufzte, ich weinte bloss, weil 
ich unglücklich war und verloren hatte, was meine Freude 

bildete " „Ja, ich war elend. Und giebt es ein 

Herz, das es nicht ist, sobald es sich von der Liebe zum 
Vergänglichen hinreissen läset, und welches sich nicht 
zerrissen fühlt, wenn es dasselbe verliert? Das ist der 
Zustand, in dem ich mich damals befand. Ich vergoss 
die bittersten Thränen und fand Linderung nur in ihrer 
Bitterkeit. O wie unglücklich war ich! Und doch war 
mir dieses so elende Leben noch lieber als selbst mein 
Freund. Wohl hätte ichs ändern mögen, aber doch war 
es mir lieber, ihn verloren zu haben als das Leben. Ich 
weiss nicht einmal, ob ich eingewilligt hätte, es zu ver- 
lieren, um ihn zu retten, wie die Geschichte oder Fabel 
von Orestes und Pylades erzählt, welche für einander 
oder wenigstens mit einander zu sterben wünschten, weil 
ihnen der Gedanke, ohne einander leben zu müssen, 
schrecklicher war als der Tod. Meiner Seele bemächtigte 
sich eine gewissermaseen ganz entgegengesetzte Empfin- 
dung. Der Grund liegt ohne Zweifel darin, dass mir, je 
mehr ich ihn geliebt hatte, der Tod, welcher mir ihn 
entrissen, um so verhasster erschien, und ich ihn als den 
unversöhnlichsten Feind um so mehr fürchtete. Ich 

19* 



— 292 — 



glaubte sogar, er werde, da er mir ihn entreissen konnte, 
augenblicklich alle Menschen dahinraffen. Das war da- 
mals der Zustand meiner Seele, und die Erinnerung daran 
ist meinem Gedächtnis tief eingeprägt. Siehe da mein 
Herz, o Gott, erforsche es und siehe, dass diese Erinner- 
ungen mich nicht täuschen, o Du, meine einzige Hoffnung, 
der Du mich von dem Schmutz solcher Neig- 
ungen reinigest, meine Blicke auf Dich richtestund 
meine Füsse vom Fallstrick befreiest. Ich wun- 
derte mich, dass die übrigen Menschen noch lebten, nach- 
dem ich den hatte sterben sehen, den ich liebte, wie 
wenn er ewig hätte leben sollen. Weit mehr aber wun- 
derte ich mich, dass ich noch lebte, nach dem Tode 

dessen, der mein zweites Ich war Ich fühlte, dass 

seine Seele und meine nur eine Seele in zwei Leibern 
gewesen waren. Darum wurde mir das Leben zum Ekel, 
weil ich mich sträubte, nur halb zu leben. Und darum 
vielleicht fürchtete ich mich auch zu sterben, weil durch 
meinen Tod derjenige ganz gestorben wäre, den ich so 
heiss geliebt hatte!" 

„ Welch ein Wahnsinn, die Leiden der mensch- 
lichen Natur so ungeduldig zu ertragen, wie ich damals 
that! Ich seufzte, ich weinte, mein Herz war voll Ver- 
wirrung und Zerrüttung. Ich war ohne Ruhe und ohne 
Rat Meine zerrissene und blutende Seele ertrug es un- 
geduldig, in mir zu bleiben. Es war eine schwere Last, 
von der ich nieht wusste, wo ich sie ablegen sollte. 
Nichts konnte mich zerstreuen, nicht liebliche Haine, nicht 
die Freuden des Spiels und des Gesanges, nicht dife besten 
Wohlgerüche und die herrlichsten Mahlzeiten, nicht die 
Berauschungen der Wollust noch die Reize der Lektüre 
und Poesie. Alles war mir unerträglich, selbst das Licht 
des Tages. Was nicht der war, den iöh verloren hatte, 
erschien mir verhasst und stiess mich ab. Nur nicht 
die Seufzer und die Thränen, die allein mir einige Lin- 



derung verschafften. Wenn ich sie manchmal unter- 
brechen musste, dann sank ich zerschmettert unter der 
Last meines Schmerzes zusammen. . . . Ich blieb allein 
in mir selbst, wie in einem wüsten Lande, wo ich nicht 
wohnen konnte, und aus dem ich doch nicht hinauszugehen 
vermochte. Ach, wohin hätte mein Herz vor meinem 
Herzen fliehen können? Wie hätte ich mich selbst fliehen 
oder aufhören können, mich immer zu begleiten? Doch 
ich floh aus meiner Vaterstadt. Denn seltener suchten 
meine Augen ihn da, wo sie ihn doch nicht mehr zu 
sehen gewohnt waren. Ich verliess Tagaste, um nach 
Ohartago zurückzukehren/ 

Nachdem Augustin sodann erwähnt, dass unter dem 
Einfluss der heilenden Zeit und namentlich unter dem 
Einfluss des Reizes, den andere Freunde auf ihn ausübten, 
die Wunde allmählich doch zu vernarben begann, schliesst 
er an dieses ergreifende Kapitel seiner Herzensgeschichte 

folgende Betrachtungen an: „ Glücklich, o mein 

Gott, ist der Mensch, der dich liebt !* „Herr, 

Gott der Heerschaaren, bekehre uns zu dir! Zeige uns 
dein Angesicht und wir sind gerettet! Denn wohin das 
Herz des Menschen sich wendet, überall wird es durch 
den Schmerz gefesselt, wenn es nicht dir anhängt. Und 
das, obgleich es der Schönheit nachgeht, wie sie 
ausserhalb seiner selbst und ausserhalb deiner zu finden 
ist. Diese Schönheit wäre nicht, wenn sie nicht deine 
Hand geschaffen hätte. Sie entsteht nur, um zu vergehen. 
Indem sie entsteht, beginnt sie zu sein, indem sie wächst, 
vervollkommt sie sich, und hat sie dieses Ziel erreicht, so 
verwelkt sie und kehrt wieder ins Nichts zurück. Ja, 

Alles verwelkt. Alles stirbt hienieden Meine Seele 

preise dich wegen all dieser Dinge, o mein Gott, der du 
sie erschaffen hast. Aber sie hänge nicht an ihnen 
mit den Banden einer fleischlichen Liebe! 

O meine Seele, lass dich nicht von den Eitelkeiten 



— 294 — 



▼ erführen! .... In Gott wirst du eine unveränderliche 
Ruhe finden, in der man den Gegenstand seiner Liebe 
nicht verlieren kann, wenn man ihn nicht anders selbst 

verlisst 

O meine Seele, wenn dir die Leiber durch ihre 
Schönheit gefallen, so seien sie dir ein Anlass, Gott 
iu preisen und es erhebe sich deine Liebe auf diese 
Weise zu dem, der sie geschaffen hat, damit du nicht; 
wenn du dabei stehen bleibst, was sie Liebenswürdiges 
haben, ihrem Schöpfer missfallest! .... Lasset uns Gott 
lieben und nur ihn!" (Confessiones. IV. cap. 4, 5, 6, 7, 
8, 9, 10, 11, 12.) 

So äussert sich Augustin, nachdem er sich zum 
Katholizismus bekehrt, nachdem er ein strenger 
Ascet und Bischof geworden war, über diese „Freund- 
schaft*. Die Sprache ist, wie Jeder sieht, ausserordent- 
lich klar, für Denjenigen mindestens, der die Beschreibung 
und die angeknüpften Betrachtungen unbefangen liest. 
Anderswo in seinen Bekenntnissen heisst es von dem 
nämlichen Lebensabschnitt: „Venam amicitiae coin- 
quinabam sordibus concupiscentiae candoremque eius 
obnubilabam tartarea libidine." Denn: „Amare et amari 
dulce mihi erat magis, si etiam amantis corpore fruerer.* 
Ob er dabei Freundschaft mit Jünglingen oder Mädchen 
meint, ist an und für sich nicht ersichtlich. Doch dürfte 
der strenge Ascct schwerlich vom „candor* der Freund- 
schaft eines jungen Mannes mit jungen Mädchen gesprochen 
haben. (Liber III. caput. I.) Auch das „amantis* im 
2. Satz ist beachtenswert. Er dürfte sich wohl gescheut 
haben, ,amati'* zu setzen. Das Passiv erwartet man doch. 
Und vom Verkehr mit Weibern spricht Augustin immer 
ganz offen. 




Aus dem Leben eines Homosexuellen, 

Von 

Dr. phil. Max Kalte. 

Ein eigenartiges Gefühl der Wehmut beschleicht 
mich, wenn ich es in den nachfolgenden Zeilen unternehme, 
in vergangene Tage meines Lebens zurücktauchend, vor 
einem grösseren Publikum eine Anzahl von Bildern aus 
demselben zu entrollen. Fast möcht' ich, indem ich da- 
mit beginne, wieder davon abstehen ; denn was ich durch- 
lebt und was ich hier schildern will, es ist so eigenartig 
und so intim, dass ich mich scheue, es der Oeffentlich- 
keit preiszugeben. Wird sie es, wird sie mich nicht 
missverstehen? Und werden infolgedessen nicht neue 
Schmerzen meine wunde Seele heimsuchen? — Und doch 
— es gilt, indem ich mich selbst der Welt offenbare, eine 
Lanze zu brechen für eine ganze Klasse im Grunde 
unglücklicher, weil verkannter und verfolgter, Menschen- 
kinder. Meinen Brüdern gilt mein Kampf; darum nehm' 
ich ihn auf. Zeigen will ich euch allen, die ihr euch so sicher 
uud frei und erhaben fühlt im Besitze einer „normal- 
sexuellen Veranlagung 1 , dass es auch unter 'uns aüs- 
gestossenen „Abnoftnsexuellen* dieselbe Grösse und Tiefe 
des Empfindens, dieselbe Gewalt der Gefühle und dieselbe 
Zartheit der Seele giebt, wie sie eure Dichter schildern, 
eure, die so vielfach die Unsern sind, wie ein Shake- 



— 296 — 



speare, ein Grillparzer, ein Platen, oder die doch volles 
Verständnis und Mitfühlen für uns besitzen, wie — der 
Grö8ste unter allen — Goethe!*) 

Es gilt ja noch immer — trotz Plato und der Alten 
des römischen Reichs und trotz aller neueren und neuesten 
Bestrebungen — es gilt noch immer: aufzuklären! So 
lange ein Mensch eine Sache ihrem Wesen nach über- 
haupt nicht kennt, kann er sie auch nicht beurteilen, 
geschweige denn richtig und gerech t beurteilen. Wie 
aber kennen und erkennen wir etwas? — Als Natur- 
wissenschaftler antworte ich : auf dem Wege der Induktion, 
durch Beobachtung, auf Grund deren wir Schlüsse machen, 
Folgerungen ziehen, geistige Kombinationen schaffen. Die 
Beobachtung aber geht vom einzelnen Falle aus. So 
biete ich denn allen denen, die ehrlich und innerlich frei 
genug sind, Dingen näher zu treten, die ihnen fremd oder 
gar persönlich unsympathisch sind und von der — so oft- 
mals wechselnden — Meinung der Welt verworfen werden : 
ich biete ihnen einen Fall der Beobachtung, dessen Objekt 
ich selber bin und der um so verbürgter ist, als ich nichts 
besser kenne und beobachtet und kritisch sondiert habe 
als — eben mich selbst. 

Ich biete mich als Objekt der Beobachtung oder, 
um den Mund voller zu nehmen: der Forschung dar, 
bitte aber, unbefangen und ohne Vorurteil zu bedenken 
und zu prüfen, was ich über mich sage. Dann wird — 
weniger mir, als der Gesamtheit meiner Leidensgefährten 



*) Man vergl. betreffs Goethe s seinen „Erlkönig" („Willst, 
feiner Knabe, du mit mir gehn?" — „Ich lieb' dich, mich reizt 
deine schöne Gestalt"), das Schenkenbuch im „West-östlichen 
Divan - sowie seine Mitteilungen über seine (zweifellos homosexuelle) 
Schwester in „Dichtung und Wahrneit", 4. Teil, 18. Buch, endlich 
auch die Figur der Mignon im „Wilhelm Meister" und das Verhalten 
des letzteren zu ihr, besonders im Anfange der Bekanntschaft. 



— 297 — 



in gewissem Grade gedient sein, jener gleichsam heimat- 
losen Klasse der homosexuellen Menschen, der ich — leider 
und Gott sei Dank — angehöre. 

Leider — das wird aus der folgenden Darstellung 
klar werden, indem sie die Kämpfe, Entsagungen und 
scheusslichen Erlebnisse enthüllt, denen ich preisgegeben 
war. Aber auch: Gott sei Dank; denn ich bekenne es 
offen — und es wird mir frei ums Herz, wenn ich das 
sagen darf: Wenn heutigen Tages jemand käme und mir 
verspräche, mich frei zu machen von meiner homosexuellen 
Anlage und Neigung und mir die Liebe zum Weibe ein- 
zugeben (was ihm nach mehr als SOjähriger Erfahrung 
meinerseits sicher niemals gelingen würde), so würde 
ich ihm für seine Gesinnung danken, sein Anerbieten 
aber unbedingt zurückweisen, weil — die eigenartigste, 
hehrste, wunderbarste Liebe(mir)doch die homosexuelle ist — 

Doch ich beginne, hinabzutauchen in die Flut ver- 
gangener Tage. 

Meine Kindheit seh' ich wieder; sehe mich als 
kleinen, frischen und gesunden Knaben, der unter liebe- 
voll sorgenden Elternhänden emporwuchs. Vater und 
Mütterchen sind jetzt tot, seit Jahren schon; sie haben 
nie erfahren, wie's uro mich bestellt war. Und doch war 
es in sexueller Beziehung nie anders um mich bestellt als 
heute. Ich habe mich n ienials, in meinem ganzen, 38jährigen 
Leben nicht , geschlechtlich zum Weibe hingezogen gefühlt. 
Ich hebe dies ausdrücklich — als eine Thatsache der 
Erfahrung — hervor, gegenüber den Behauptungen 
solcher, welche meinen, das Liebesverlangen sei in jüngeren 
Individuen (bis zu 14 und 15, ja 17 und: 18 Jahren) 
geschlechtlich indifferent. Das mag für manche Menschen 
zutreffen, für alle sicherlich nicht. Mein eigenes Bei- 
spiel spricht dagegen. Ich war nie halb, nie zweifelhaft. 
Ich liebte nie etwas anderes als jüngere oder, ungefähr 
gleichaltrige Mitglieder des eigenen — . männliche» — 



— 298 — 



Geschlechts; ich liebte sie, mit der ganzen Glut einer 
innig empfindenden, tiefer veranlagten Seele. Das war 
bereits so, als ich im Alter von ungefähr 3 Jahren in 
die Schule ging. Dort war ein kleiner Knabe, etwa im 
gleichen Alter wie ich, mit lieblichen Gesichtszügen und 
von holder Figur; in reisendem, grauem Anzüge, mit 
langen und sehr weiten Hosen (wegen deren er von mehreren 
Mitschülern geneckt wurde), seh' ich ihn noch heute vor 
mir. Ich erwärmte mich dermassen für ihn, dass ich 
mich, wenn er, der leider nur ein mittelmässiger Schüler 
war, vom Lehrer — mit dem Lineal auf die Hände — 
Schläge bekommen sollte, zum Sterben wund und weh 
im Herzen fühlte und am liebsten vorgestürzt wäre, um 
den Lehrer zu bitten, mich statt „seiner 44 zu züchtigen. 
Aber ich th a t es n i c h t, denn ich war ein folgsamer Schüler 
und, wenn auch lebhaft, so doch in gewissem Grade 
schüchtern. Demgemäss wagte ich auch nie, mich dem Kleinen 
zu nähern, um mit ihm zu verkehren oder ihm gar meine 
Empfindungen innigster, wonnigster Liebe zu offenbaren. — 
Später verlor ich ihn aus dem Gesichtskreis. — 
Andere Erscheinungen traten mir entgegen und 
fesselten mich. So, als ich ungefähr 9 — 10 Jahre alt war, 
ein munterer, hübscher Junge aus einer Oifisiersfamilie, 
der um weniges jünger war als ich und in demselben 
Hause wie ich wohnte. Zwar berauschte er mich nicht 
so wie jener Ersterwähnte; aber ich hatte ihn von Herzen 
gern, und noch heute ist mir eins in süsser Erinner- 
ung, das mir an ihm besonders sympathisch war: der von 
ihm ausgehende, ihn umschwebende holde Duft, den ich, 
wenn ich ihn genauer charakterisieren soll, als chokoladen- 
artig bezeichnen muss. Es gab damals noch keine 
Jäger'sche Seelentheorie, und wenn sie schon vorhanden 
gewesen wäre, hätte ich sie nicht gekannt; ich machte 
mir auch keine Gedanken darüber, woher jener Duft 
stammte und wie er zu erklären wäre, sondern lehnte 



— 299 — 



nur oft meinen Kopf an meines Spielgefährten Brust und 
genoss halb nnbewusst und unwissend das Lebensagens 
eines Menschen, der mir seelisch nahestand. Betonen 
möchte ich dabei, dass in diesem wie in jenem ersten 
Falle von eigentlich geschlechtlicher Empfindung oder 
gar irgend welchem sexuellen Verkehr nicht die Rede 
war. — Auch dieser zweite Freund (M. K. mit Namen) 
entschwand mir nach einiger Zeit, und zwar auf eine 
Weise, die mir, freilich erst lange nachher, die Ueber- 
zeugung eingab, dass auch er (gleich mir) homosexuell 
veranlagt war. Er wohnte, wie ich schon erwähnt habe, 
im selben Hause wie ich, aber nicht bei seinen Eltern, 
sondern bei einem Lehrer, bei dem er sich in Pension 
befand. Eines Tages war sein Erzieher in grosser Auf- 
regung und begab sich, wie ich ängstlich klopfenden 
Herzens vom Fenster meiner Wohnung aus beobachtete, 
in Begleitung meines kleinen Freundes zu Leuten, die 
gleichfalls in demselben Hause wohnten und einen Sohn 
besassen, der noch jünger war als M. K.; mit diesen 
führte der Lehrer eine grosse Verhandlung, über deren 
Inhalt ich nur dunkle Andeutungen vernahm; soviel aber 
ging aus denselben, auch mir verständlich, hervor, dass 
sich M. K. mit jenem Knaben sexuell eingelassen hatte. 
Kurz darauf verliess mein Freund die Pension des Lehrers. 
Ich sah ihn niemals wieder. Wohl aber traf ich mit 
seinem Erzieher vor einigen Jahren auf der Reise zusammen. 
Ich erkundigte mich bei ihm bald nach dem Schicksal 
von M. K.; aber er wusste auch nichts von ihm, erwähnte 
vielmehr nur, dass M. K. damals, als er von ihm ging, 
einen „schweren sittlichen Fall" gethan habe. 

Ich war 12'/* Jahre alt und Tertianer geworden, als 
ich für einen Mitschüler von mir, E. V. mit Namen, 
innige Sympathie zu empfinden begann. An ihn waren 
die ersten Verse gerichtet, die ich im Alter von 14 1 / 2 
Jahren machte — einfache und noch unbeholfene, aber 



— 300 — 



trotzdem Innigkeit atmende Liebesgedichte. — Meinem 
Vi Jahr jüngeren Freunde schien die Zuneigung, die ich 
ihm entgegenbrachte, zu gefallen; als ich ihn aber einst 
fragte, ob er mich liebte, meine Liebe zu ihm er- 
widern könnte, erhielt ich eine verneinende Antwort 
Bald musste ich dann eine betrübende Lebenserfahrung 
machen, die nämlich, dass die Menschen, wie es so viel- 
fach der Fall ist, viel eher geneigt sind, sich auf niedrige 
Dinge, die dem Augenblicksgenusse dienen, einzulassen 
als auf ideales .Fühlen und Thun, das freilich Schwung 
der Seele erfordert: E. V., der mich nicht lieben wollte 
(und, ich erkenne es an: nicht lieben konnte, da er 
anderer Natur war als ich), trat gleichwohl in einen ge- 
wissen geschlechtlichen Verkenr mit mir, der sich aller- 
dings auf blosse Berührung beschränkte. Mein Gefühl 
der Zuneigung aber bewahrte ich ihm bis über die Schul- 
zeit hinaus, als wir bereits längst wieder alle Vertrau- 
lichkeiten aufgegeben hatten. Die Glut einstiger Tage 
freilich lebte nicht mehr in mir, denn E. V. war aus 
einem herzigen und zum Teil sinnigen Jungen ein junger 
Mann von der üblichen Durchschnitts-Auffassung des 
Lebens und ohne tieferes geistiges Streben geworden. 
Aber trotzdem trug ich ihm noch einmal — ungefähr 
19 Jahre alt — in einer Nachtstunde, als wir aus einem 
Verein ehemaliger Schüler (der von uns vordem be- 
suchten Schule) nach Hause gingen, meine Freundschaft 
an und bat ihn um die seine; ja, ich offenbarte ihm — 
von gereifterem Standpunkt aus als.einst — , dass ich ihn 
über alles lieb hätte. Er lehnte ab; und ich konnte mich, 
wenn mir das Herz auch schwer ward, nicht darüber be- 
klagen. 

„Von gereifterem Standpunkt aus," sagte ich. — In 
der That: es war mir im Laufe der Jahre, im Laufe 
meiner Entwicklung und der Erfahrungen, die ich aus 
all 9 meiner Umgebung sammeln konnte, immer klarer zum 



— 301 — 



Bewusstsein gekommen, dass mein absoluter Mangel an 
Neigung zum weiblichen Geschlecht, den ich von jeher 
erkannt hatte, sowie mein inniges und oftmals stürmisches 
Empfinden für gewisse jugendliche männliche Personen 
nicht auf übermässige Keuschheit einerseits und ein stark 
entwickeltes blosses Freundschaftsverlangen andererseits 
zurückzuführen war, sondern dass der Grund für jene 
Erscheinung in meiner ganzen Natur, meiner sexuellen 
Veranlagung liegen musste. Ich f ü h 1 1 e eben physisch 
und psychisch anders als, soviel mir bekannt war, alle 
meine Freunde und Bekannten. Und schon damals hätte 
ich, wie heute, bekennen müssen: Wenn die Heterosexuellen 
unsere Neigung zum gleichen Geschlecht als unnatürlich 
oder widernatürlich bezeichnen und die Aeusserung thun, 
sie begriffen gar nicht, wie man als Mann überhaupt 
einen Mann oder Jüngling lieben könne, lieben wie etwa 
ein Romeo seine Julie, ein Faust sein Gretchen u. s. w., so 
kann ich nicht anders als erwidern: „ich begreife es 
nicht — aus meinem Innern, meinem Fühlen heraus 
— wie ein Mann ein Weib lieben kann; ich sehe zwar, 
dass dies geschieht, und nehme es somit, naturwissen- 
schaftlich gebildet und naturwissenschaftlich denkend, als 
eine Thatsache der Erfahrung hin, die ich nicht leugnen 
kann, mache mir auch klar, dass es aus naturwissen- 
schaftlichen Gründen notwendig ist, dass es einen Sinn 
hat, der sich im Rahmen einer Betrachtung des Natur- 
ganzen erkennen lässt — aber alles dies könnte mich 
(so wenig wie irgend einen andern) dazu bestimmen, mich 
nun meinerseits faktisch mit einem Weibe geschlechtlich 
einzulassen; denn nicht aus wissenschaftlichen noch aus 
religiösen*) Rücksichten wird der Geschlechtsakt zwischen 

*) Etwa weil Gott im alten Testament befohlen habe: Seid 
fruchtbar und mehret euch, was er — das Gebot w Ortlich genommen 
: — gar nicht jalotig hafte w^gen des Triebes, den er dem Menschen 
ins Innere gab. ' , . 



— 302 — 



den Menschen vollführt, sondern weil ein ihnen ein- 
geborener Trieb sie dazu veranlasst, ja zwingt. 
Diesen Trieb aber — in Bezug auf's andere Ge- 
schlecht — hab' ich noch nie in mir gespürt ; und darum 
ist der geschlechtliche Verkehr oder auch nur die ge- 
schlechtlich beeinflüsste Zuneigung zwischen Mann und 
Weib von meinem Empfinden aus allgemein, nichtnur 
für mich, sogar etwas Unnatürliches, in demselben 
Masse wenigstens, wie es für den Heterosexuellen die 
gleichgeschlechtliche Liebe ist.* 

Auch auf eine andere Vorhaltung, die den Homo- 
sexuellen oftmals von den Heterosexuellen gemacht wird, 
möchte ich hier in Kürze eingehen, da sie an einen im 
Vorstehenden schon erwähnten Umstand anknüpft. Man 
weist darauf hin, dass die Ehe oder genauer: der — 
durch die Ehe sanktionierte — geschlechtliche Verkehr 
zwischen Mann und Weib einen thatsächlichen Zweck 
habe, da er der Erhaltung des Menschengeschlechts 
diene, mögen die an dem Verkehr Beteiligten auch in 
den wenigsten Fallen diesen Zweck unmittelbar vor Augen 
haben. Beim ho m o sexuellen Verkehr fällt dieser Zweck 
natürlich fort, nnd es findet nur das sinnliche Verlangen 
seine Befriedigung. Damit würde der homosexuelle Ge- 
schlechtsakt niedriger einzuschätzen sein als der hetero- 
sexuelle. 

Hierauf ist zu erwidern, dass, wenn man zunächst 
den einzelnen Akt als solchen, nicht als den .blossen Teil 
einer Gesamtheit des Geschehens und Verhaltens ins Auge 
fasst, der heterosexuelle Akt aus dem Grunde weder 
moralisch noch ästhetisch höher einzuschätzen ist als der 
homosexuelle Akt, weil der genannte Zweck für 
die grösste Anzahl aller heterosexuellen Akte 
nicht nur subjektiv, sondern auch objektiv 
nicht in Betracht kommt, da zuliebe des Zweckes 
Mann und Weib, knapp gerechnet, nur alle zehn Monate 



— 803 — 



«in mal den Geschlechtsakt zu vollziehen hätten. Alle 
übrigen Male, insbesondere in den Fällen, wo Vorsichts- 
maßregeln angewendet werden, um dem Kinder- „Segen" 
vorzubeugen, ist auch zwischen Mann und Weib, in keinem 
anderen Masse als beim .homosexuellen Verkehr, die 
Sinnlichkeit das Bestimmende. 

Sagt man aber : die Natur streut den Geschlechtstrieb 
allgemein aus und schafft dadurch in verschwenderischer 
Weise eine Fülle von Gelegenheit zur Schaffung von 
Leben, während sie es doch nur vereinzelt zur wirklichen 
Erzeugung lebensfähiger Keime kommen lässt, so steht den 
Homosexuellen das Recht au, auch die Anerkennung der 
Ansicht zu verlangen, dass die Natur so überreich ihre 
treibenden Kräfte gespendet hat, dass sie selbst da sich 
regen, wo-*- wie auch bei unfruchtbaren Hetero- 
sexuellen — niemals auf die Erreichung des ange- 
deuteten Zieles zu rechnen ist Ein anderes Ziel kann 
aber wohl errungen werden, et» Ziel> das den homo- 
sexuell Verkehrenden, wenn sie auf höherer sittlicher 
Stufe stehen, ebenso gut vorschwebt wie den gemeinsam 
lebenden Heterosexuellen unter der angegebenen Be- 
dingung — • das Ziel, sich gegenseitig seelisch zu beglücken, 
im. Kampfe des Lebens, spiele er sich nun auf materiellem 
oder geistigem Gebiete ab, zu stützen und zu fördern, 
einander zu helfen in Not, zu trösten im Leid, gemeinsam 
zu fühlen, in derselben Sphäre des Empfindens zu atmen. 
Dies Ziel ist für die Homosexuellen in gleicher Weise wie für 
die Heterosexuellen erreichbar, wenn der Verkehr unter 
jenen wie diesen kein äussetlieher, rein sinnlicher bleibt ; und 
es wird andererseits, wenn letztere Bedingung nicht er- 
füllt wird, für die Heterosexuellen ebensowohl wie für 
die Homosexuellen in ewig weiter Ferne, ja vielleicht 
verhüllt oder seitab liegen bleiben. Es kommt eben in 
dieser Beziehung lediglich auf die Meuschau an, auf 
die Menschen als sittliche Wesen, auf die Stärke und 



— 30 t — 



Feinheit ihres moralisches' Empfindens, auf die Fülle und 
Tiefe ihres Gefühls, nicht auf ihre geschlechtliche Ar- 
tung, die Zugehörigkeit zu dieser oder jener Klasse der 
Sexualität. Wie zahlreiche, staatlich anerkannte und kirch- 
lich geheiligte Ehen sind nicht derart zustande gekommen 
und werden derart geführt, dass man sie nicht höher 
schätzen kann als ein Konkubinat, ja manchmal das 

sogar noch nicht! 

Doch ich kehre zu dem Faden meiner Erzählung 
zurück. — Ich war — wegen einiger Examina etwas 
spät, nämlich im Alter von 24 Vi Jahren — Soldat ge- 
worden. Ein halbes Jahr nach mir trat in unsere Kom- 
pagnie, als Einjährig-Freiwilliger wie ich, ein junger 
Mediziner ein, der, frisch aus der Provinz gekommen und 
ausserdem leichtfertig veranlagt, vom Grossstadtleben 
gewaltig angezogen wurde. Der Strudel desselben er- 
fasste ihn. In Weiberkneipen wurde er sein Geld los, 
und er kam in Not. Ich merkte das, wenn er mir auch 
zunächst nichts offenbarte, bald; und da wir uns an ein- 
ander geschlossen hatten, er in Freundschaft, ich in Liebe, 
weil er ein hübscher, treuherzig scheinender Mensch war, 
half ich ihm, fast über meine Kräfte hinaus. Noch heute, 
wo er längst verheiratet ist, einen kleinen Sohn hat und 
als praktischer Arzt und mehr noch, weil er eine „gute 
Partie" gemacht hat, in günstigen finanziellen Verhält- 
nissen lebt, schuldet er mir mehrere Hundert Mark; ans 
Bezahlen freilich denkt er nicht, und ich bin zu stolz und 
stand ihm zu nahe, als dass ich das Geld von ihm fordern 
möchte. Dass er aber zu einem ordentlichen Menschen 
geworden ist (sein Vater, den ich wie seine ganze Familie 
kennen lernte, war schon entschlossen, ihn nach Amerika 
zu schicken), hat er, wie ich glaube, zu einem kleinen 
Teile auch mir zu verdanken. Aber ich förderte ihn 
gern ; mein Herz jubelte bei jedem kleineren oder grösseren 
Siege, den er über seinen Leichtsinn und seinen un- 



— 305 — 



ordentlichen Lebenswandel davontrug. Als er — in Geld- 
not befindlich — eine ihm von Kameraden anvertraute 
nicht unbeträchtliche Summe unterschlagen hatte, sagte 
ich mich nicht, wie andere, von ihm los, sondern trat für 
ihn ein und bewirkte es durch meine Vermittlung, dass er 
weder aus einer Burschenschaft, deren Mitglied er war, 
schimpflich ausgestoßen noch etwa von der Universität, 
die er inzwischen (nach Ablauf seiner militärischen Dienst- 
zeit) bezogen hatte, relegiert wurde; er konnte seine 
Carrifere weiter verfolgen und that es mit grösserem Eifer 
als bisher und in engem Anschluss an mich, der daran 
arbeitete, ihn zu ernstem Streben zu ermuntern sowie 
überhaupt sein Inneres zu vertiefen und ihm im Gegen- 
satze zu seinem bisherigen sinnlosen Verhalten eine ver- 
nünftige Lebensauffassung beizubringen. Mit seiner und 
seines Vaters Uebereinstimmung verwaltete ich sein Geld 
und zahlte ihm dasselbe bei beiderseitiger genauester 
Buchführung seinen Bedürfnissen entsprechend aus. Zu 
diesen Bedürfnissen gehörte nun aber auch der Verkehr 
mit dem Weibe. Wir sprachen darüber offen und ernst 
— er als angehender Mediziner, ich als Naturforscher, 
der das Studium hinter sich hatte. Ich musste mich 
wenn ich nicht unvernünftig handeln wollte, dazu be- 
quemen, ihm gelegentlich zu diesem Zwecke 3 Mark ein- 
zuhändigen. Mit welchen Gefühlen aber ich dies that, 
kann ein heterosexuell Veranlagter nur dann verstehen, 
wenn er sich vorstellt, er habe eine heiss und innig ge- 
liebte Braut, die er einem Rou£ in die Arme legt, während 
er selbst voll Entsagung sich zurückzieht, nachdem er 
vorher noch mit einem Geldbetrage gewissermassen sich 
losgekauft hat. Ich gedenke noch lebhaft und schmerz- 
lich eines Abends, als mein Freund in traulichem Ge- 
plauder bei mir und meinen Eltern (bei denen ich wohnte, 
solange sie lebten) geweilt hatte und mich auf dem Heim- 
weg, auf dem ich ihn ein Stück begleitete, um die be- 

Jahrbuch II. 20 



— 806 — 



wusste Summe bat. Ich gab sie ihm, wurde aber, vorher 
so froh bewegt und freundlich mit ihm sprechend, plötz- 
lich still, und ein Gefühl unbeschreiblicher Wehmut ging 
mir durchs Herz. Die Strassenecke, wo wir Abschied zu 
nehmen pflegten, war erreicht; er stieg auf die Pferde- 
bahn, und ich kehrte um. Noch einmal blickte ich ihm 
nach, tiefe Trauer, wilde Zerrissenheit im Innern, aber 
voll innigen Empfindens für ihn, den ich trotz allem 
st lig liebte. Dann taumelte ich nach Hause, sank, in der 
Wohnung angekommen, auf die Kniee und weinte. — 

Nachdem mein Freund einen grossen Teil seines 
Studiums hinter sich hatte, fiel ihm meine Beeinflussung, 
der Zwang, den er einst freiwillig auf sich genommen 
hatte, lästig. Er glaubte nun selber seinen Weg finden 
zu können; unser Verhältnis wurde gelockert, und, als 
er mit anderen Freunden und Bekannten, die eine der 
seinen ähnlichere Lebensauffassung hatten, häufiger und 
intimer verkehrte, kamen wir völlig auseinander, wenn 
wir uns auch gegenseitig eine freundliche Gesinnung be- 
wahrten. 

Jahre waren vergangen, da lernte ich eine Familie 
kennen, deren einer, jugendlicher Sohn mir durch sein 
Aussehen und Verhalten den Eindruck eines femininen 
Homosexuellen machte. Zwar sagte mir seine und seiner 
Familie Art nicht völlig zu, auch genügte er meinen An- 
forderungen im Punkte der Schönheit nicht, aber trotz- 
dem zeigte ich mich, vom Gedanken an die Möglichkeit 
einer endlichen Erfüllung meiner geheimsten Wünsche 
und Liebesträume bewegt, erst freundlich, dann zärtlich 
gegen ihn, und als ich es wagte, den ersten flüchtig- 
scheuen Kuss auf seine Lippen zu drücken, und ihn dann 
fragte, ob er mir böse sei deswegen, sprach er hold und 
leise, auf meinem Schosse sitzend: „Nein". Ich begann 
nun, mich in ihn zu verlieben. Wir küssten uns oft und 
innig; in geschlechtlicher Hinsicht waren wir lange Zeit 



— 307 — 



zurückhaltend. Die Differenzen in der seelischen Ver- 
anlagung, die ohne Zweifel zwischen ihm und mir vor- 
handen waren, glaubte ich durch die Glut meiner Liebe 
überwinden zu können und, wenn er mich nur wieder- 
liebte, über diesen und jenen Mangel an ihm hinwegsehen 
zu sollen. Wenn ich schon an G. St., den zuvor er- 
wähnten Mediziner, eine Reihe von Gedichten verfasst 
hatte, begann nun, wo ich nicht wie damals unglück- 
lich liebte, das Saitenspiel des Herzens noch voller zu 
erklingen. Eins der an ihn (K. V.) gerichteten Gedichte 
(aus dem Mai 1804) setze ich hierher: 

Du bist mein Lenz, der mir mit Blütenpracht, 
Mit Sonnenlicht und süssem Vogelsang 
Erstanden ist nach langer Wintersnacht 
Und dessen Friedensreigen mir erklang. 

Du bist mein Lenz; dein Auge ist die Sonne, 
Die lachend durch das Grau des Himmels bricht, 
Die lachend in mir zündet sel'ge Wonne 
Und mich um kost als holdes Lebenslicht. 

Du bist mein Lenz; die Rosenlippen blühen, 
Sie öffnen sich, zum Kusse froh-bereit — 
Wohlan! ich folge meines Herzens Glühen 
Und still 1 an ihrem Dufte all' mein Leid. 

Von deinen Armen lass' ich mich umschmeicheln, 
Derweil' ich trinke deines Odems Kraft; 
Mit meiner Hand will ich das Haar dir streicheln, 
Dich herzen, Lieb', voll trauter Leidenschaft. — 

Und wie in Busch und Feld, in Htih'n und Tiefen 
Zur Frühlingszeit ein neuer Geist sich regt, 

50 sei auch du, ob alle Geister schliefen, 
Vom Geist der Liebe jubelnd froh-bewegt. 

Aus deiner Seele soll der Lenz mir scheinen, 

51 e spreche heiss zu mir in jedem Kuss; 
Und unsre Herzen sollen sich vereinen, 
AVenn lockend naht das Blütenkind Genuas. — 

Leider sollte unsere Beziehung, die für mich so 

20* 



308 — 



freundlich und licht begonnen hatte, nicht von langer 
Dauer sein. Auf einer ca. dreiwöchentlichen Sommerreise, 
die ich mit K. V. zusammen machte, wurde es mir bei 
dem tagtäglichen Zusammensein und Umgang immer 
klarer, dass er nicht zu mir passte. Seine Rechthaberei 
und ein gewisser Eigensinn, die sich durch keine Nach- 
sicht, durch keinen liebevollen Zuspruch besänftigen 
Hessen, schnürten mir das erst so freudig offene Herz zu- 
sammen und bewirkten, dass ich mich, durch ihn inner* 
lieh abgestossen, leise in mich selbst zurückzog. Ich 
zweifelte daran, dass er mich überhaupt je geliebt hatte, 
geliebt, wie ich ihn liebte und wie es mein Herz von 
ihm verlangte. Von der Reise heimgekehrt, wurde ich 
sparsamer mit meinen Zärtlichkeiten, und wir kamen sel- 
tener zusammen. Eine Trübung war in unser Verhältnis 
gekommen, und obgleich er mir — spät genug freilich, 
aber vielleicht, weil er selbst nicht eher völlige Klarheit 
über sich besass — seine feminine Homosexualität offen- 
barte, kam es zu einem endgiltigen, wenn auch freund- 
lichen Auseinandergehen. 

Ich will über die folgenden Ereignisse in meinem 
Liebesleben schnell hinweggehen. Arge Enttäuschungen 
wurden mir zu teil. Ich hatte mich in idealer Schwärmerei 
der Hoffnung hingegeben, einen Menschen, der der (männ- 
lichen) Prostitution verfallen war, durch die sieghafte 
Macht der Liebe in reinere Sphären emporziehen zu 
können. Die Liebe hätte dies in der That vermocht* 
aber sie durfte keine einseitige, nur von mir heiss empfun- 
dene sein; er, den es zu retten galt, hätte mich wieder 
lieben, an mir hängen, nach mir sich sehnen, mir willig 
folgen müssen. Nachdem ich ein halbes Jahr lang Geld 
Zeit und die ganze Fülle meines Herzens dahingegeben 
hatte, nachdem ich zwischen Hoffnung und Zweifel, Glück 
und Schmerzen hin- und hergeworfen worden war, musste 
ich die bittere Erfahrung machen, dass die Welle, die den 



— 309 — 



von mir so innig Geliebten emporgetragen hatte, ihn 
wieder verschlang. Ich war innerlich gebrochen, und 
oftmals, wenn ich mit einem Freunde, der über alles, was 
mich betrifft, Bescheid weiss und, obgleich selbst hetero- 
sexuell, doch tiefes Verständnis meinem Wesen entgegen- 
bringt, zusammenweilte, überliess ich mich unter heissen 
Thränen meinem Schmerz und fand, vom Freunde auch 
in diesem Fall begriffen und getröstet, Linderung. 
Mochte die Welt auch über Menschen meiner Art, mit 
meiner seelischen und geschlechtlichen Veranlagung die 
-Achseln zucken und zu allem eigenen Jammer noch das 
Urteil der Verachtung fällen; hier war eine Seele, die 
auch in mir den göttlichen Funken erkannte und das 
Geschöpf Gottes auch dann achtete und mit treuer 
Freundesliebe beschenkte, wenn es, ohne schlecht zu 
sein, von der sonstigen Menschen-Norm abwich. 

„Ohne schlecht zu sein!* — Es hatte ja eine Zeit 
gegeben, wo ich mir eingebildet hatte, von Gott Verstössen 
zu sein, da ich Neigungen in mir trug, die — so rein sie 
auch mir selbst erschienen — doch von der grossen Masse 
verworfen oder zum mindesten verspottet wurden. Es 
war in jener Zeit hinzugekommen, dass mir, der ich mich 
mangels der Erfahrung bei der Annäherung an einen 
jungen Mann ungeschickt benommen hatte, wie ich un- 
begründeter Weise fürchtete, Gefahr drohte. Diese Um- 
stände gaben von einer Seite den Anstoss dazu, dass ich 
mich mit meinem ganzen Herzen dem höchsten Helfer in 
der Not: Gott wieder zuwandte, nachdem ich durch meine 
naturwissenschaftlichen Studien aus einem einst gläubigen 
Knaben ein materialistisch denkender Student geworden 
war. Andererseits war es aber tieferes wissenschaftliches 
Nachdenken selbst, vor allem die Beschäftigung mit der 
Erkenntnistheorie und das Eindringen in die Geschichte 
der Wissenschaften, in den Wechsel und die Umwälzung 
der Anschauungen und Ideen, die sie darbietet, was mich 



A 



— 310 — 



wieder zum Gottesglauben, ja sogar zur öffentlichen 
Agitation für denselben bestimmte. — 

Diese Wandlungen lagen hinter mir, als jener Schlag 
mich traf. Und so fand ich denn noch anderen als nur 
menschlichen Trost; die heilende Hand Gottes, der mich 
— ich fühlte es — nicht verwarf, sondern vielleicht durch 
Nacht zum Lichte führen wollte, legte sich auf mein zer- 
rissenes Herz, und es begann zu genesen. 

Völlig gesund, ja froh aber fühlte es sich erst> als 
neue Liebe es erfüllte. Aus der Zeit und den Ereig- 
nissen, die nun folgten, will ich nur zweierlei heraus- 
greifen : . ein Gedieht und einen Brief, die besser als die 
ausführlichste Darstellung zeigen werden, wie es um das 
Herz eines, wie man vielfach so unschön und unrichtig 
sagt, pervers Empfindenden bestellt sein kann. 

Auf der Flucht. 
(Phantasie an Hermann.) 

Der Mond scheint hell, und es saust der Wind; 
Lass uns jagen, süss' Lieb, geschwind, geschwind 

Durch die Nacht — Ubers Feld — in die Weite! 
Entfliehen lass uns der lauernden Welt, 
Die mit Neid und Bosheit uns feindlich nmstellt 

Und sich rüsten möchte zum Streite. 

Ja, könnte ich kämpfen mit offnem Visier 
Und frei aller Fesseln — ich bliebe hier 

Und wollte im Kampfe mich messen. 
So aber sind ungleich die Kräfte verteilt; 
Drum lass uns von hinnen ziehn unverweilt 

Und der Feinde, der Welt vergessen. 

Die Stunde ist günstig und alles bereit — 
Nur fort! eh' der Liebe That dich gereut — 

Vergiss mir auch Vater und Brüder! 
Du gehst ja mit mir, dem dein Leben gehört, 
Der um dich in Wonne und Leid sich verzehrt — 

Eine Heimat findest du wieder. 



Drum fconitn, mein Liedling, und reich 1 mir die Hand! 

Gen Osten ist fröhlich mein Auge gewandt; 
Komm! sich', wie die Nebel dort brauen! 

Sie hüllen uns ein, dass uns niemand sieht; 

Und wenn ihr Schleier die Thäler flieht, 

Wirst die Sonne der Freiheit du schauen. 
Der Brief aber hatte folgenden Inhalt: 
„Es ist fast ein Vierteljahr vergangen, seit wir auf 
die freundlichste und innigste Art mit einander verkehren. 
Wir haben uns mit jedem Tage des Zusammenseins und 
bei jedem Austausch unserer Gedanken und Empfindungen 
in unserer Eigenart mehr und mehr kennen gelernt; aber 
ob wir" einander bis auf den tiefsten Grund der Seele 
erkannt haben? ob wir neben übereinstimmenden Eigen- 
schaften, die unsere Charaktere zeigen, und neben den 
guten Anlagen, Neigungen und Regungen in uns auch 
das Trennende und Unvollkommene gesehen haben? und 
ob wir imstande sind, dies mit den Augen der Liebe 
anzusehen ? der Liebe, die alles entschuldigt, alles duldet 
und auch die Fehler des andern voll Milde, voll Mit- 
gefühl, voll versöhnlichen und sich innig hingebenden 
Sinnes umfasst? Sind wir diejenigen, die immer treu, 
ergeben und aufopferungsfähig zu einander halten können, 
auch dann, wenn trennende und drohende Gewalten sich 
zwischen uns stellen? Sind wir von der Art, dass wir 

beide — Du, mein H , und ich — eine Ehe 

bilden können, die so ist wie die, von denen man sagt, 
dass sie im Himmel geschlossen sind? Ist unsere Ehe 
im Himmel geschlossen? Ist sie eine wahre Ehe, in 
der die Liebe waltet, nichts als sie: die grosse, warme, 
sonnige Liebe des Herzens? 

„Du glaubst freilich an den Himmel nicht, glaubst 
nicht an den, der selbst Geist und Liebe ist, aus dem wir 
mit unserm Geist und unserm Lieben geschaffen sind. 
Und doch frage ich Dich, wenn Du sein Dasein auch 
nicht verstehen noch einsehen kannst: Fühlst Du 



— 312 — 



nicht den wunderbaren Hauch, der auftaucht in unserm 
Innern und uns umfängt, als stamme er nicht aus uns 
— so gross, so schön, so edel ist, was er wirkt; so gut 
macht er unser Fühlen, unser Wollen, unser Sinnen und 
unser Thun — und der dann doch wieder in uns wohnt, 
als sei er da — in unserm Innern — ganz zu Hause? 

„Fühlst Du diesen Hauch der Liebe nicht, der aus 
ewiger Quelle steigt? — Und es ist mehr als ein Hauch : 
es ist ein rauschender Strom, der uns kosend umspült, 
wonnig durchwogt. — Ach, mehr als je fühP ich heute 
mein Herz voll von diesem Strom, mehr als je fühl' ich, 
dass er wahres Leben giebt. Mein Herz wird so weich 
und so weit, so milde und so stark, dass ich vor aller 
Welt es öffnen möchte und den Glanz, der darin aufge- 
gangen ist, hinausströmen lassen möchte über alle Welt, dass 
sie erwacht aus ihrer Selbstsucht, ans ihrem Neiden und 
Hassen, aus ihrem Richten und Verfolgen, aus ihrem 
kalten Geschäftssinn und ihrer Unversöhnlichkeit. 

«Liebe, du herrliches Wunder wort, an dir richte ich 
mich auf. Liebe, du starkes, wonnig-süsses Gefühl, in 
dir will ich gesunden und gedeihen, in dir sollen alle 
meine Schmerzen sich lösen, alle meine Wunden heilen. 
Ich ströme dich hinaus, zaubrische Lebenskraft, ich giesse 
dich aus über die Lande — aber mannichfache Aufnahme 
wird dir zuteil gleich dem Samen, der auf mancherlei 
Acker fällt Und es sucht meine Liebessehnsucht einen 
Fleck im Weltenall, wo sie Nahrung findet, Nahrung an 
einem, ach einem blühenden Menschenherzen nur, an 
einem Herzen, das mich in all' meiner alltagsfremden 
Schwärmerei versteht; das mitempfindet, was mich be- 
wegt, und mir, was ich ihm biete, wiedergiebt H , 

H , was auch kommen mag: lass Dein Gefühl 

zu mir — dies holde, innige, grosse Wesen, das niemand 
sieht und das doch so beglückend und so lebenspendend 
ist — lass es blühen und wachsen und hinüberströmen 



— 313 — 



zu mir, dass es mich unirauscht und durchströmt und ich 
in ihm atme, in Ewigkeits-Ahnungen getaucht, die mehr 
sind, als die Welt, die unsern Sinnen sich erschliesst, uns 
bieten kann. 

„Und wenn Du tausendmal aus Gründen des Denkens 
nicht glauben kannst: wenn Du solche Liebe in Dir 
trägst zu mir, wie ich zu Dir, und wenn Du diese Liebe 
verstehst und sie Dich beseligt, dann trittst Du hinaus 
über den Standpunkt, der mit der Woge, die wir Men- 
schenleben nennen, abgeschlossen ist. Du greifst dann 
ahnend hinüber mit Armen des Geistes aufs weite, weite 
Meer und in den luftigen, sonnenscheindurchwogten Aether 
und ein neues Reich umrängt Dich, und wir beide, eng 
umschlossen, innig verknüpft, schwimmen und schweben 
in ihm, und über uns leuchtet ein Angesicht, freundlich 
und schön, hehr und milde, liebreich und gross — das 
Angesicht dessen, der einst auf Erden wandelte und für 
nichts anderes sterben musste — da die grobe, ver- 
steinerte Alltagswelt ihn nicht verstand — als weil er 
Liebe predigte und Liebe lebte. Mit Feuerzungen möchte 
auch ich das alte Evangelium von der Liebe als neue 
frohe Botschaft der versunkenen Welt (versunken in 
Eigennutz und Härte), den Staaten und den Kirchen, den 
Ständen und den Einzelnen, verkünden. Dazu aber 
brauche ich selber Liebe, dazu brauche ich, dass das, 
wovon ich reden will, nicht verkümmert in mir. Ich 
hab's in mir, wenn man's auch draussen, wo ein rauher 
Wind über hartes Erdreich weht, oft nicht verstehen 
will. Verstehe mich Du, fühle und ahne! Nähre und 
pflege mit vergebendem Sinn, mit liebreichem Herzen dies 
Liebesgefühl! Es wird, wenn Du solches thust, Dich 
zufrieden machen, Dir das ßewusstsein geben, das ein 
Mensch hat, der eine gute That vollbringt. Halte zu 
mir und bleibe mir treu! Ein Nackender bittet Dich; 
ein Nackender, welcher friert, wenn Du ihn nicht ein- 



— 314 — 



hüllst, ihn, der Dich liebt, in wärmende Liebe. In Ge- 
danken bei Dir — Dein . . . 

Der, an den diese Zeilen gerichtet waren, verstand 
mich nicht. Geistig und seelisch konnte er mir — auf 
die Dauer — nicht genügen. Es kam hinzu, dass auch 
sein Charakter Mängel aufwies — er zeigte sich unwahr 
gegen mich und offenbarte zu wiederholten Malen einen 
abstossenden Eigensinn — Mängel, die als weiteres 
trennendes Moment sich zwischen uns drängten. Nach 
zwei Jahren des Verkehrs gingen wir daher auseinander; 
und dass die Schuld nicht an mir lag, geht u. a. vielleicht 
daraus hervor, dass die eigene Familie meines Lieblings, 
wie sie es schon vorher gethan hatte und später noch 
nachdrücklicher that, sich gegen ihn erklärte. — 

Ich war wieder verwaist. Und nach allen Enttäusch- 
ungen, die ich erlebt hatte, verlangte mein Herz immer 
inbrünstiger nach wahrer, selbstlos sich hingebender Liebe 
eines edlen Menschen, der mich in meinem seelischen 
Empfinden wie meinem geistigen Streben wahrhaft ver- 
stand. Aber ehe ich solche Liebe fand, sollte ich eine 
noch schlimmere Erfahrung machen als bisher. Ich fiel 
einem Preller in die Hände, wie ich ihn noch nicht kennen 
gelernt hatte und wie er abscheulicher und gefährlicher 
kaum gedacht werden kann. 

Bei Gelegenheit einer Festlichkeit in dem schon ein- 
mal erwähnten Verein, bei der eine Theater- Aufl ührung 
stattfand, lernte ich einen daselbst beschäftigten jungen 
Friseurgehilfen kennen, mit dem ich eine Zusammenkunft 
für den nächsten Tag verabredete. Ich räume ein, dass 
das unrecht war, denn der junge Mann war nicht so 
sympathisch, dass ich mich etwa vom Fleck weg in ihn 
verliebt hätte; indessen: was thun andere, heterosexuelle 
Männer? Knüpfen nicht auch sie oftmals Bekanntschaften 
mit jungen Mädchen an, mit denen sie zu verkehren ge- 
denken, ohne sie heiraten zu wollen? Es kam hinzu, 



— 315 — 



dass mein Inneres seit Monaten leer und verödet war 
und daher schon Befriedigung empfand, statt der ersehnten 
Liebe selbst ein geniessbares Surrogat derselben zu finden. 
Es konnte ja auch sein, dass der junge Mann sich von 
Charakter so erwies, dass eine grössere, seelische An- 
näherung möglich wurde. Zum Schluss aber hebe ich her- 
vor, dass die animierte Stimmung, in die mich der Fest- 
abend versetzt hatte, nicht wenig dazu beitrug, dass ich 
kühn wurde und meinem sonst ernsten und innerlichen 
Wesen selber einen Streich spielte. — Er sollte mir schlecht 
bekommen. 

Als wir am nächsten Tage zusammen waren, erkannte 
ich aus allen Aeusserungen meines Gefährten, dass er 
nicht zu mir passte. Er war leichtsinnig und gewissen- 
los, was u. a. aus seinem von ihm selbst erzählten Verhalten 
gegenüber seinem Schneider hervorging. Wir verabredeten 
zwar zunächst noch eine weitere Zusammenkunft, aber 
ich schrieb ab. Nun suchte der Friseur meinen 
Namen, Stand und Wohnung, die ich ihm nicht genannt 
hatte, zu erforschen, was ihm auch bei dem Vorsitzenden 
des oben erwähnten Vereins gelang. 

Hiernach kam er in Begleitung eines anderen jungen 
Mannes, den er, die Unwahrheit sagend, als seinen Bruder 
vorstellte, in meine Wohnung und verlangte von mir, dass 
ich ihn, da er stellungslos sei, unterstützte. Ich erwiderte, 
dass ich das nicht könnte. Da berief er sich auf unser 
Zusammensein mit dem Bemerken, so Hesse er sich nicht 
abspeisen. 

Weil in diesem Augenblick meine Aufwartefrau kam, 
die Wohnung zu reinigen, war mir die weitere Verhand- 
lung im Hause unangenehm, und unter dem Vorwande, 
dass ich fort müsste, verliess ich mit den beiden Genann- 
ten meine Wohnung und wanderte mit ihnen durch ver- 
schiedene Strassen. 

Ich fragte nun noch einmal nach dem Begehr des 



— 316 — 



Friseurs, und als ich unter Darlegung meiner Verhält- 
nisse eine Unterstützung ablehnte, drohte er, mich ge- 
sellschaftlich bloßzustellen und bei der Polizei anzuzeigen, 
wenn ich seinem Wunsche nicht nachkäme. Ich verlangte 
jetzt, dass der Begleiter des Friseurs, der bisher nicht 
von unserer Seite gewichen war, sich behufs weiterer 
Erörterungen entfernte, da ich mit ihm nichts zu thun 
gehabt hätte und ihn überhaupt nicht kannte. Derselbe 
blieb denn auch einige Male zurück, kam aber immer bald 
wieder an uns heran. Der Friseur that dann einmal die 
Aeusserung, dass er, wenn ich ihm kein Geld gäbe, auf 
der Strasse „ein Theater machen* würde. Schliesslich 
trennte sich auf meine wiederholte Aufforderung der Be- 
gleiter des Friseurs endgiltig von uns, und nun bemerkte 
ich letzterem gegenüber, dass er kein Recht hätte, Geld 
von mir zu verlangen und dass sein Vorgehen Erpressimg 
wäre. Er entgegnete, dass, wenn er auch bestraft würde, 
ihm dies egal wäre; ich würde aber auch bestraft oder, 
da ich einwarf, dass ich nichts Strafbares begangen hätte, 
zum mindesten blamiert, und übrigens würde er die Sache 
schon „schieben." Auf sein weiteres Drängen gab ich 
ihm, um ihn los zu werden, 5 Mark. Er verlangte, dass 
ich noch etwas zulegte, und folgte mir dabei, als ich 
schnell weitergehen wollte, bis ich ihm nach einander 
noch 1 Mark, 50 Pfennige und abermals iO Pfennige ein- 
gehändigt hatte. Dann verliess er mich. 

Mit welchen Empfindungen ich nun nach Hause ging, 
lässt sich denken. Es war nicht der Verlust des Geldes, 
der mich schmerzte, sondern das Bewusstsein, in die 
Hände eines schamlosen und verworfenen Menschen ge- 
raten zu sein und mit diesem Menschen, wenn auch nur 
ein Mal, mich gemein gemacht zu haben (wir hatten 
mutuelle Onanie getrieben). Trübe Ahnungen und Be- 
fürchtungen durchwogten meine Seele, und wochenlang 
ging ich gedrückt und scheu durch die Strassen, stets 



— 317 — 

fürchtend, dass ich ihm wieder begegnen würde. Uud 
in der That Hess er sich nach nicht ganz zwei Monaten 
wieder sehen. Diesmal kam er in Begleitung eines anderen 
Gefährten, der mit beispielloser Dreistigkeit und Gemein- 
heit auftrat. Seinem Dialekt nach war dieser ein Kölner, 
ich will daher diese Bezeichnung wählen, um von ihm 
zu reden. Als beide an meiner Wohnungsthür geklingelt 
hatten und ich öffnete, drängten sie sich — der Kölner 
voran — sogleich an mir vorbei hinein. Auf meine Frage 
nach ihrem Begehr sagte der Friseur, er wolle Geld. Auf 
meine Entgegnung, dass ich, wie ich ihm schon früher 
erklärt hätte, nicht in der Lage dazu wäre, fiel mir der 
Kölner ins Wort, indem er sagte: „Ach, das ist ja quatsch" 
und eine gemeine Beschuldigung gegen mich erhob. Als 
ich dieselbe ernst und ruhig zurückwies, behauptete der 
Friseur, dass sie dennoch wahr wäre. Und nun stellte 
mir der Kölner, der von da ab fast ausschliesslich das 
Wort führte, vor, dass es für mich besser wäre, wenn 
ich mich nicht ablehnend verhielte; der Friseur wolle 
nach Köln, um dort Arbeit zu suchen; ich solle ihm das 
Reisegeld geben, dann würde ich ihn los. Als ich mich 
weigerte, drohte er, dass mich der Friseur anzeigen und 
der öffentlichen Schande preisgeben würde. 

Ich wies darauf hin, dass beide Erpressung gegen 
mich auszuüben versuchten, worauf der Kölner dies zugab 
mit dem Bemerken, dass freilich im Falle einer Anzeige 
der Friseur ins Gefängnis kommen, ich aber die Blamage 
haben würde. Ich sollte doch klug und vernünftig sein 
und eine einmalige Zahlung leisten (das Reisegeld im 
Betrage von 27,50 Mark), dann wollten sich beide schrift- 
lich verpflichten, mich nicht wieder zu belästigen. Schliess- 
lich ging ich, um beide loszuwerden, darauf ein. Die 
erwähnte schriftliche Erklärung sollte ausgefertigt werden. 
Da verlangte der Kölner statt der 27,50 Mark, damit 
der Friseur auch zu leben hätte, 50 Mark. Auch darin 



9 



— 318 — 

willigte ich ein. Gegen Entgegennahme der Erklärung, 
die sich aber der Kölner zu unterschreiben weigerte, 
zahlte ich die verlangte Summe. Nun aber forderte der 
Kölner auch für sich 20 Mark, da er nicht umsonst mit- 
gekommen sein wolle. Ich antwortete, dass ich ihn nicht 
herbestellt hätte, worauf er diese Bemerkung als Quatsch 
bezeichnete und Skandal zu machen drohte, wenn ich 
das Geld nicht hergäbe. Ich bequemte mich, um einen 
hässlichen Auftritt im Hause zu verhüten, auch zur Er- 
füllung dieser Forderung. Als ich aber, das Portemonnaie 
in der Hand, dem Kölner die 20 Mark hinreichte, wollte 
er einen Blick in das Portemonnaie thuu, um zu sehen, 
wieviel noch darin wäre, wobei er mir sein „Ehrenwort* 
gab, nichts herausnehmen zu wollen. Ich weigerte mich 
selbstverständlich, er aber griff danach, während ich es 
festhielt. Zorn überkam mich, und ich rang mit dem 
Entschlüsse, der ganzen schimpflichen und mich bis ins 
Innerste erschütternden Situation durch Gewalt ein Ende 
zu machen. Aber noch zögerte ich; die Furcht, mich 
öffentlich blossgestellt zu sehen, hielt mich zurück. Schon 
begann das Portemonnaie einzureissen, und auf die noch- 
malige Versicheruiirg des Kölners, sich am Inhalt desselben 
nicht zu vergreifen, der ich allerdings keinen Glauben 
schenkte, liess ich los. Und nun entnahm der Kölner 
dem Portemonnaie den ganzen Rest an grösserem Gelde, 
im Betrage von 40 Mark. (Ich hatte mir am Mittag 
desselben Tages 100 Mark von der Bank geholt, um da- 
von zu leben; zu Hause lasse ich, da ich allein wohne, 
gar kein Geld.) Ich liess auch dieses letzte geschehen. 
Hierauf entfernten sich beide. Der Kölner versicherte 
noch, dass sie nicht mehr wiederkommen und mich be- 
lästigen wollten, während er andererseits drohte, dass ich 
wenn ich nach „oben* „pfeifen" würde, „noch 'was er- 
fahren* sollte. 

Als sie fort waren, brach ich auf einem Stuhl zu- 



— 319 — 



sammen and weinte. Mit derartigen Menschen, so niedrig 
und verworfen, rausste ich zu thun haben, den noch jetzt 
wie in hoffnungsfroher Jugendzeit Ideale durchglühten, 
dessen Brust von dem Streben nach dem Höchsten er- 
füllt war, was den Geist befriedigen und das Herz be- 
glücken kann, der sich berührt fühlte von dem 
Hauch jener grossen Menschenliebe, die in Christus 
einst rein und vollkommen verkörpert war. — Ich raffte 
mich auf und eilte, das Innere von Verzweiflung zerrissen, 
zu meinem — vorher schon erwähnten (heterosexuellen) — 
Freunde, damit er . meinen Schmerz teilte und ich Be- 
ruhigung fände. Von anderer Seite aber, der ich mich 
später gleichfalls anvertraute, wurde mir der Hat, bei 
abermaliger Bedrängung durch die beiden Preller die 
Hilfe der Polizei und des Gerichts anzurufen, da ich 
sonst ein dauerndes Opfer der Erpressung sein würde. 

Dies that ich denn auch, als nach nicht ganz zwei 
Monaten der Kölner, diesmal allein, mich abermals in 
meiner Wohnung aufsuchte. Ich hatte, bevor ich auf sein 
Klingeln die Thür öffnete, die Sicherheitskette vorgelegt. 
Er aber setzte den Fuss in die Thürspalte, sodass es mir 
nicht gelang, die Thür zu schliefen, als ich ihn erkannt 
hatte. Indem er sich nun mit Gewalt gegen die Thür 
warf, suchte er sie aufzusprengen, was ihm aber nicht 
gelang, da ich von innen mich ebenfalls gegen sie legte. 
Ich forderte ihn, auf grund des Hausrechtes, dreimal auf, 
sich zurückzuziehen; er aber wich nicht, schlug sogar, als 
ich ihn mit der Hand zurückzudrängen suchte, mit seinem 
Spazierstock nach mir, wobei er mich auf die Backe traf, 
und stiess die gemeinsten Beschuldigungen und wieder- 
holte Drohungen aus. Als ich ihn mit dem Bemerken 
warnte, die Polizei rufen zu wollen, erwiderte er, dass er 
lieber verrecken als weichen wolle. Da entfernte ich 
mich schnell von der Thür, holte einen mir zur Hand 
liegenden Pflanzenstecher und fuhr mit diesem durch die 



— 320 — 



Thürspalte ihm unter das Gesicht. Er erschrak, sprang 
zurück, und ich konnte die Thür schüessen. Weit ent- 
fernt aber, sich nun fortzubegeben, warf er sich zu 
wiederholten Malen gegen die Thür, so dass ich mich 
gezwungen sah, ihr durch dauernden Gegendruck Halt 
zu geben. Dann wiederum klingelte er, verlangte Ein- 
lass, beschimpfte mich in gemeinen Ausdrücken u. dgl. m. 
Schliesslich, als er sah, dass er keinerlei Erfolg hatte? 
verlangte er 1 Mark von mir, um nach Hause fahren zu 
können. Wenn ich ihm nicht zum mindesten diese gäbe, 
würde er mir auflauern und mir körperlichen Schaden 
sowie öffentliche Blamage zufügen. Um der mir,- wie 
sich denken lässt, äusserst peinlichen Szene auf dem 
Treppenflur ein Ende zu machen, warf ich die verlangte 
Mark durch den in der Thür befindlichen Briefeinwurf, 
und der Kölner ging davon. 

Was blieb mir nun zu thun? — Sollte ich ernstliche 
Schritte, wie sie mir angeraten worden waren, auch jetzt 
noch unterlassen, um mich weiteren Verfolgungen preis- 
gegeben zu sehen? Würde ich, von Geldverlusten abge- 
sehen, das moralisch Niederschmetternde, das seelisch 
Zerrüttende derselben aushalten können? — Oder sollte 
ich Anzeige machen und mich einer peinvollen Gerichts- 
verhandlung aussetzen? O könnten doch die glücklichen 
Heterosexuellen einsehen, wollten sie wenigstens esglauben, 
dass auch in der Seele eines homosexuell veranlagten 
Menschen Schamhaftigkeit, Innerlichkeit und Edelsinn 
existieren können! Möchten sie begreifen, wie mein 
Inneres nach den geschilderten Ereignissen verödet aus- 
sah und wie es aus tausend Wunden blutete. Ich lief zu 
meinem Freunde, ich rief Gott um Hilfe an — kein Trost; 
ich fragte mich, ob ich wirklich so verworfen wäre, 
dass ich dies verdiente. Selbstmordgedanken keimten in 
meinem Innern. Fort aus der Welt, die mich nicht ver- 
stehen, meine Eigenart nicht anerkennen wollte! Aber 



— 321 — 



ich habe noch für einen Bruder zu sorgen — mich hielt 
die Pflicht In der That : auch wir Homosexuellen haben 
Pflichtgefühl ; auch in uns lebt die Liebe zu den Unsern. 
Und was war, was ist überhaupt mein ganzes Verbrechen? 
Gehört es nicht gerade ihrem, dem Lebenskreise der 
Liebe an? Will ich den Menschen denn Böses zu- 
fügen? Bewegt mich Habsucht, Neid und Bosheit, 
treibt mich sittliche Verkommenheit, wenn ich sehn- 
suchtsvoll meine Arme ausstrecke, um einen Menschen 
liebend zu umfangen? Wie gerne möcht' ich mit all' 
meinem Fühlen und Können, mit Sorge und Förderung 
einem nahestehn und angehören, der mich ganz versteht 
und der auch mir in voller Liebe sich ergiebt, in einer 
Liebe, wie sie inniger und edler auch heterosexuelle 
Dichter nicht schildern können! Und dass dieser eine 
Mensch, der als Ideal meinem geistigen Auge vorschwebt 
männlichen Geschlechts ist — was kann ich dafür? 
Hat die Allmutter Natur, die tausend Mannichfaltigkeiten, 
tausend Uebergänge schafft, die so reich und vielseitig 
ist, dass sie all' unserer starren Systeme und Klassi- 
fikationen spottet, hat sie mich nicht (und wie ich meine: 
bewusst, denn der Geist Gottes lebt in ihr) in den 
Kreis der Schöpfung gestellt, damit auch ich mich 
ausleben und ein Glück gemessen kann, das niemandem 
schadet?! Denn, wenn der andere, den ich liebe, ge- 
artet i8t wie ich, wenn auch er nur durch eine Liebe 
glücklich wird, die ein Angehöriger des gleichen Ge- 
schlechts ihm entgegenbringt — warum will man um 
trennen? warum störend zwischen uns treten .' 

Ich nehme den Faden meiner Erzählung wieder auf, 
Von meinen Selbstmordgedanken, von denen gepeinigt 
ich Tage lang wie im wüsten, schmerzlichen Traume um- 
herging, erlöst, fasste ich den Entschluß — nicht weil 
ich Rache üben, sondern weil ich Notwehr 
Gefahren gebrauchen wollte — meine hSU&t 

Jahrbuch II. 



- 322 — 



nisse zur Anzeige zu bringen. — Der Friseur und der 
Kölner wurden verhaftet, und nach längerer Untersuch- 
ungshaft der beiden kam es zur Verhandlung, bei der die 
Oeffentlichkeit ausgeschlossen wurde. Die Anklage lautete 
auf Erpressung, Hausfriedensbruch, Bedrohung und Dieb- 
stahl. Nachdem der Staatsanwalt gegen den Friseur 8 
Monate, gegen den Kölner V/ 2 Jahre Gefängnis beantragt 
hatte, zog sich der Gerichtshof zu einer eingehenden Be- 
ratung zurück, deren Resultat ein Urteil war, das auf ein 
erheblich höheres Strafmass lautete: Der Friseur erhielt 
6 Monate, der Kölner 2 Jahre Gefängnis unter Nichtan- 
rechnung der Untersuchungshaft. — - 

Ich nehme von den vorstehend gezeichneten trüben 
Bildern Abschied und wende mich zum Schlüsse wieder 
einem erfreulichen zu. Es glückte mir, die Bekanntschaft 
eines jungen Mannes zu machen, dessen Herzens- und 
Verstandeseigenschaften mich bestimmten, in innigen Ver- 
kehr mit ihm zu treten. Aber unter dem Eindrucke 
alles dessen, was ich erlebt hatte, und nach all' den Er- 
fahrungen, die mir zu teil geworden waren, konnte ich 
nicht sogleich jugendfroh aufjubeln und schwärmerisch 
mich ihm zu Füssen legen. So gab denn eins der ersten 
Gedichte, das ich an ihn richtete, wehmutsvollen Fragen, 
scheuen ~ Zweifeln Raum, denen gegenüber ich hoffen 
möchte, dass jene stets zu bejahen, diese immerdar grund- 
los seien. Ich setze das Gedicht zum Schlüsse hierher: 

Gestanden hat dein süsser Mond 
In Worten zart, in sel'gen Küssen, 
Was bebend ich verlangt 1 zu wissen 
In meiner Seele tiefstem Grund: 

Du hast mich lieb! Du willst im Sonnenland 

Gemeinsam mit mir wandeln Hand in Hand. 

Und doch — ist eine Frage mir geblieben: 

Wirst dn mich immer, immer also lieben V 

Wenn nun ein andrer, jugendschön, 
Sich drängt in deines Lebens Kreise, 



— 323 — 



Wenn in gewinnenderer Weise 

Er sich dir naht mit heissem Fleh'n 

Und fern dann meiner Angen Strahlen sind 
Und meiner Stimme Klang verweht der Wind: 
Ist dir anch dann mein Bild ins Herz geschrieben? 
Wirst dn anoh dann mich unverbrüchlich lieben ? 

Und wenn sich eine äuss're Macht, 

Der fremd ist unser tiefstes Wesen, 

Ereifert, dich von mir zu lösen, 

Und deine Seele hüllt in Nacht; 

Wenn uns der Trennung bittrer Schmerz dann droht 
Und dunkel Uber uns sich neigt der Tod, 
Wenn deiner Hoffnung Kraft fast aufgerieben: 
Willst du voll Treu' mich standhaft weiter lieben? 

Nimm an, es weicht von mir das Glück, 

Und Not und Sorge mich umgeben — 

Zur Qual wird mancher Tag im Leben 

Und trüb des Herzens Zukunftsblick; 

Ich aber hab', seh' ich dein Auge offen, 
Noch seFgen Trost, noch himmlisch süsses Hoffen — 
Wird mir alsdann, wenn nichts mir sonst geblieben, 
Noch voll zuteil dein innig trautes Lieben? 

Und stehe ich im Kampf der Welt 

Mit Vorurteilen und Gebresten, 

Befehdet rings von sichren Festen, 

Einsam ich selbst auf ödem Feld, 

Den Sehnsuchtsblick gelenkt zur HimmelshÖh', 
Das Herz bewegt vom tiefsten Erdenweh' 
Und, ach, vielleicht von Ort zu Ort getrieben: 
Kannst du, vertrauend, dann, auch dann mich lieben? 



21* 



Ein Fall von Effemination mit Fetischismus. 

Mitgeteilt von Lehrer J. 6. F. 
Mit Abbildung. 

„Es gehört gewiss ein hoher Grad von Roheit und 
niedriger Gesinnung dazu" — sagt Otto de Joux in seinem 
Buche ,Die Enterbten des Liebesglückes" — „ein Indi- 
viduum wegen einer körperlichen Anomalie, einen Un- 
glücklichen wegen eines auffälligen, unharmonischen Ge- 
brechens zu verspotten.* Kein vernünftiger Mensch wird 
das thun. Bei seelisch Abnormen ist diese Schonung 
keineswegs allgemein. So merkwürdig es ist, dass bei 
den vielen gemachten Entdeckungen, Forschungen und 
Fortschritten in der Wissenschaft man bis vor gar nicht 
langer Zeit keine genauere Kenntnis über das Wesen des 
„ dritten Geschlechts" hatte, ebenso erfreulich ist es aber 
auch, dass die Wissenschaft sich jetzt nicht mehr weigern 
kann, von den sexuellen Zwischenstufen Kenntnis zu 
nehmen, dass sich edeldenkende Männer zusamraengethan 
haben, dafür zu sorgen, dass durch Aufhebung von ge- 
setzlichen Bestimmungen diesen Bedauernswerten ein 
besseres Dasein ermöglicht werde. Das noch fast uner- 
schlossene Gebiet der psychosexuellen Anomalien bedarf 
freilich zum grossen Teil noch der Aufklärung und Er- 
forschung, was aber besonders erschwert wird, da wohl 
die meisten psychosexualen Hermaphroditen, die sich 



— 325 — 



selbst, was ihren Charakter anbetrifft, für eine geistige 
Missgeburt halten, über ihren Zustand zu täuschen wissen 
und selten aus ihrer Reserve treten. Es soll heute nicht 
meine Aufgabe sein, allgemeine Mitteilungen über die 
Seelenzwitter zu machen, sondern ich habe die Absicht, 
das Bild eines mir nahestehenden Urnings zu zeichnen, 
welcher zu der Gruppe der ausgeprägtesten Effeminierten 
gehört 

Wenn Westphal die Bezeichnung konträre Sexual- 
empfindung eingeführt hat, so will er damit sagen, „dass 
es sich hierbei nicht immer gleichzeitig um den Ge- 
schlechtstrieb als solchen handelt, der eine verkehrte 
Richtung gewinnt, sondern dass es sich um eine Empfin- 
dung handelt, dem ganzen Wesen nach dem eignen Ge- 
schlechte entfremdet zu sein." Es ist in der That auf- 
fallend, wie mächtig sich bei manchen Homosexualen das 
weibische Benehmen zeigt. Wie die Neigung, das Weibische 
anzunehmen und besonders weibliche Toilette zu tragen, 
den eigentlichen Geschlechtstrieb oft übertrifft, soll nach- 
stehender Fall, der mir genau bekannt ist, illustrieren. 
Es handelt sich um einen Mann, der wie Süsskind Blank 
und Elise Edwards die Neigung hat, sich so oft er kann, 
als Weib zu verkleiden und sich nur in weiblicher 
Toilette wohl fühlt. Dieser Urning ist 41 Jahre alt. 
Er hat noch eine ältere Schwester und einen jüngeren 
Bruder. Die Eltern, sowie Geschwister, sind durchaus 
normal. Es kann nicht mehr festgestellt werden, ob sich 
in der frühesten Jugend schon Erscheinungen von Homo- 
sexualität bemerkbar machten. Da er als Knabe öfters 
krank war, so wurde bei ihm in der Erziehung viel 
Nachsicht geübt. Mit dem 5. Jahre begann sein Schul- 
besuch. Infolge guter Begabung waren die Fortschritte 
erfreulich. Im Alter von etwa 12 Jahren verspürte er 
in sich den starken Drang, Mädchenkleider anzuziehen. 
Sobald die Eltern und Geschwister, welche sich mit Acker- 



— 326 — 



bau beschäftigten, zu Felde waren — er wusste es stets 
so einzurichten, dass ihm die Beaufsichtigung des Hauses 
übertragen wurde — verschloss er alle Hausthüren, ging 
in die Kammer zum Kleiderschrank und zog das schönste 
Kleid der Schwester an. Entzückt betrachtete er sich 
dann lange Zeit im Spiegel und wünschte, doch auch ein 
Mädchen geworden zu sein, damit er immer solche schöne 
Kleider tragen könne. Sein ganzes Bestreben war, weibisch 
zu erscheinen und seine Leidenschaft, in Frauenkleidern 
und mit zusammengeschnürter Taille einherzugehen, war 
sehr gross. Für Mädchenspiele hat er sich scheinbar 
nicht interessiert. Bei Knabenspielen, die oft in Wild- 
heit und Zügellosigkeit ausarteten, trat er gewöhnlich 
zurück und war lieber Zuschauer als Mitspielender. Be- 
stellungen auszurichten nach benachbarten Ortschaften, 
that er nicht gern; am liebsten war ihm der Aufenthalt 
im Hause. Abgesehen vom Kochen, zeigte er keine be- 
sondere Neigung für weibliche Beschäftigungen. Da der 
Gesundheitszustand sich bedeutend gebessert hatte, so 
bestimmten ihn die Eltern, welche sehr religiös waren, 
für den Lehrerberuf. Er war hierin auch nicht abgeneigt 
und bekam deshalb zunächst Privatstunden. Wenn er in 
der Geschichtsstunde hörte, dass einst Euklid, dessen 
Vaterstadt mit Athen in Streit geriet, sich in Weiber- 
kleidung abends heimlich zu Sokrates schlich, so regten 
ihn solche Stellen gewaltig auf, sowie Mitteilungen über 
den Dienst des Herkules bei Omphale und darüber, wie 
Achilles eine Zeit lang als Mädchen unter Mädchen lebte. 
Wiederholt hat er solche Stellen im Geschichtsbuche 
wieder aufgesucht und gelesen. Er machte in seiner 
Präparandenzeit so gute Fortschritte, dass er noch vor 
dem 17. Jahre in das Seminar zu H. aufgenommen werden 
konnte. Da die Arbeit in einer solchen Anstalt so gross 
und mannigfaltig ist, so fand er kaum Zeit, seine Ge- 
danken auf andere Dinge zu lenken. Das Internatleben 



— 327 — 



war ihm höchst unangenehm, er hätte lieber allein ge- 
wohnt; Einsamkeit war ihm das liebste. Nach Beendi- 
gung des Studiums und nach bestandenem Examen wurde 
er Lehrer in O. Im Zeugnis hatte er im Betragen: 
„Sehr gut". Nach einem halben Jahre wurde er auf 
seinen Wunsch nach E. versetzt. Hier traten seine 
Neigungen, welche bislang scheinbar geruht hatten, mit 
grosser Stärke wieder auf. In dem Hause eines Land- 
schaftsrats, in welchem er Privatstunden gab, sah er auf 
dem Tische eine Modenzeitung und darin ein Damen- 
kostüm abgebildet, das ihn so gewaltig erregte, dass er 
sich bei einer Buchhandlung die „grosse Modenwelt" be- 
stellte und sich nachher manche Stunde hierin vertiefte. 
Die „Preussische Lehrerzeitung* gab damals als Beilage 
„Die Moden für unsere Damen" heraus. Alle Nummern 
wurden von ihm sorgfältig gesammelt und eingebunden. 
Modejournale zu studieren ist seine liebste Beschäftigung. 
Lose Blätter dieser Zeitungen, die dann und wann auf 
der Strasse liegen, werden aufgehoben und aufbewahrt. 
Ein Modenbild aus dem Kataloge von Rudolf Herzog 
in Berlin, enthaltend Abbildungen von Damenkleidern, 
das er im Strassenschmutze fand, wurde von ihm sauber 
abgewaschen, wieder getrocknet und seiner Sammlung 
einverleibt. Dasselbe geschah mit einer Nummer der 
„Deutschen Zeitung" (München), welche zwei Bilder, 
„ Herbst toiletten für Damen", brachte. Von dem Brust- 
bilde seiner Photographie hat unser Urning den Kopf 
abgetrennt und verdeckt damit die Damenköpfe in den 
Modenzeitungen, so dass er sich dann für den Träger 
oder für die Trägerin der hübschen Damentoiletten an- 
sieht. Vergnügen macht es ihm auch, aus illustrierten 
Journalen die Köpfe von Jünglingen und Männern heraus- 
zuschneiden und dieselben auf Damenbilder zu kleben, 
so dass es scheint, als wären es Männer in Damentracht; 
sein ganzer Sinn ist also auf das Weibischmachen 



— 328 — 



gerichtet. Alle möglichen Zeitungsnummern, in denen 
von als Damen verkleideten Männern berichtet ist, hat 
er seit vielen Jahren gesammelt und thut es noch bis 
auf den* heutigen Tag. Ich will hier eine Auslese von 
den von ihm gesammelten Zeitungsberichten, teils wört- 
lich, teils kurz zusammengefasst, wiedergeben. 

Bericht in der Preuss. Lehrerzeitung v. 11. Juli 1879: 
Eine seltsame Dame. Vor dem Polizei-Richter erschien 
am 9. d. M. in feinem schwarzen Scbleppkleide, dunkelem 
wollenen Umschlagtuch, mit kokett auf den Kopf ge- 
stülptem schwarzen Strohhütchen, sehr sauberen weissen 
Unterkleidern mit Kanten und in untadeligen Lackstiefel- 
ohen eine Dame, die schon seit Wochen den Tiergarten 
dadurch unsicher machte, dass sie sich in schamloser 
Weise Herren aufdrängte, ßei Feststellung ihres Nationales 
ergab sich, dass sie der 31jährige Kellner P. sei. . . . 

Berl. Morgenzeitung vom 26. März 1892. Es wird 
hierin von der Urningshochzeit des Amerikaners Withney 
berichtet (vergl. Moll, Das kontr. Sexualgefühl, S. 192). 

Preuss. Lehrerzeitung vom 1. Juni 1883.* Es wird 
mitgeteilt, dass in Berlin die Sittenpolizei 4799 Männer 
in ihren Listen führt, welche im Verdacht stehen, sich 
in Weiberrollen zu gefallen oder die thatsächlich schon 
in weiblichen Kostümen ergriffen worden sind. 

Preuss. Lehrerzeitung vom 28. Juni 1879. Die Ver- 
haftung einer höchst elegant gekleideten Dame erregte 
am 25. d. M. vormittags nicht geringes Aufsehen, zumal 
die Verhaftete, welche dicht verschleiert war, auch noch 
durch ihre aussergewöhnliche Grösse die allgemeine Auf- 
merksamkeit auf sich lenkte. Diese Dame, welche eine 
schwere seidene Robe mit langer Schleppe, feinem Hut 
mit weissem Schleier, eleganten Sonnenschirm usw. mit 
vielem Chic zu tragen wusste, entpuppte sich auf der 
nächsten Polizeiwache als der Kellner ... In der ele- 



— 329 — 



ganten Toilette wurde die falsche Dame später nach dem 
Molkenmarkt befördert. 

Pr. Lehrerztg. v. 2. Juni 1883. In Arnstadt (in 
Thüringen) starb am Freitag die bisherige Einsammlerin 
für das dortige Jakobsstift, eine 69jährige Person. Erst 
durch den Tod stellte sich heraus, dass dieselbe von Kind- 
heit an als Mann in Frauenkleidern gelebt hat. Musste 
dies Geheimnis bei dem Tod der Verstorbenen wohl ein- 
mal zu Tage treten, so wird doch voraussichtlich das 
andere über die Beweggründe, welche die Angehörigen 
der Heimgegangenen zu diesem von der Geburt derselben 
an datierten Betrüge bestimmten, wohl für immer in 
mystisches Dunkel gehüllt bleiben. 

Berliner Abendpost v. 23. Juli 1890. Es werden 
hierin Mitteilungen gemacht über die ungarische Tri bade 
Gräfin Sandor-Vay, deren Bruder der Vater in 
Frauenkleidern aufwachsen Hess. 

Berl. Morgenztg, v. 7. Nov. 1891. Es wird über eine 
Hamburger Köchin berichtet, die sich im Krankenhause 
als Mann entpuppte und seit Kindheit weibliche Kleidung 
getragen hat. 

Pr. Lehrerztg. v. 24. Nov. 1893. Es wird hierin mit- 
geteilt, dass die Vorsteherin des Kinderheims in Kopen- 
hagen sich als Mann erwiesen hat. 

Berl. Morgenztg. v. 27. Mai 1891. Gegenüber 
dem Hause Waterloo-Ufer 17 wurde aus dem 
Landwehrkanal ein Mann in Frauenkleidern 
aufgefischt. 

Berl. Morgenztg. v. 15. April 1892. Zwei „Damen" 
wurden gestern in der Nähe des Potsdamer Bahnhofes in 
Lichterfelde von einem Kriminalbeamten beobachtet. Als 
der Letztere sich der einen, welche in den hinter dem 
Bahnhofe befindlichen Anlagen einen Herrn ansprach, 
näherte, ergriff dieselbe die Flucht, wurde aber fest- 
genommen und in das Amtsgefängnis zu Steglitz gebracht. 



— 360 — 



Dort entpuppte sich die Dame als ein in Berlin wohnen- 
der Handelsmann. Nach seiner Aussage war das andere 
Frauenzimmer ebenfalls ein Mann und zwar der Kellner 
M. Beide sind auch in Berlin schon wiederholt in Frauen- 
kleidern abgefasst worden. 

Berl. Morgenztg. v. 4. Mai 1892. Durch die Polizei 
geschlossen wurde am Montag um die Mittagszeit das 
Schanklokal von Wiebusch, Schützenstr. 55, „der kleine 
Salvator" genannt. Es verkehrten dort zumeist der Pro- 
stitution ergebene Männer, von denen viele Frauenkleider 
zu tragen pflegten. 

Beiblatt der Berl. Morgenztg. v. 17. Dez. 1893. Mr. 
James Robbins, Kommandeur der Militärstation in Coopers 
Mills, Missouri, trägt in seiner eigenen Behausung nur 
weibliche Bekleidung, und setzt er seinen ganzen Stolz 
darin, dass seine Kleider bis in das geringste Detail 
genau der letzten Mode entsprechend und makellos sind. 
Bock und Taille müssen auf das Perfekteste sitzen und 
trägt der würdige Kommandeur sogar einen Damenhut! 
Keine der Frauen in ganz Coopers Mills, sogar die der 
andern Offiziere, haben eine solche Auswahl an Kleidern, 
wie er sie besitzt; alle seine Kleider sind vom feinsten 
Material. Er kauft nur das Beste. Seine weisse Wäsche 
ist vom feinsten Leinen, mit Plissdes, Einsätzen und feinen 
Spitzen besetzt. 

Berl. Morgenztg. v. 28. Febr. 1896: In einem Dorfe 
Niederbayerns starb dieser Tage eine 83jährige Person, 
die von Jugend auf als Frauensperson galt, als solche 
auch gekleidet war und diente. Wie die Donauzeitung 
nun mitteilt, entpuppte sich die Person jetzt nach dem 
Tode als Mann. 

Berl. Morgenztg. v. 24. Oktober 1897. Die Ver- 
haftung einer elegant gekleideten Dame erregte in der 
Nähe des Bahnhofes Brandenburg nicht geringes Auf- 
sehen. Zur Wache gebracht, entpuppte sich die mit 



— 331 — 



Plüschkleid, seidener Pelerine, Federhut und Schleier be- 
kleidete Dame als ein etwa 22 jähriger Mann, der sich 
als der Handelsmann J. K. vorstellte. 

Berl. Morgenztg. v. 22. Januar 1898. Ein Mann in 
Frauenkleidern ist in der Nacht zum Donnerstag zwischen 
12 und 1 Uhr in der Nähe des Lehrter Bahnhofes ab- 
gefasst worden. Einem patrouillierenden Schutzmann fiel 
die Person namentlich durch ihre Bewegungen auf; er 
sagte ihr seinen Verdacht auf den Kopf zu und führte 
sie trotz hartnäckigen Leugnens ab. Die Untersuchung 
ergab, dass der Beamte Recht hatte. 

Hiermit mag es genug sein. 

Die Sammlung derartiger Berichte unseres Urnings 
ist sehr umfangreich. Ich will hierbei noch auf 
eins hinweisen. Unser Seelenhermaphrodit trug sich 
längere Zeit mit der Absicht herum, nach Missouri zu 
dem Kommandeur James Robbins, von dem die Berliner 
Morgenzeitung vom 17. Dezember 1893 berichtet, und 
welcher jedenfalls auch ein Urning sein muss, zu reisen, 
um bei demselben in irgend ein Dienstverhältnis zu treten, 
und um dann auch in Damenkleidern einherzugehen, was 
jener hoffentlich mit grösster Freude gestattet haben 
würde. 

Anfang der 80er Jahre trat unser Urning zu der 
Tochter eines Nachbars, namens Luise B., in nähere Be- 
ziehung. Es bildete sich zwischen beiden ein „Liebes- 
verhältnis 44 , das einzige, welches er bislang gehabt hat. 
Vielleicht hatte seine Neigung zu diesem Mädchen darin 
grösstenteils ihren Grund, dass die Nachbarin ihm zur 
Vervollkommnung seiner Damenkleidung behilflich war. 
Schon öfters bei den Zusammenkünften hatte er ihr seinen 
Wunsch, dass er gerade so wie sie gekleidet sein möge, 
ausgesprochen, was sie anfangs als Scherz auffasste; auch 
hatte er ihren Hut wiederholt aufgesetzt und ihren Kleider- 
rock angezogen. 



— 332 — 



Wir wollen ihn jetzt selbst erzählen lassen: 
„Im Herbst 1883 liess ich mir in einem Berliner 
Damenkleider-Atelier ein brannrotes Kaschmirkleid an- 
fertigen, zu etwa 45 Mk. Als ich dasselbe zum erstenmal 
anzog, hatte ich ein himmlisches Gefühl. Meiner Luise 
machte ich nach einiger Zeit Mitteilung von meinem 
neuen Besitz, welche aber ungläubig aufgenommen wurde. 
Darauf beschloss ich, mich ihr im Damenkleide zu präsen- 
tieren, und hatte ich dazu in einem benachbarten Gehölze 
ein Rendezvous bestellt. Der Gedanke an diesen Gang 
im Frauenkleide regte mich den Tag ungemein auf, und 
konnte ich den Abend, an dem es recht dunkel wurde, 
kaum erwarten. Zur bestimmten Zeit schlich ich mich 
als Mädchen zu dem verabredeten Ort und dachte, was 
Luise wohl sagen wird, wenn sie dich in diesem Kostüm 
trifft. Durch bekannte flötenartige Töne hatten wir uns 
bei der grossen Dunkelheit bald gefunden und schon 
zweimal einen Waldweg auf und ab promeniert, als sie 
stehen blieb, mich genau befühlte und dann verwundert 
rief: Was hast Du an? Mein Gott, hast Du ein Kleid 
an? Ein Streichholz wurde angezündet, worauf sie mich 
dann noch bewunderte. Im abgeschlossenen Zimmer habe 
ich dasselbe Kleid unzählige Mal angehabt. Beim Mittags- 
schlafe hatte ich es fast immer an; hing es auch wohl 
an die Wand, so dass ich mich des Morgens beim Er- 
wachen an dem Anblick ergötzen konnte. Vom Versand- 
geschäft Mey & Edlich-Leipzig liess ich mir einen 
Unterrock, eine Schürze und Rüschen kommen, welch* 
letztere ich selbst annähte. Luise schenkte mir nach und 
nach ein Damenbeinkleid, ein Paar Damenstrümpfe, ein 
wollenes, blaues Tuch und eine Damenmütze. Da Luise 
mich öfters auf meinem Zimmer besuchte, so legte ich 
diese Sachen, wenn mir ihre Ankunft gewiss war, stets 
an; bin auch mehrmals des Abends mit ihr in Damen- 
kleidern spazieren gegangen. Bei Geburtstagen beschenkten 



— 333 — 



wir uns reichlich. Ich schenkte ihr fast immer ein Kleid 
und Schmucksachen. Falls sie sich vorher nach meinen 
Wünschen erkundigte, so bat ich immer um Damen- 
kleidungsstücke. Von einem Versandgeschäft in Wien 
liess ich mir ein grosses Umschlagtuch senden. Am 
15. Februar 1885 reisten wir beiden, Luise und ich, nach 
Osnabrück zum Photographen, woselbst ich mich in dem 
mitgenommenen Damenkleide in 4 verschiedenen Stellungen 
photographieren liess. Luise war mir bei meiner Meta- 
morphose behilflich. Ihr gehäkeltes, wollenes Tuch legte 
sie mir um die Schulter, und zum Schluss setzte sie mir 
ihren Hut auf. Der Photograph sprach seine Verwun- 
derung darüber aus, dass ich mich ja wie eine wirkliche 
Dame in den Kleidern bewege, welches Kompliment ich 
sehr gerne hörte. Während meiner Aufnahme war Luise 
in meinen Herrenanzug geschlüpft und liess sich als 
Herr photographieren. Nach etwa einem halben Jahre 
kam Luise nacheinander in H., L. und J. in Kondition. 
Es wurde aber ein reger Briefverkehr unterhalten, wobei 
ich denn auch jedesmal irgend eine Mitteilung von meiner 
Neigung erwähnte. Wenn ich einen Brief schrieb, so 
war ich immer vorher erst in mein Damenkostüm ge- 
schlüpft, und beschrieb dann auch, wie ich die einzelnen 
Kleidungsstücke eins nach dem andern angelegt hatte 
und jetzt als vollständig gekleidete Dame am Schreibtisch 
sässe und mit entzückendem Gefühl meine Gedanken zu 
Papier brächte. Bei der Unterschrift meiner Briefe be- 
diente ich mich gewöhnlich des weiblichen Vornamens 
Luise; z. B.: Mit herzlichem Grusse verbleibe ich Deine 
Luise. 

Bekam ich von ihr Briefe, so wurden dieselben erst 
dann gelesen, wenn ich wieder im Mädchenkleide steckte. 
Mein Genuss war gross, wenn sie in den Briefen, was sie 
oft that, etwas von meiner Neigung schrieb und mir in 
dieser Beziehung ihren Beifall zollte. So schrieb sie mir 



— 334 - 



einst, dass ich sie doch mal besuchen möchte und be- 
merkte: „Wenn es Dir keine Umstände macht, so bitte 
ich Dich sehr, Deine Damengarderobe mitzubringen. Ich 
möchte Dich zu gern mal wieder darin sehen. Ja schade 
ist es, das wir nicht von einer Grösse sind, Du könntest 
dann gut von meinen Kleidern welche anziehen, und 
würden wir dann als ein Schwesternpaar einhergehen." Ein 
andermal schrieb sie: „Dein Kleid sitzt Dir, wie ange- 
gossen. Wenn Du Dir noch ein anderes machen zu lassen 
gedenkst, so nimmst Du gerade so eins, wie meins, und 
stelle ich Dir zu dem Zwecke mein Kleid zur Verfügung. 
Du willst auch gern wissen, wie ich über Deine Vorliebe 
zu Frauenkleidern denke. Ja was soll ich darüber sagen ; 
bleib' Du aber nur dabei." Von Lüneburg aus sandte sie 
mir zum Geschenk ein Korsett; doch habe ich mir später 
noch ein zweites, eleganteres dazu gekauft. Als sie später 
in H. war, fragte sie einst kurz vor Weihnachten brieflich 
an, ob sie den Weihnachtsmann zu mir schicken sollte 
mit einem Unterrock; das regte mich, da es mir sehr 
willkommen war, gewaltig auf, und kurze Zeit darauf er- 
hielt ich ein Packet, in welchem ein gestreifter Unterrock, 
eine Tändelschürze und eine Küchenschürze enthalten 
waren. Schon früher hatte sie mir geschrieben, wie ich 
die Damenkleider anzulegen hätte: „Die Röcke knöpfst 
oder bindest Du entweder unter oder über das Korsett, 
gerade wie es Dir am bequemsten sitzt. Schade, dass 
ich nicht herüber kommen kann; wie gern würde ich Dir 
alles zeigen. Im Jahre 1886 wurde ich nach einem etwa 
4 Kilometer entfernten Orte versetzt Da Luise auch 
bald wieder zu Haus kam, so fanden unsere Zusammen- 
künfte wieder statt. Waren die Tage kurz, so dass es 
früh dunkel wurde, so trafen wir uns im Felde, des 
Sommers im nahen Gehölze. Nicht selten kam ich im 
Damenanzuge, so dass Luise ausrief: «Schon wieder im 
Kostüm? Ich ahnte es, dass Du so kommen würdest" 



— 335 — 



Einst schrieb sie mir auch: „Sieh zu, liebes Herz, ob es 
Dir nicht möglich ist, im Kleide heute Abend zu er- 
scheinen." Als ich als Mädchen sie eines Abends wieder 
nach Hause begleitet hatte, schrieb sie mir kurz darauf: 
„Hoffentlich bist Du gut wieder zu Haus gekommen. 
Noch immer denke ich daran, wie stolz Du in den Frauen- 
klcsdern einhergehen und Dich wie ein richtiges Frauen- 
zimmer darin bewegen konntest. Ich finde auch, dass Du, 
wenn Du nicht ganz so gross wärst, wohl immer ein solches 
Kleid tragen könntest * Falls es des Abends noch zu 
belebt auf der Strasse war, habe ich wiederholt die Kleidei 
zusammengepackt, unter den Arm genommen und mich 
erst im freien Felde in eine Dame verwandelt. Nicht 
selten habe ich auch als Dame des Abends allein meine 
Spaziergänge im Felde gemacht, wobei ich mich dann 
wohl auf einen im Acker stehenden Pflug setzte, mich 
von oben bis unten befühlte und an der faltigen und 
weichen Gewandung ergötzte. 

Von Luise, welche wusste, wie sehr sie mich dadurch 
erfreute, erhielt ich nach und nach ein „Cul", ein rotes 
Kleid mit schwarzem PlUschbesatz, eine Jacke, einen 
Spitzenkragen, eine Damenperrücke, einen resedafarbenen 
Damenhut mit weissem Schleier, einen schwarzen Schleier 
und ein wundervolles rotes, geblümtes Kleid mit rotem 
Sammeteinsatz und mit rotem seidenen Band garniert 
(vergl. Abbildung). An dem letzten Kleidungsstücke hat 
sie selbst unter Leitung der Schneiderin mit gearbeitet, 
und zwar ist das Kleid ganz nach meinen eigenen An- 
gaben gemacht. Die meisten Sachen habe ich bezahlt. 
Einiges wollte Luise absolut bezahlen. Rot ist meine 
Lieblingsfarbe. Gar oft schliesse ich des Tages die Haus- 
thüren zu, um dann die Kleidungsstücke eins nach dem 
andern anzulegen. Habe ich dann das rote Kleid an und 
zuletzt den Hut mit heruntergelassenem Schleier aufge- 
setzt und eine weisse Batistschürze mit Spitzen vorgebunden, 



— 336 — 




Photographie eines Urnings. 

(vgl. Seite 335) 



— 337 — 



80 trete ich vor den Spiegel und betrachte mich mit Ent- 
zücken. Ein so seliges Gefühl, himmlisches möchte ich 
es nennen, kommt dann über mich, wie ich es nicht zu 
beschreiben vermag und was mir auch kein Mensch nach- 
fühlen kann. Ich schwelge in Seligkeit und wünsche 
nichts mehr auf der Welt. Mit Bedauern, nicht ein 
Mädchen zu sein, und in dieser Tracht auf der Strasse 
mich zeigen zu dürfen, lege ich die Sachen dann wieder 
ab. Für meine Damengarderobe habe ich extra einen 
Kleiderschrank. Wie manches Mal bin ich doch des 
Abends, wenn alle Leute hier schon zur Ruhe waren, in 
die Frauenkleider geschlüpft und habe bis Mitternacht 
darin gesessen oder an Sommerabenden spät im Garten 
spaziert! Lese ich mitunter mal in den Zeitungen, wie 
Körperhermaphroditen ursprünglich nicht zu dem richtigen 
Geschlecht, zu dem sie gehörten, gerechnet sind, so dass 
sie später ihre Tracht wechseln mussten, so wünsche ich, 
dass man sich auch in mir geirrt hätte und ich jetzt für 
ein Frauenzimmer erklärt würde; wie wollte ich mich 
doch schnell in meine neue Lage und Tracht fügen. 
Wie wollte ich mich freuen, wenn die Behörde z. B. er- 
klärte: Der N. N. wird hiermit aufgefordert, da sich 
herausgestellt hat, dass er weiblichen Geschlechts ist, von 
jetzt an Damenkleider anzulegen und sich fortan der 
weiblichen Kleidung zu bedienen. 

Vor einigen Jahren kaufte ich mir einen photo- 
graphischen Apparat. Vor das Objektiv machte ich ein 
Fallbret, welches ich mittelst eines Bindfadens beliebig 
auf- und niederlassen und so mich selbst photographieren 
kann. Dies geschieht in der Schulklasse. Vor das Wand- 
tafelgestell wird mit der Kehrseite nach vorne eine Wand- 
karte gehängt, so dass ich dadurch den erforderlichen 
Hintergrund bekomme. Und was wird gemacht? Damen- 
bilder undj abermals Damenbilder! Alle möglichen Stell- 
ungen, sitzend, stehend, von vorne, von seitwärts u. s. w. 

Jahrbuch IJ 22 



— 338 — 



wurden fixiert Meine o Kleider und die andern Sachen 
genügen mir nicht mehr. Luise lieh mir von ihren Sachen 
ein grünes, carirtes und ein graues Kleid, dazu ihren Hub 
ihr rotgestreiftes Schultertuch, sowie ihre Ohrringe und 
Brosche. Da mir die Taillen zu klein waren, so zog ich 
nur die Röcke an, setzte den Hut auf, schmückte mich 
mit Ohrringen und Brosche und nahm das Tuch um 
meinen Oberkörper. So wurde ich in Luisens Hülle von 
mir selbst photographiert. Bei unsern Zusammenkünften 
nahm ich die Bilder dann wohl mit, um sie zu zeigen. 
Vor l 1 /* Jahre hatte unser Verkehr ein Ende, weil Luise 
auswanderte. Ich habe dies nur insofern bedauert, dass 
ich nun nicht mehr Jemand hatte, die meine Neigung 
kannte und die mir mit Anschaffung von Damenkleidungs- 
stücken behilflich war. Die Frauenzimmer reizten mich 
ja an und für sich durchaus nicht, sondern nur ihre 
Hülle. Sei es bei Festlichkeiten als Konzerten, Bällen, 
Volksfesten oder komme ich in eine Stadt, so ist mein 
Sinn nur auf schöne Damenkleider gerichtet, die ich un- 
aufhörlich betrachte und manche Trägerin beneide, weil 
ich es ihr nicht gleich thun kann; ich suche auch wohl 
die Kleider zu berühren. Die grösseren Damen vergleiche 
ich im nahen Vorbeigehen wohl mit meiner Grösse und 
denke, ob mir ihre Kleider auch wohl passen würden. 
Vor Schaufenstern mit .Damenkleiderstoffen bleibe ich 
gewöhnlich lange stehen ; noch mehr ziehen mich fertige 
Damensachen, als Kostüme, Jackets, Unterröcke, Schürzen 
u. 8. w., an. Beim Beschauen ausgestellter fertiger Damen- 
hüte habe ich ein unbeschreibliches Gefühl, und wäre es 
Hochgenuss für mich, wenn ich diesen oder jenen Hut 
mal aufsetzen könnte. In W., wo ich Anfang dieses 
Monats (Oktober 1899) mit mehreren Kollegen zur Pro- 
vinziallehrerversammlung war, regte mich in einem Schau- 
fenster mit Damenhüten ein grauer Hut mit Federn ge- 
waltig auf. Jedesmal, wenn wir an dem Laden vorbei* 



- 339 — 



kamen, blieb ich einige Schritte zurück, um mich an dem 
Anblick einige Augenblicke zu erfreuen. Falls ich allein 
gewesen wäre, so hätte ich mir denselben gekauft. Vorigen 
Sommer kaufte ich mir in O. einen Schleier und mehrere 
Kleiderrüschen. Auf einer Reise in die Rheinprovinz 
sah ich in C. in einem Schaufenster einen prächtigen 
Unterrock liegen, den ich auch gekauft hätte, wenn er 
mir nicht zu klein gewesen wäre. Am Tage vorher war 
ich in R. und fand auf der Strasse ein Blatt aus einer 
Modenzeitung, welches das Bild von einem wundervollen 
Damenkostüm brachte; natürlich ist das Blatt meiner 
Sammlung einverleibt. Ausserdem besitze ich eine ganze 
Kollektion von Damenkleiderstoffen in allen Farben. Als 
ich eine Zeitlang eine Wirtschafterin zur Führung des 
Haushalts hatte, zog ich mir sehr oft, sobald sie auf einige 
Stunden nicht zu Hause war, deren schönste Kleider an 
und photographierte mich in denselben. 

Mein Drang zu Frauenkleidern ist mitunter nicht 
mehr zu ertragen und scheint immer grösser zu werden. 
Im Sommer 1898 habe ich mir noch folgende Sachen 
angeschafft. Ein grünes Kleid mit grünem Sammeteinsatz, 
ein schwarzes Kleid mit schwarzer Perlstickerei, ein 
braunes Kleid, ein blaues Kleid mit gelben Brusteinsatz 
und gelber Schleife am Gürtel und ein graues Kleid mit 
rotem Tuch- und Sammeteinsatz; ausser diesen Strassen- 
kleidern noch ein braunes, meliertes Hauskleid, ein helles 
mit rotem Sammetkragen und ein carirtes mit grünem 
Sammetkragen, ferner ein Damenjacket von schwarzem 
Krimmer, einen Schulterkragen, zwei Unterröcke und einen 
Hut Meine ganze Damengarderobe umfasst jetzt: 
11 Kleider 4 Unterröcke, 2 Jackets, 1 Schulterkragen, 
4 Schürzen 2 Umschlagtücher, 2 Hüte, 1 Paar Strümpfe, 
1 Mütze, 4 Schleier, 2 Paar Ohrringe, 2 Korsetts, 
1 Damenperrücke, 3 Broschen, 1 Halskette und 
1 Medaillon. 

22* 



— 340 — 



Meine nächste Sorge war stets die, mich in den neu 
angeschaffenen Sachen zu photographieren. Alle mög- 
lichen Ankleidungen wurden nun ersonnen und zunächst 
auf dem Papier vermerkt Da hiess es z. B. Aufnahme 
im roten, blauen, grünen Kleide, von vorne, von der Seite, 
sitzend, stehend; schwarzes Kleid mit Schärpe, rotes Kleid 
mit Jacket oder mit Schulterkragen, mit Hut und Schleier 
iL s. w. Ich habe auf diese Weise eine grosse Sammlung 
von Bildern bekommen, die mich als Dame in den ver- 
schiedensten Anzügen darstellen. Auch kaufte ich mir 
einen Kasten mit 24 verschiedenen photographischen Ei- 
weis-Lasurfarben. Mit diesen Farben koloriere ich die 
Bilder dann, so dass ich mich in Kostümen mit natür- 
lichen Farben sehe. Mein Album, welches ich mir für 
diese Bilder extra anschaffte, enthält über 200 Porträts. 
Ich vergleiche dann wohl, ob mir ein rotes, blaues, grünes 
oder schwarzes Kleid am besten steht 

In einem andern grossen Buche habe ich Damen- 
ko8tümbilder eingeklebt, die ich namentlich aus Katalogen 
über Damenkonfektion geschnitten habe und die ich, 
gleich wie die photographischen Bilder, mit den schönsten 
Farben koloriere. Ein von mir gekauftes Buch: »Chic, 
oder Ratgeber für Damen in allen Toilettenangelegen- 
heiten mit besonderer Berücksichtigung der Farbenwahl", 
kommt mir bei dieser mir so reizenden Beschäftigung zu 
Hilfe. In gleicher Weise, wie vorhin angegeben, ver- 
wende ich die Farben in einem kürzlich erworbenen Jahr- 
gange der „grossen Modenwelt *. Diese Arbeit gewährt 
mir ein allerliebstes Vergnügen, so dass ich dann ganz 
mit mir zufrieden bin. 

Habe ich die Damentracht angelegt, so bekomme ich 
starke Erektion, die erst dann verschwindet, wenn ich durch 
Masturbieren Ejakulation veranlasste. Onanie habeich etwa 
von meinem 25. Jahre an getrieben. Mit der Ejakulation 
lässt auch der Drang nach den Frauenkleidern etwas 



— 841 — 



nach, so dass ich dieselben gewöhnlich dann nicht so un- 
gern wieder ablege. Dieser Zustand dauert aber nur kurze 
Zeit, worauf dann die alte Neigung wieder auftritt Es 
geht mir mit der Manneskleidung wie der ungarischen 
Tribade Sandor Vay es mit den Weiberkleidern ging; 
ich habe eine unaussprechliche Indiosynkrasie dagegen. 
Am liebsten verkehre ich in Frauenkleidern mit Damen. 
Gehe ich über eine schmutzige Stelle der Strasse, so denke 
ich: Wenn Du jetzt ein Damenkleid anhättest, so müsstest 
Du dasselbe aufheben und habe wiederholt die Bewegung 
mit der Hand gemacht, wie Damen es an solchen Stellen 
zu thun pflegen.* 

Soweit die Autobiographie unsers Urnings, der in 
dem Punkte seiner Toilettenkünste ziemlich offen ist. 
Er wurde das erst, als ich ihm verriet, dass mir sein Zu- 
stand wohl bekannt sei und dass er nicht allein auf der 
Welt solche weibliche Eigentümlichkeiten besässe. Ueber 
letztere Mitteilung war er sichtlich erfreut, worauf ich 
ihm einige Aufklärung über Homosexualität insonderheit 
von der Effemination, gab. Als ich ihm gelegentlich das 
Bekenntnis eines Urnings über seine Neigung zu weib- 
licher Kleidung vorlas, wie es auf Seite 161 in „Moll, 
konträre Sexualempfindung" angegeben ist mit den Worten: 
„Ich fühle mich in den weiblichen Kleidern so wohl und 
so glücklich, so ganz ä mon aise, wie sonst nie; ich würde, 
könnte ich solche immer tragen, auf Geschlechtsgenuss 
immer verzichten u. s. w. Ä , da wurde er ganz erregt, weil 
das beschriebene Gefühl ganz mit dem seinigen überein- 
stimme, und hat er mir hierauf alles, was in diesem Be- 
richte angegeben ist, selbst mitgeteilt Unser Urning hat 
seinen Schnurrbart — einen Vollbart trägt er überhaupt 
nicht — wiederholt abrasieren lassen, ihn doch aber wieder 
stehen lassen, weil seine Freunde ihn dann den Kaplan 
nannten. Er trägt denselben jedoch äusserst kurz, wie 
ein Jüngling, bei dem sich der erste Flaum auf der Ober- 



— 342 — 



lippe zeigt. Depilatorien hat er häufig angewandt, ja ein- 
mal so stark, dass die behandelte Gesichtspartie wund 
wurde und er einige Zeit Vollbart, welcher jedoch nicht 
stark wurde, wachsen lassen musste. Die Kopfhaare hat 
er stets in der Mitte gescheitelt In seiner Kleidung ist 
er nachlässig und keineswegs elegant, wohl aus dem 
.Grunde, weil ihm die Manneskleidung nicht zusagt. Seine 
Fertigkeit in weiblichen Handarbeiten ist massig, doch 
hat er eine nicht zu verachtende Stick- und Häckelarbeit 
fertig gemacht. In Zubereitung der Speisen ist er ge- 
schickt Kaffee ist sein Lieblingsgetränk, wohingegen er 
alle Spirituosen meidet Süssigkeiten, als Kuchen, Torten, 
Pudding u. s. w. isst er sehr gern. Wie er es schon 
immer gethan hat, so kauft er sich auch noch jetzt Bon- 
bons, so dass seine Bekannten ihn oft neckisch fragen, 
ob er wieder am Bollchenlutschen wäre. Seine Stimme 
besitzt nicht die männliche Tiefe; er singt einen schönen 
Tenor. Pfeifen kann er gerade so gut, als normalfühlende 
Männer. 

Unser Seelenandrogyne ist keineswegs intellektuell 
schwach; ich möchte ihn fast geistig und körperlich kräftig 
nennen. Wenn sein Gedächtnis ihm auch nicht mehr so 
treu ist, als in früheren Jahren, so erinnert er sich doch 
noch genau seiner Kindheit Memorierstoffe aus seiner 
Schulzeit sind ihm grösstenteils noch gegenwärtig. Zwar 
sind seine geistigen Kräfte nicht gleichmässig ausgebildet, 
was wohl in der anormalen Beschaffenheit begründet sein 
mag. Für Mathematik z. B. hat er sich nie besonders 
begeistert. Für Dichtkunst besitzt er Interesse, hat, wie 
er selbst gesteht, auch schon Gedichte gemacht, die er 
jedoch nicht zeigen noch hören lassen will. In Damen- 
gesellschaft ist er gerne gesehen, und es ist fast auffällig, 
wie gern die Damen sich mit ihm in ein Gespräch ein- 
lassen. Für Geflügel- und Blumenzucht hat er grosse 
Vorliebe. Früher war er selbst Geflügelzüchter und war 



— 343 — 



sein Name unter den Fachgenossen gut bekannt. Bei 
Geflügelausstellungen hat er. mehrmals als Preisrichter 
fungiert Er selbst hat auch für ausgestelltes Geflügel 
wiederholt Prämien bekommen. Vier Diplome hat er 
eingerahmt in seinem Zimmer hängen. Praktisches 
Geschick ist ihm in hohem Maasse eigen. Gerät- 
schaften zur Vogelzucht, als z. B. Vogelkäfige hat 
er sich selbst angefertigt Eine Taschenuhr kann er, 
nachdem er sie vorher angesehen, auseinandernehmen und 
richtig wieder zusammensetzen. Auch in der Anfertigung 
von Lehrmitteln für die Schule ist er geschickt So bat 
er z. B. eine kleine elektromagnetische Maschine ange- 
fertigt, welche sehr gut geht Leitungsdrähte hierzu hat 
er selbst besponnen, obwohl man solche ja billig kaufen 
kann. Ordnungsliebe und Pünktlichkeit sind ihm nicht 
abzusprechen. 

Unser Urning neigt leicht zum Zorn. Eine ihm zu- 
gefügte Beleidigung vergisst er nicht Ein Geheimnis 
darf man ihm nicht anvertrauen, da er es nicht für sich 
behalten kann. Er hat mitunter Anfälle von Schwermut; 
ist verstimmt, unlustig und missmutig; fängt leicht an zu 
weinen. Auch bei geringen Gemütsaffekten, beim Lesen 
einer edlen That oder eines Zugs rührender Liebe treten 
ihm sogleich Thränen in die Augen. 

Es zeigt sich auch hierin sein fast ausschliesslich 
weibliches Fühlen, sowie sein ganzes Benehmen ein süss- 
liches genannt werden kann. 

Er ist mit seinem Zustande im Allgemeinen nicht 
unzufrieden; er bedauert nur, dass er seiner Neigung ent- 
sprechend nicht ausserhalb der Wohnung auftreten kann. 
Sein grösster Wunsch ist nach seiner eigenen Aussage 
der, wenn er in eleganten Damenkleidern als Gesell- 
schafterin bei einer einzelnen Dame sein und sich mit 
dieser über Damentoiletten unterhalten und mit Anfertigung 
derselben beschäftigen könnte. 



— 344 — 



Es ist in der That auffallend, wie mächtig sich bei 
manchen Homosexuellen das weibische Benehmen zeigt 
und sie trotz der vollständig ausgebildeten Genitalien 
dennoch ihr feminines Wesen nicht unterdrücken können. 

Ich habe, versucht, das Bild dieses ausgeprägtesten 
Effeminierten zu zeichnen, glaube auch, dass es derartige 
Fälle, wie hier mitgeteilt, mehr giebt, als man annimmt. 
Da die mit den psychosexuellen Anomalien Behafteten aus 
gewissen Gründen eine grosse Zurückhaltung über ihren 
Zustand beobachten, so ist es nicht möglich, eine auch nur 
der Wahrscheinlichkeit nahe kommende Statistik aufstellen 
zu können. Auch dem hier geschilderten Lehrer ist es 
gelungen, seine so ausgesprochene Veranlagung zu ver- 
bergen. Nur der erwähnten Luise, seiner Wirtschafterin 
und dem Schreiber dieser Zeilen hat er Mitteilungen ge- 
macht Selbst seine Eltern wissen nichts davon. 

Der bekannte Orientreisende Otto E. Ehlers, welcher 
in seinem Reisewerke: „Im Sattel durch Indo-Cbina* auch 
von Konträrsexuellen der Laosstaaten berichtet, sagt> dass 
gerade im Orient sehr häufig Konträrsexuelle anzutreffen 
sind, „und dies wohl nur deswegen, weil man dort wenig 
oder gar kein Hehl aus dieser Beanlagung macht, während 
in den „Kulturstaaten", Deutschland obenan, die armen 
Unglücklichen zu stetigem Versteckspiel verurteilt sind, 
denn die Bethätigung ihrer Empfindungen wird als Ver- 
brechen mit öffentlicher Verachtung und schweren Ge- 
fänguisstrafen gesühnt. Früher legte man Irrsinnige in 
Ketten und heute — versucht man krankhafte Natur- 
triebe im Gefängnisse zu bessern. 

O saneta simplicitas!" 



Die Bibliographie der Homosexualität 
für das Jahr 1899, 
sowie Nachtrag zu der Bibliographie des ersten Jahrbuchs 

von 

Dr. jor. Numa Praetorius. 
Einleitung. 

Die im ersten Jahrbuch von philologischer Seite zum 
ersten Male aufgestellte, verdienstvolle Bibliographie der 
Homosexualität konnte bei der ungeheueren Masse des 
Materials und den grossen Schwierigkeiten eines ersten 
Versuchs unmöglich auf eine Besprechung der einzelnen 
Werke sich einlassen. 

Da die folgende Bibliographie nur die während des 
Jahres 1899 erschienenen,*) sowie die in der vorjährigen 
Bibliographie übersehenen, dem Verfasser bekannt ge- 
wordenen Schriften aus früheren Jahren umfasst, war ein 
Eiligehen auf den Inhalt durchführbar und angezeigt. 

Die Schriften des Jahres 1899 sollen genau besprochen, 
diejenigen aus früherer Zeit, soweit möglich, wenigstens 
kurz charakterisiert werden.**) 

Die gewählte Einteilung namentlich in Schriften von 
Medizinern und Nicht-Medizinern mag vielleicht gewissen 
Bedenken unterliegen und wäre wohl bei einer ab- 
schliessenden Gesamtbibliographie nicht angezeigt. Für 
den Zweck dieser Teilbibliographie schien sie jedoch am 
sichersten eine feste Klassifizierung zu ermöglichen. 

*) Einige erst seit Beginn des Jahres 1900 erschienene Schriften 
sind auch schon besprochen. 

**) Verfasser bittet alle Personen, den möglichst genanen In- 
halt aller ihnen bekannten Schriften oder Stellen über Homosexualität, 
die weder in dieser noch in der vorjährigen Bibliographie erwähnt 
sind, Herrn Dr. Hirschfeld oder dem Verleger Herrn Spohr gefälligst 
mitzuteilen, damit die Bibliographie in den nächsten Jahrbüche n 
fortgeführt und vervollständigt werden kann. 



Inhaltsangabe. 



I. Abschnitt. 

Die Schriften des Jahres 1899. 

Kapitel 1: Wissenschaftliches. 
§ 1: Schriften der Mediziner. 

Fuchs : „Therapie der anomalen vita sexualis bei Männern 
mit spezieller Berücksichtigung der Suggestivbehand- 
lung.* (Stuttgart: Enke.) 

Kautzner: „ Homosexualität" in Heft 3 Archiv für 
Kriminalanthropologie von Gross. Bd. II. 

Moll: „Die konträre Sexualempfindung 11 , 3. Aufl. 
(Fischers Medizin. Buchhandlung, Berlin 1899). 

Holl: „Die widernatürliche Unzucht im Strafgesetzbuch 
in der „Gesellschaft" von Courad und Jacobowski. 
I. Aprilheft 1899. 

Näcke: „Kritisches zum Kapitel der normalen und patho- 
logischen Sexualität* im Archiv für Psychiatrie und 
Neurologie. Heft 2, Bd. 32. 

Neugebauer: „50 Missehen wegen Homosexualität der 
Gatten und einige Ehescheidungen wegen „Erreur 
de sexe* im Zentralblatt für Gynäkologie (Heraus- 
geber Fritsche) Nr. 8, G. Mai 1899. 

Schaefer: „Die forensische Bedeutung der konträren 
Sexualempfindung* in der Vierteljahrsschrift für ge- 
richtliche Medizin und öffentliches Sanitätswesen. 
Dritte Folge Heft 2, Bd. 7, 2. Heft. 

Scholta: „Zur Frage der konträren Sexualempfindungen* 
in der „Neuen Gesundheits warte* Nr. 9 und 10. 



— 347 — 



Schrenk-Notzing: „Beiträge zur forensischen Beurteilung 
von Sittlichkeitsvergehen mit besonderer Berück- 
sichtigung der Pathogenese peychosexueller Anomalien * 
im Archiv für Kriminalanthropologie von Gross. 
Hefte 1 und 2, Bd. I. 

Sehrenk-Notzing: „Zur suggestiven Behandlung der kon- 
trären Geschlechtsempfindung" im Zentralblatt für 
Nervenheilkundc und Psychiatrie von Sommer und 
Kurella. Mai- und Juliheft 1899, Nr. 112 und 114. 

Wollenberg: „Ueber die Grenzen der strafrechtlichen 
Zurechnungsfähigkeit bei psychischen Krankheits- 
zuständen". Vortrag, mitgeteilt im Neurologischen 
Zentralblatt von Mendel 1. Mai 1899, Nr. 9. 

§ 2: Schriften der Nicht-Mediziner. 
(Juristen, Ethiker, Philosophen etc.) 

Anonym (ein höherer Richter): „Eros und das Reichs- 
gericht". (Verlag: Spohr, Leipzig.) 

Anonym: „Die homosexuelle Frage vom Standpunkt der 
Humanität und Gerechtigkeit aus betrachtet". (In 
Belgien als Manuskript gedruckt.) 

Anonym: Laster oder Unglück? oder Besteht 
der§ 175 des deutschen Reichsstrafgesetz- 
buches zu Recht? Eine Gewissensfrage an das 
deutsche Volk von einem Freunde der Wahrheit. 
(Verlag: Spohr, Leipzig.) 

Anonym: Soll § 175 R. Str.-G.-B. bestehen bleiben? 
(Leipzig, Druck von Emil Freter.) 

Anonym: Widerlegung der Gegen petition zwecks 
Aufrechterhaltung des § 175 Str.-G.-B. 

Asmus, Martha: „Homosexuell" in „Magazin für Literatur 
des In- und Auslandes", 2. Dezember 1899. 

Fuld, Ludwig: „Welche Mittel sind zur Repression der Er- 
pressung anzuempfehlen". (Als Manuskript gedruckt.) 



— 348 — 



Gaulke, Johannes: „Das homosexuelle Problem" in Magazin 
für Literatur des In- und Auslandes, 14. Oktober 1899. 

Gerling, Reinhold: Die verkehrte Geschlechtsempfindung 
und das dritte Geschlecht. (Verlag: Wilh. Möller, 
Berlin 1900.) 

Gross, Hans: Besprechung von Molls konträrer Sexnal- 
empfindung in Archiv für Kriminalanthropologie von 
Gross, Heft 2, Bd. IL 

Gross, Hans:. Besprechung des L Jahrbuchs im gleichen 
Archiv, Heft 4, Bd. H. 

Günther, Reinhold: „Kulturgeschichte der Liebe*. (Ver- 
lag: Carl Düncker, Berlin 1900.) 

Jentsch, Karl: „Sexualethik, Sexualjustiz und Sexual- 
polizei*. (Verlag: „Die Zeit", Wien 1900:) 

von Kupffer, Elisar: „Die ethisch-politische Bedeutung 
der Lieblingsminne * in der Zeitschrift von Brand 
„Der Eigene*, 1. und 2. Oktoberheft 1899, Nr. 7. 

Studie über die Sakalaven auf Madagaskar in „Annales 
d' hygifene et de m6decine coloniale". (Letzte Nummer 
des Jahrgangs 1899 oder erste des Jahrgangs 1900.) 

Thal, Wilhelm: „Der Roman eines Konträr-Sexuellen* 
mit einer Einleitung von Raffalowieh, Marc-Andr£: 
„Der Uranismus*. (Verlag: Spohr, Leipzig.) 

von Wächter, Theodor: „Ein Problem der Ethik*, „Die 
Liebe als körperlich -seelische Kraftübertragung". 
(Verlag: Spohr, Leipzig.) 



— 349 - 



Kapitel 2: Belletristisches und Varia*) 
Brand, Adolph: „Der Eigene", Zeitschrift (Berlin-Neu- 
rahnsdorf) sämtliche Nummern, 
de Gourmont, Remy: „Le Souge d'une Femme*, Roman 
im „Mercure de France", Oktober- und November- 
heft 1899. 

d'Herdy, Luis: .Monsieur Antinous et Madame Sappho*, 

Roman (Verlag: Girard, Paris). 
d'Herdy, Luis: „L^Homme-Sirtne", Roman (Verlag: 

Girard, Paris). 

Pierron, Sander: „Le mauvais chemin du bonneur", 
Novelle in „Mercure de France*, Juliheft 1899. 

von Platen, Graf August: Tagebücher, Bd. II. Heraus- 
geber Laubmann und Scheffler (Verlag: Cotta, 
Stuttgart). 

Rebell , Hugues : „La Bataille pour un Mort* seines 
Romaines: Novelle in „Mercure de France*, November- 
heft 1899. 

Rebell, Hugues: „La Cftlineuse", Roman (Verlag: Revue 
blanche, Paris 1900). 



U. Abschnitt. 

Vor dem Jahre 1899 erschienene, in der 
vorjährigen Bibliographie nichterwähnteSchriften. 
Kapitel 1: Wissenschaftliches. 
§ 1: Schriften der Mediziner. 
§ 2: Schriften der Nicht-Mediziner. 
Kapitel 2: Belletristisches. 



*) Varia bezieht sich auf Platens Tagebücher, die nicht zur 
Belletristik zu zählen sind, ebenso wenig aber unter Kapitel 1 § 1 
aufgenommen werden konnten. 



I. Abschnitt 

Die Schriften des Jahres 1899. 

Kapitel 1: Wissenschaftliches. 
§ 1: Schriften der Mediziner. 

1) Dr. Fuchs: Arzt am Sanatorium Purkersdorf (Wien) 
— offenbar Schüler von Kraffib-Ebing — veröffentlicht 
„Therapie der anomalen vita sexualis bei 
Männern mit spezieller Berücksichtigung der 
Suggestivbehandlung* (Stuttgart^ Enke, 1899) — 
die einzige im Jahre 1899 in Buchform erschienene rein 
medizinische für die Homosexualität bedeutsame Schrift. 
Das Buch beschäftigt sich, wie der Titel besagt^ nicht 
ausschliesslich mit der konträren Sexualempfindung. 

In der Einleitung verlangt Fuchs für die Sexual- 
Perversen, welche strafbare Handlungen begehen (er 
meint wohl andere Delikte als die des § 175) Internierung 
in besondere Anstalten zwecks Behandlung und Heilung. 
Der Beginn des «allgemeinen Teiles" enthält einige all- 
gemeine Bemerkungen über sexuelle Perversionen, aus 
welchen besonders das Anerkenntnis von Fuchs hervor- 
zuheben ist, dass konträre Sexualempfindung meist ererbt 
sei, sowie dass oft ein anomaler Körperbau bei Urningen 
vorkomme. Er sagt wörtlich: „Kann man auch z. B. bei 
den psychischen Anomalien der Androgenen über Erbe 
oder Erwerbung streiten, so kann man dies doch nicht 



— 351 — 



bei dem Körperbau' dieser „konträren xai egoxrjv." Es 
beweisen solche Phänomene ferner, dass die konträre 
Sexaalempfindung als psychische Qualität keine Bildung 
darstellt, welche ausserhalb des Planes und der 
Möglichkeit der schaffenden Natur liegen 
würde." 

Kapitel 1 behandelt dann die Therapie der Mastur- 
bation, Kapitel 2 die bei abnorm gesteigerter Anspruchs- 
fähigkeit des Ejakulationszentrums. Die Regelung der 
Lebensweise, des Essens, Trinkens, der Arbeit u. s. w., 
sowie die Anordnung von Wasserprozeduren und Medi- 
kamenten werden genau besprochen. 

In Kapitel 3 folgen Angaben über die hypnotische 
Methode und ihre Anwendung, ferner über die nach ge- 
lungenem Heilverfahren einzuschlagenden Massnahmen 
(Verehelichung, Regelung des Gesohlechtsverkehres). 
Im zweiten Teil giebt Fuchs 30 Krankengeschichten von 
Patienten, die hypnotisiert wurden. Darunter befinden 
sich 4 Fälle psychischer Hermaphrodisie und 12 von 
konträrer Sexualempfindung, wovon 1 bezw. 3 zugleich 
mit Sadismus kompliziert. 

Darunter sollen gebessert worden sein: 2 Fälle 
psychischer Hermaphrodisie und 5 von angeborener kon- 
trärer Sexualempfindung, geheilt: 2 Fälle psychischer 
Hermaphrodisie, 2 von angeborener und 1 von erworbener 
konträrer Sexualempfindung. Die 4 übrigen Fälle, sämt- 
lich angeborener konträrer Sexualempfindung, seien un- 
geheilt geblieben. 

2) Dr. Kautzner (Graz): „Homosexualität" inHeft 
3 des 2. Bandes des „Archivs für Kriminalanthropologie" 
von Gross, welches unter Andern namentlich auch den 
Fragen der Homosexualität gewidmet sein soll. 

Zunächst ein Bericht über den Fall eines öffentlich 
in flagranti bei Begehung homosexueller Handlungen mit 
einem Arbeiter ertappten Landarztes. An die Angaben 



über das angebliche Vorleben des Angeklagten schliesst 
sich ein Gutachten über dessen Geisteszustand, in welchem 
Kautzner sich auch ganz allgemein über die Homosexualität 
ausspricht. Nach Kautzner sei der Gerichtsarzt am besten 
in der Lage, über die Homosexualität sich zu äussern, da 
er meist gesunde Homosexuelle zu untersuchen habe. 

Kaptzner neigt der Auffassung Gramers zu (vgl. 
Berliner Klinische Wochenschrift 1897, Nr. 43 und 44), 
wonach die Homosexualität keine pathologische Erschei- 
nung, sondern meist ein Laster sei. Viele Homosexuelle 
seien es erst geworden durch Verführung. 

In der Verführung junger, scheuer, unerfahrener 
Burschen, deren Triebe in falsche Bahnen gelenkt würden, 
läge die Gefahr der Straflosigkeit homosexueller Hand- 
lungen. Allerdings dürfe es der Gerechtigkeit entsprechen, 
nur Verführung Minderjähriger und solche Handlungen, 
die mit Gewalt oder öffentlich begangen seien, zu be- 
strafen. 

Nach Ausscheiden der wahren Geisteskranken, der 
typischen Degenerierten und der ausgesprochenen Wüst- 
lingen fände sich eine Klasse Homosexueller mit gewissen 
gemeinsamen Eigentümlichkeiten, so dass Manches für 
die biogenetische Auffassung der Homosexualität zu 
sprechen scheine. 

Jedoch sei auch bei dieser Klasse anzunehmen, dass 
Erziehung, Umgang, Verführung, äussere und innere 
Umstände erst die Anomalie hervorgebracht hätten. 

Die Homosexualität sei weder angeboren noch 
organisch bedingt noch auch unbezähmbar. 

Ebenso gut als viele Normale ihre Triebe unter- 
drücken müssten, ebenso gut sei dies von den Urningen 
zu verlangen. Sie sollten sich von ihren Trieben eman- 
zipieren. 

Auch in den Spezialfall des Angeklagten spräche 
nichts für eine Unwiderstehlichkeit des Triebes. 



— 333 — 



Das Gutachten geht ganz oberflächlich über die Ent- 
stehungsursachen der Homosexualität und ihre organischen 
Bedingungen hinweg und ermangelt jedes tieferen Ein- 
dringens und Erfassens des Problems. 

3) Dr. Moll, Albert: Die konträre Sexualempfind- 
ung. (Berlin 1899). Fischers Medizinische Buchhandlung. 
8. teilweise umgearbeitete und vermehrte Auflage. 

Da es sich nicht um ein neues Werk handelt, so ist 
eine eingehende Inhaltsangabe dieses im Jahre 1891 
zum ersten Male veröffentlichten, mustergiltigen Buches 
hier nicht am Platz. Bei der hohen Bedeutung dieses 
als das wichtigste Ereignis des Jahres 1899 in der Litera- 
tur über die Homosexualität zu betrachtenden Werkes 
und seiner wesentlichen Umarbeitung und Vergrösserung 
(1. Aufl. 266 S. 3. Aufl. 583 S.), darf aber eine wenigstens 
allgemeine Besprechung dieses Buches an dieser Stelle 
nicht fehlen. 

Molls „konträre Sexualempfindung" bildet immer 
noch und gerade in der neuen Gestaltung den Gipfel- 
punkt des Studiums der Homosexualität und stellt eine 
völlige Encyclopädie Alles dessen dar, was bis zum Spät- 
jahr 1898 über das betreffende Gebiet geschrieben und 
erforscht worden ist. (Seit der Drucklegung von Moll's 
Buch ist allerdings wiederum manches Interessante er- 
schienen, was Moll nicht mehr verwerten konnte.) 

Moll hat wohl die gesammte wissenschaftliche Literatur 
vollständig berücksichtigt und ein erstaunliches Quellen- 
material gesammelt; (nur die belletristische Literatur ist 
— dem Charakter des Werkes gemäss — ein wenig spär- 
lich vertreten.) 

Die reiche, persönliche Erfahrung Molls befähigt 
ihn, nicht nur wie kein Anderer das gesamte bunte 
Material in selbständiger Weise zu verarbeiten und Alles 
in das richtige Licht zu stellen, sondern überhaupt das 

Jahrbuch n. 23 



Problem der Homosexualität seiner definitiven wissen- 
schaftlichen Losung entgegen zu führen. 

Medizinisches, Juristisches, Psychologisches, Soziales, 
Geschichtliches, Alles ist mit gleicher Sorgfalt und gleichem 
Verständnis besprochen. Wenn auch der medizinische 
Standpunkt selbstverständlich etwas schärfer hervortritt, 
herrscht doch überall eine geradezu bewunderungswürdige, 
manchem anderen Gelehrten anzuempfehlende Objektivi- 
tät des Urteils, welche die verschiedensten Seiten einer 
Frage nach allen Richtungen hin erörtert und das ge- 
samte Für und Wider der schwierigen Materie in echt 
wissenschaftlichem Geiste prüft. 

Wie die 2. Auflage, so enthält auch die 3. Auflage 
Autobiographien, — und zwar ziemlich zahlreiche — die 
in der 1. Auflage fehlten. 

Die Ergebnisse der „Libido sexualis" von Moll, 
werden verwertet: Die Einteilung des Geschlechtstriebes 
in Detumescenz- und Kontrektationstrieb; das Eingeboren- 
sein der normalen und anormalen Reaktionsfähigkeit 
Die Theorie von der in der bisexuellen Anlage des Foetus 
zu erblickenden Ursache der Homosexualität, wird für 
wahrscheinlich gehalten.*) 

Das Kapitel über die psychische Hermaphrodisie ist 
— seinem häufigen Vorkommen in der Wirklichkeit ent- 
sprechend — vermehrt; ganz bedeutend erweitert ist der 
Abschnitt über die Homosexualität beim Weibe. (1. Aufl. 
19 S. 3. Aufl. 81 S.) 

Erheblichen Zuwachs haben die Erörterungen über 
die Homosexualität in der Geschichte erfahren; ferner 
sind eine weit grössere Anzahl historischer Urninge, teil- 

*) Seither bat insbesondere auch Dr. Hirschfeld in dem 1. Jähr- 
lich: in seiner Objektiven Diagnose der Homosexualität diese Auf» 
r aasung entwickelt, die Hirschfeld übrigens schon 1896 in seiner unter 
dem Pseudonym Dr. Ramien im Verlag Spohr erschienenen Schrift 
.Sflppho nnd Socrates - vertreten hatte. 



— 355 — 



weise ziemlich eingehend besprochen, so namentlich 
Friedrich der Grosse, auch einige sehr interessante poet- 
ische Citate finden sich vor so z. B. aus Göthes Faust 
und west-östlichem Divan, aus Piron u. s. w. Bei der 
Prüfung der Homosexualität gewisser grosser Männer 
geht Moll in seiner Objektivität fast zu weit und legt 
sich fast allzu grosse Zurückhaltung in seinen Schlüssen 
auf, so z. B. kann bei Platen seit Erscheinen seines un- 
gekürzten Tagebuches (wovon Moll allerdings vielleicht 
nur die Einleitung von Scheffler im Jahre 1898 kannte) 
kein Zweifel über seine Homosexualität mehr bestehen. 

Dem Werke Molls ist noch ein Anhang beigefügt : 
Ein von den Sittlichkeitsvereinen eingefordertes Gut- 
achten „über den Wert der Keuschheit für den Mann," 
ein Muster gesunden Blickes und praktischen Sinnes^ 
welches eine Reihe dem modernen Bewusstsein ent- 
sprechenden, von Selbsttäuschung, Lüge und Heuchelei 
freien, echt mororalische Anschauungen enthält. Wenn 
trotzdem die Sittlichkeitsvereine sich geweigert haben, 
dies Gutachten ohne Aenderungen zu veröffentlichen, so 
haben sie auch hier wiederum, ebenso wie in der Frage 
der Homosexualität*) nur ihren voreingenommenen, das 
Licht der Wissenschaft scheuenden Geist bewiesen. 

4) Dp. Moll, (Berlin): Die widernatürliche Un- 
zucht im Strafgesetzbuch. Unter diesem Titel 
bringt Moll in der Halbmonatszeitschrift »Die Gesell- 
schaft* von Conrad und Jacobowski I. Aprilheft 1899 
einen gemeinverständlichen, für den gebildeten Laien ge- 
schriebenen Aufsatz. 

Von der Wandelbarkeit der Sitten und Gesetzen je 
nach Zeiten und Orten ausgehend weisst Moll zunächst 

*) Z. vergl. die Gegenpetition ; ferner in dem wissenschaftlichen 
Fachorgan der deutschen Sittlichkeitsvereine Römer in Heft 1, 
Ho ff mann in Heft 4 (Berlin 1892) mit ihrem die vorgefasste 
Meinung verratenden, unwissenschaftlichen Ton. 



— 356 — 



auf die Anschauungen der alten Griechen über gleich- 
geschlechtliche Liebe hin, welche gerade diese Liebe in 
jeder nur denkbaren Weise gepriesen hätten. 

Nach kurzer Erläuterung des Wesens der konträren 
Sexualempfindung als eines wirklichen auf den Mann statt 
auf das Weib gerichteten Triebes und Besprechung der 
bestehenden Gesetzgebungen über widernatürliche Un- 
zucht, wird Aufhebung oder wenigstens Abänderung des 
§ 175 für wünschenswert gehalten. 

Die Frage nach der Entstehung des homosexuellen 
Empfindens wird gestreift und eine eingeborene Dis- 
position in einer Reihe von Fällen als erwiesen angenommen. 
Entartungszeichen kämen öfters bei Homosexuellen vor, 
bei Manchen sei dagegen keinerlei Krankheitesymptom 
zu finden; trotzdem sei die konträre Sexualempfindung 
schon an und für sich als etwas Krankhaftes zu betrachten. 

Die angeblichen Gründe für Beibehaltung des § 175 
werden sodann widerlegt und namentlich das absolut Un- 
logische des Paragraphen betont; die Züchtung des Er- 
pressertums in Folge des § 175 wird hervorgehoben. 
§175 sei aufzuheben oder aber man müsse auch alle 
andern unnatürliche Befriedigungsakte, namentlich die 
zwischen Mann und Weib, bestrafen. 

5) Dr. Näcke, (Hubertusburg): „Kritisches zum 
Kapitel der normalen und pathologischen 
Sexualität* in dem Archiv für Psychiatrie und 
Neurologie, Bd. 32, Heft 2. Bedeutsamer Aufsatz. 

Mit Recht stellt Näcke an die Spitze seiner Aus- 
führungen die Forderung, dass vor Allem die Entstehung 
des normalen Geschlechtstriebes studiert werden müsse 
und weisst auf die Untersuchungen Molls in dieser 
Richtung hin, dessen Einteilung in Detumescens- und 
Contrectationstrieb er billigt Nach eingehenden Aus- 
lassungen über die hier nicht näher interessierenden 
Pollutionen, Onanie und die selten vorkommenden Fälle von 



— 357 — 



Tagträumen und Narcismus wendet sich Näcke zur Homo- 
sexualität. 

Hoches*) Auffassung von der Häufigkeit gleich- 
geschlechtlicher Akte in Pensionaten wird als stark über- 
trieben bezeichnet 

Im Gegensatz zu Hoche erkennt Näcke die Wichtig- 
keit der wahren Homosexualität an. 

Ihre Entstehung auf der Grundlage der bisexuellen 
Anlage hält Näcke für durchaus möglich. 

Die zweifellos vorhandene ursprüngliche physiologische 
Bisexualität mache auch ein psychisches bisexuelles Zen- 
trum wahrscheinlich. Durch Vererbung oder Störung in 
der Fötalentwicklung könne die bisexuelle Anlage be- 
stehen bleiben oder nur die dem eigenen Geschlecht ent- 
sprechende zur Entwicklung kommen. 

Vererbt sei aber stets (wie dies auch Moll betont) 
nur die homo- oder heterosexuelle Reaktionsfähigkeit, 
nicht der anatomisch- physiologische Vorgang. 

Die Homosexualität könne aber auch, wie Schrenk- 
Notzingund F£r£ für alle Fälle annehmen, auf psychischem 
Weg entstehen in Folge Association, diese Entstehungsart 
setze aber auch, wie dies Schrenk-Notzing selbst zugäbe, 
krankhafte Disposition voraus; deshalb sei der Unter- 
schied zwischen der Theorie der angeborenen Reaktions- 
fähigkeit und der anomalen Association nicht sehr 
bedeutend. 

Neben der frühzeitigen Homosexualität gäbe es eine 
später eintretende, die meist Laster sei. 

Zur Erforschung der wahren Natur der Sexualität 
und der Entstehung der Homosexualität sei die sicherste 
Diagonostik aus dem Traumleben zu ziehen. 

*) Z. vgl. Hoche: Zur Frage der forensischen Beurteilung 
sexueller Vergehen in Mendels Neurologischem Zentralblatt 15. Jan. 
1896 und die anonyme Entgegnung von D. M. (Numa Prätorius in 
Friedreichs Blättern für gerichtliche Medizin. 1896. Heft VI.) 



— 358 — 



Bezüglich des Verhältnisses der Degeneration zur 
Homosexualität äussert sich Näcke mit Vorsicht 

Unter den Homosexuellen seien wirklich Degenerierte 
im gewöhnlichen Sinne des Wortes nur Wenige zu finden. 
Bei Denjenigen aber, die infolge krankhafter Disposition 
frühzeitig eine primär zwingende Association in der Rich- 
tung des eigenen Geschlechts erwürben, dürften auch 
sonstige Stigmata anzutreffen sein. Aber es gäbe auch 
Viele, welche die ursprüngliche Schwäche des Geistes und 
des Körpers überwunden hätten und bei denen nur noch 
der anomale Trieb übrig geblieben sei. 

In der anatomisch bedingten Homosexualität sei 
jedenfalls nur eine Variation des Geschlechtstriebes zu er- 
blicken, Annahme von Atavismus müsse abgelehnt werden. 

Zum Schluss wird auf die Homosexualität in Griechen- 
land hingewiesen und als zweifelhaft hingestellt, ob sie 
mehr erworben oder mehr angeboren, ob sie häufiger als 
heute gewesen ist; endlich wird die Aufwendung des 
§175 unter allen Umständen gefordert: teleologische, 
teologische, ästetische Rücksichten seien nicht massgebend. 
Homo- und Heterosexualität seien gleich zu 
behandeln. 

Diese Inhaltsangabe dürfte die Bedeutung des Auf- 
satzes erkennen lassen. Die anatomische Basis und das 
Angeborensein der Homosexualität, die geringe Bedeutung 
zwischen Associationstheorie und Theorie des Angeboren- 
seine, die häufige Ueberschätzung der Degeneration bei der 
Homosexualität, die Homosexualität oft nur eine Variation 
des Geschlechtstriebs, endlich die Forderung der gleichen 
Behandlung der Hetero- und Homosexualität sind Sätze, 
welche von einen so kritischen und vorsichtigen Psychiater 
wie Näcke aufgestellt, auch auf die meist mit dem Studium 
der Homosexualität wenig vertrauten Gegtier Eindruck 
machen und zu einer allgemeinen richtigen Würdigung 
der Homosexualität beitragen dürften. 



— 359 — 



6) Dr. Neugebauer (Warschau) bringt unter der 
Ueberschrift: „50 Missehen wegen Homosexualität 
der Gatten und einige Ehescheidungen wegen 
„Erreur de sexe" in dem Zentralblatt für Gy- 
näkologie (herausgegeben von Fritsch,. Bonn) Nr. 18, 
6. Mai 1899, eine Casuistik von 50 Fällen physischen 
Zwittertums, darunter 46 männlichen, 3 weiblichen Schein* 
zwittertums. Es handelt sich in allen Fällen nicht, wie der 
Titel besagt, um eigentliche Homosexualität d. h. um das 
auf das eigene Geschlecht gerichtete Geschlechtsgefiihl 
bei völlig einseitig entwickelten Geschlechtsorganen, son- 
dern um zweifelhafte physische Geschlechtsorgane. 

Doch zeigt die Casuistik deutlich, wie in der Natur 
eine Kette allmäliger Uebergänge des Physischen zum 
Psychischen und umgekehrt existiert 

7) Dp. Schaefer (Longerich) „Die forensische Be- 
deutung der konträren Sexualempfindung* in 
der Ä Vi eteljahr schrift für gerichtliche Medizin 
und öffentliches Sanitätswesen* von Schmidt- 
mann und Strassmann (Berlin: Hirschwald) dritte Folge 
7 Bd. 2. Heft 1S99 2. Heft. 

Auch Schaefer geht von der Petition aus; er be- 
kämpft zunächst die von Cramer in der Berliner klinischen 
Wochenschrift 1899 Nr. 43 und 44 niedergelegte Auf- 
fassung als ob die konträre Sexualempfindung meist auf 
Laster zurückzuführen sei. Schaefer teilt bezüglich der 
Entstehung der Homosexualität zwar nicht den Stand- 
punkt der Petition, wonach dieselbe mit der bisexuellen 
Embryonalanlage zusammenhänge; er nimmt blos eine 
reizbare Schwäche des Zentrums an und eine früh in - 
Thätigkeit tretende Erregung, zu welcher frühzeitig Ein- 
drücke von Personen des gleichen Geschlechts hinzu- 
kämen, vorher existire nur eine degenerative Weichheit 
des Gehirns und eine krankhafte Erregbarkeit. 

Trotzdem betont aber Schaefer, dass ein weit schärferer 



— 360 — 



Unterschied, als Cramer es thäte, zwischen Laster und 
vorübergehender Neigung einer- und zwischen dauerndem, 
tiefeingewurzeltem, auf krankhafter Anlage ruhendem 
Trieb andererseits zu machen sei. 

Nach Schaefer bildet wirkliche konträre Sexual- 
empfindung einen Strafausschliessungsgrund. Die echte 
Homosexualität sei eine pathologische Abweichung und 
wirke mit grosser Kraft bestimmend und Widerstände 
überwindend auf die Willensäusserung; auch wenn sie als 
alleiniges Symptom nachweisbar sei, müsse ihr die Kraft 
zugeschrieben werden, die freie vWiUensbestimmung auf- 
zuheben. Wegen der Schwierigkeiten, die Frage der Zu- 
rechnungsfähigkeit der Urninge in foro zu entscheiden, 
empfiehlt auch Schaefer die Aufhebung des § 175. 

Der Auffassung von Schaefer, dass die Homosexualität 
Unzurechnungsfähigkeit bedinge, können wir nicht bei- 
treten. Sie würde dazu führen, auch Heterosexuelle für 
Handlungen, die aus dem Geschlechtstrieb entspringen, als 
unverantwortlich zu betrachten. Zur Straflosigkeit sollte 
viel eher die Erwägung drängen, dass der Homosexuelle 
gar keine widernatürliche Unzucht begeht, und dass 
der Gesetzgeber die konträre Sexualempfindung gar nicht 
kannte und deshalb auch gar nicht treffen wollte. Eine 
solche Auslegung lassen aber die Juristen nicht zu; da- 
her ist nur Eins am Platze: Aufhebung des § 175. 

8) Schölt*: „Zur Frage der konträren Sexual- 
empfindungen* in der „Neuen Gesundheitswarte 11 
Nr. 9 und 10 (1. und 15. August 1899) giebt ungefähr 
den vor etwa 30 Jahren landläufigen Standpunkt wieder. 

Homosexualität sei fast stets gleichbedeutend mit 
Laster, Folgen des Weibermangels oder der Onanie, nur 
selten angeborene Anlage und dann nichts als Degeneration. 

Der letzten Kategorie wegen dürfe man die Strafe 
nicht aufheben, bei vorhandener Unzurechnungsfähigkeit 
trete ja Straflosigkeit ein. 



— 861 — 

Der eigentliche Grund für die Begehung homosexueller 
Handlungen sei 'Willenschwäche. Erzeugung von Willens- 
stärke sei das beste Vorbeugungs- und Heilmittel. 

Man müsse fortfahren, homosexuelle Handlungen als 
entehrend zu betrachten. 

Die in dem Aufsatz niedergelegte, von keiner tieferen 
Kenntnis der Wirklichkeit getrübte Auffassung bedarf 
keiner Widerlegung. Der Geist und Ton des Artikels 
charakterisiert sich am besten dadurch, dass der Ver- 
fasser einmal sogar von der homosexuellen Schw 

spricht 

9) Dr.vonSchrenk-Notzing: .Beiträge zur foren- 
sischen Beurteilung von Sittlichkeitsvergehen 
mit besonderer Berücksichtigung der Patho- 
genese psychosexueller Anomalien" in den Heften 
1 und 2 des „Archivs für Kriminalanthropologie* von 
Gross, Bd. L 

In Kapitel I bespricht der bekannte Münchner Arzt 
und Verfasser der „Suggestionstherapie bei krankhaften 
Erscheinungen des Geschlechtssinnes mit besonderer Be- 
rücksichtigung der konträren Sexualempfindung" die straf- 
rechtliche Beurteilung sexueller Delikte. Von der Petition 
ausgehend bekämpft er die Auffassung derselben über 
die Entstehung der konträren Sexualempfindung aus der 
Embryonalanlage. 

Die Reformbedürftigkeit des § 175 erkennt er jedoch 
aus andern Gründen an. 

Im Gegensatz zu Cramer und Hoche fasst Schrenk- 
Notzing die konträre Sexualempfindung als eine meist 
krankhafte Erscheinung auf. 

Das Missverhältnis zwischen Bestrafung, zwischen 
herbeigeführter Schande und Familienunglück einer- und 
der That andererseits, die Schwierigkeiten in der Hand- 
habung des § 175, die widerspruchsvolle Rechtsprechung 
werden als Gründe für die Abänderung des Gesetzes 



— 362 — 



angeführt. Freisprechung habe allerdings jetzt schon auf 
Grund § LI des St.-G.-B.. manchmal einzutreten, bei einer 
zur Aufhebung der Willensfreiheit führenden Heftigkeit 
des Triebes, regelmässig sei aber nur verminderte Zu- 
rechnungsfähigkeit anzunehmen. 

Im Kapitel II folgen Ausführungen über die Patho- 
genese perverser Richtung des Geschlechtstriebes. Die 
bekannte Theorie Schrenk-Notzing's über die Entstehung 
der konträren Sexualempfindung wird entwickelt 

Konträre Sexualempfindung sei stets blos erworben. 
Angeboren sei öfters bei erblich Belasteten nur eine 
psycho- und neuropathische Disposition; pathogene, occa- 
sionelle Einflüsse führten bei solchen Personen leicht zu 
krankhaften Trieben. Die erste geschlechtliche Erregung 
werde zufällig unter lustbetonenden Sinneseindrücken in 
Verbindung mit einem Mann gebracht. Die Ideenver- 
knüpfung wurzele sich ein und bringe konträre Sexual- 
empfindung hervor, ebenso wie im Falle anderartig sich 
aufdrängender Ideenassociation Sadismus, Fetischismus etc. 
entstehen könne. Affekte, gesteigerte Vorstellungsthätig- 
keit, lebhafte Organempfindungen u. s. w., ferner Eigen- 
tümlichkeiten des Charakters, ein ungünstiges Milieu, 
Lektüre, Spiel u. s. w. begünstigten solche ungewohnten 
Ideenverknüpfungen. 

Die Auffassung Krafft-Ebings und Moll's von dem 
Angeborensein der konträren Sexualempfindung sei nicht 
etwas undenkbares, aber solange nicht zu teilen, als 
eine Erklärung durch den Einfluss occasioneller Momente 
und des Milieus hinreiche. 

Die Schlüsse dieser Autoren ans dem frühzeitigen 
Erwachen sexueller Dränge auf das Angeborensein seien 
ungerechtfertigt, da eine quantitative Störung, die auch 
bei Heterosexuellen vorkomme, für die qualitative nichts 
beweise. 

Sodann bringt Schrenk-Notzing 6 Geschichten von 



— 363 — 



Patienten, wovon 3 Homosexuelle betreffend, die mit dem 
Strafgesetzbuch in Konflikt gerieten; die bei Gericht er- 
statteten Gutachten und der gerichtliche Verlauf der Sache 
werden mitgeteilt In einem Nachtrag empfiehlt Schrenk-? 
Notzing die Errichtung besonderer Detentionsanstalten 
für vermindert Zurechnungsfähige. 

Die Theorie von Schrenk-Notzing über die Entstehung 
der konträren Sexualempfindung können wir nicht billigen. 
Wenn der Trieb zum Manne nicht angeboren ist, so ist 
nicht einzusehen, warum der Trieb zum Weibe es sein 
sollte. Ebenso gut kann man annehmen, dass der Trieb 
zum Weib entsteht, wenn bei der ersten geschlechtlichen 
Erregung das Weib zufällig in Verbindung mit dem 
Wollustgeftihl gebracht wird. Dass in der Kegel der 
Trieb sich auf das Weib richtet, würde sich daraus er- 
klären, dass Alles: Moral, Sitte, allgemeine Anschauung, 
Umgebung, Beispiel auf das Weib hinweist und nur das 
Weib als Gegenstand geschlechtlichen Sehnens aufdrängt. 

Solange man diese Konsequenz nicht zieht, hat man 
auch kein Recht auf solche Erwerbungsart die Homo- 
sexualität zurückzuführen. 

Der Einwand, bei Annahme des Angeborenseins der 
Homosexualität müsse dasselbe auch bezüglich der übrigen 
sexuellen Anomalien mit gleichem Rechte gelten, wider- 
legt sich dadurch, dass Homosexualität und Hetero- 
sexualität bei der beiden, gemeinsamen bisexuellen Em- 
bryonalanlage gleich zu behandeln sind, nicht aber 
Homosexualität und sonstige von der Homosexualität wie 
von der Heterosexualität gleich verschiedene Anomalien, 
wesshalb aus der Entstehung und Natur der Homo- 
sexualität nicht ohne Weiteres Schlüsse auf die sonstigen 
Anomalien zu ziehen sind. 

10; Schrenk-Notzing:: „Zur suggestiven Behand- 
lung der konträren Geschlechtsempfindung 11 im 
Zentralblatt für „Nervenheilkunde und Psy- 



— 864 — 



c h i at r i e" von Sommer und Kurella, Mai- und Juliheft 1899, 
Nr. 112 und 114. Schrenk- Notzing entwickelt abermals 
seinen Standpunkt über die Entstehung der konträren 
Sexualempfindung im Anschluss an eine Polemik gegen 
Bechterew. Letzterer hatte geäussert, dass ihm zum 
ersten Male die Heilung der konträren Sexualempfindung 
durch Hypnose gelungen sei. Hierauf Antwort von 
Schrenk-Notzing, dass Heilungen Konträrer längst be- 
kannt seien. Auf Erwiderung von Bechterew replizierte 
Schrenk-Notzing noch einmal. Die Polemik geht darauf 
hinaus und interessiert hier nur insoweit, dass, während 
Bechterew eine angeborene Homosexualität anerkennt und 
bei degenerativer Form, die ererbt sei, die Möglichkeit 
einer wirklichen Heilung leugnet, Schrenk-Notzing be- 
streitet, dass der Nachweis für das Ererbtsein der kon- 
trären Sexualempfindung erbracht sei, die angeborenen 
Fälle für erworbene erklärt und eine Möglichkeit der 
Heilung auch eingewurzelter und schwerer Fälle für 
nicht prinzipiell ausgeschlossen hält. 

11) Dr. Wollenberg; „Ueber die Grenzen der 
strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit bei psy- 
chischen Krankheitszuständen". Vortrag, gehalten 
auf der Jahresversammlung des Vereins der deutschen 
Irrenärzte in Halle a. d. S. ,am 21. und 22. April 1899. 
Der Inhalt des Vortrages ist im „Neurologischen 
Zentralblatt" von Mendel 1. Mai 1899 Nr. 9 mitgeteilt 

Echte Homosexualität sei stets das Zeichen einer 
krankhaften Veranlagung, die sich auch in andern Ano- 
malien, namentlich in Degenerationszeichen ausdrücke, sie 
verdiene daher in forensischer Beziehung eine mildere 
Beurteilung. Die Anzahl der echten Homosexuellen 
werde sehr überschätzt, die Perversität trete oft bei Nor* 
malen unter dem Einfluss bestimmter Verhältnisse in 
Alumnaten, Gefängnissen etc. ein, meist sei sie jedoch das 
HnrWndukt eines lasterhaften Geschlechtslebens. 



— 365 — 



Mit letzterem Satz tischt Wollenberg das Märchen 
von dem vorangegangenen Wüstlingsleben als Ursache 
der Homosexualität wieder auf, von welchem schon vor 
Jahren Moll in seiner , konträren Sexualempfindung" ge- 
sagt hat, es fände in sachverständigen Kreisen keinen 
Glauben mehr. 

§ 2: Schriften der Nicht-Mediziner. 
(Juristen, Ethiker, Philosophen etc.) 

1) Anonym: ist auf juristischem Gebiet in dem rührigen 
Verlag von Max Spohr die Schrift eines höheren 
Richters: „Eros und das Reichsgericht" (86 S.) 
erschienen. 

Zu Anfang wird ausgeführt, dass der Urning, der 
durch gegenseitige Onanie oder coitus inter femora sich 
befriedige, als normaler Urning, sog. Erote zu bezeichnen 
sei und dem den normalen coitus mit dem Weib aus- 
übenden Heterosexuellen entspräche. Von diesem nor- 
malen Homo- und Heterosexuellen seien zu unterscheiden, 
der Päderast oder Sodomiter, welcher durch coitus in 
anum oder Onanie per os sich befriedige und ebenso 
häufig unter den Heterosexuellen wie unter den Homo- 
sexuellen vorkäme. Der heterosexuelle Päderast, der 
solche Praktiken mit dem Weibe vornähme, sei nicht 
anders zu beurteilen, wie der homosexuelle Päderast. 

Sodann wird betont, dass die medizinischen Werke 
meist ein falsches Bild des Urnings darböten, da die 
Aerzte nur den kranken, nicht aber den gesunden Homo- 
sexuellen kennten. 

Der gesunde und sittenreine Erote existire ebenso 
gut als der sittenreine Heterosexuelle. 

Vom religiösen Standpunkt aus seien Homo- und 
Heterosexuellen, die ihre Sinnlichkeit befriedigten, gleich 
straffällig. Der Staat dagegen mache einen Unterschied, 



— 366 — 



indem er ungerechtfertigterweise nicht beide Kategorien 
straflos lasse, sondern nur die Homosexuellen bestrafe. 

Im Teil III werden dann die bezüglich § 175 ge- 
fällten neun Entscheidungen des Reichsgerichts mit 
ki irischen Bemerkungen wiedergegeben: Das Widerspruchs- 
volle und Unrichtige in dieser Rechtsprechung wird 
hervorgehoben. 

Coitus inter femora sei strafbar, obwohl die ge- 
schichtliche Entwicklung nur auf Strafbarkeit des coitus 
in anum hindeute. Andererseits sei gegenseitige Onanie 
straflos, obgleich das von der Entscheidung Bd. VI S. 211 
als zum Thatbestand für genügend erachtete Merkmal des 
Reibens des Gliedes am Körper des Andern vorliege. 

Ferner sei Onanie per os als beischlaf ähnliche Hand- 
lung bezeichnet, obschon von einer beischlafähnlichen 
Handlung sicherlich keine Rede sein könne. Endlich 
wird auf den Widerspruch der Entscheidung vom 20. 
IX. 1880 und derjenigen vom 8. I. 1898 hingewiesen, 
wonach die frühere Entscheidung Stossbewegungen mft 
dem entblössten Glied gegen den bekleideten Körper 
des Andern für straflos, die spätere eine derartige 
zweifellos nur einen straflosen Versuch darstellende Hand- 
lung für strafbar erklärt habe. 

Im Schlusskapitel wird dann unter kurzen historischen 
und juristischen Ausführungen bis zur definitiven Auf- 
hebung des § 175 Beschränkung der Bestrafung auf coitus 
in anum und in os verlangt und diesbezügliche Anwei- 
sungen der Ministerien an die Staatsanwälte anempfohlen. 

Die Schrift war notwendig und bringt klar und deut- 
lich das Unhaltbare der Theorie des Reichsgerichts zum 
Bewusstsein. Die scharfe Unterscheidung zwischen Erot 
und Päderast möchten wir jedoch nicht gutheissen. Beim 
Urning lässt sich einmal von einer dem normalen coitus 
entsprechenden Befriedigung nicht reden. Die meisten 
Urninge lieben die aktive oder passive Paedicatio nicht, 



— 307 — 



für Manchen aber bildet sie die ihm adäquate Befrie- 
digungsart. Desshalb sind diese letzteren Urninge aber 
moralisch und juristisch nicht anders zu beurteilen wie 
die ersteren, wenn der Akt in gegenseitiger Einwilligung 
mit Erwachsenen vorgenommen wird. Durch die Be- 
schränkung der Bestrafung auf immissio in anum und in 
os würde nur ein Teil der Urninge straflos bleiben; aber 
auch dieser Teil würde immer noch der Gefahr gericht- 
licher Untersuchung und somit schon der Vernichtung 
der sozialen Existenz ausgesetzt sein, da ja beim ge- 
ringsten Verdacht eines homosexuellen Verkehrs Ver- 
folgung eintritt, damit festgestellt werde, welche Art 
Handlung ausgeübt worden ist. 

Die Gefährlichkeit der Unterscheidung besteht aber 
namentlich darin, dass auf Grund derselben die gesetz- 
gebenden Faktoren dazu gelangen könnten, nicht etwa, 
wie der Verfasser der Schrift es prinzipiell anstrebe 
eine Aufhebung des § 175 zu begehren und nur bis zu 
dessen Aufhebung eine Einschränkung zu machen, sondern 
den § 175 definitiv aufrecht zu erhalten und gerade unter 
Benutzung der gemachten Einschränkung die Aufrecht- 
erhaltung zu rechtfertigen. 

2) Anonym: (in Belgien als Manuskript gedruckte 
kleine Schrift, nur 14 Seiten): «Die homosexuelle 
Frage vom Standpunkt der Humanität und Ge- 
rechtigkeit aus betrachtet", die auch anonym an 
Behörden und Vereine Deutschlands versandt worden ist, 
und ebenfalls Abänderung des deutschen Gesetzes verlangt 

Sie geht vom Hexenwahn aus, der in Zusammenhang 
mit der Homosexualität gebracht wird. Die Verfolgungen 
der Hexen seien zum grössten Teil Verfolgungen Homo- 
sexueller gewesen, welche den »bösen Blick" d. h. den 
urnischen Liebesblick gehabt hätten. Ebenso wie die 
Wissenschaft die Anschauungen über den sog. „bösen 
Blick • beseitigt habe, ebenso müsse der Gesetzgeber seinen 



— 308 — 



Standpunkt, „die Homosexualität sei ein Laster" aufgeben. 
Nur das Erpressertum würde durch das Strafgesetz gegen 
die Urninge gezüchtigt. 

Die Wissenschaft habe bewiesen, dass Homosexualität 
meist angeboren sei. Die Homosexuellen zerfielen in sog. 
Uebermännliche, zu denen viele Helden, Dichter, Staats- 
männer gehört hätten und gehörten, und in Effeminierte, 
deren Charakter und Aeussere an das Weib erinnere. 
Eine Erwerbung der konträren Sexualempfindung sei 
auch möglich; deshalb sei die Jugend zu schützen. Ver- 
fasser schlägt als Altersgrenze 27—30 Jahre vor! Im 
übrigen sei § 175 völlig veraltet und abänderungsdürftig. 
Jede Art geschlechtlicher Befriedigung zwischen erwach- 
senen Männern solle straflos sein, die paedicatio an Jüng- 
lingen an und für sich möge man mit Geldstrafe und im 
Falle von Gesundheitsschädigung mit Gefängnis bestrafen. 

Als Beweis für die Berechtigung und Natürlichkeit 
der Homosexualität werden Ausführungen über die 
glühenden Freundschaften und die urnischen Liebes- 
gefühle berühmter Männer gemacht. 

An dieser Schrift, welche manche gute Bemerkung 
enthält, ist zu bemängeln, dass die Altersgrenze viel zu 
hoch angesetzt wird. Mit 27 Jahren ist ein Mann längst 
völlig geschlechtsreif und im Stande, die Bedeutung des 
Geschlechtsverkehrs zu würdigen. Ein Mann in den 
Zwanzigern braucht doch sicherlich nicht mehr gegen sich 
selbst geschützt zu werden. 

3) Anonym: Laster oder Unglück? oder: Be- 
steht der § 175 des deutschen Reichs-Strafge- 
setzbuches zu Recht? Eine Gewissensfrage an das 
deutsche Volk von einem Freunde der Wahrheit. (Ver- 
lag Spohr, 1899. (115 S.) 

Neun Kapitel. 

Kapitel 1: Angebliche Ursachen der ver- 
kehrten Geschlechtsem p findung. Die Auffassung 



- 369 — 



als ob Maogel an weiblichem Verkehr oder Uebersättigung 
am Weibergenuss die konträre Geschlechtsempfindung 
erzeuge, wird widerlegt, insbesondere auch die Meinung 
als irrig bezeichnet, die. in der Onanie die . Ursache der 
Homosexualität erblicke. 

Die Bedeutung des ersten Geschlechtstraumes für 
die Beurteilung der Natur des Triebes wird betont. 

Kapitel 2: Die verkehrte Geschlechtsempfind- 
ung ist angeboren. Sie habe ihren Grund in der 
hermaphrodistischen Uranlage des Menschen; der Urning 
sei daher kein Verbrecher, sondern ein Unglücklicher; 
sein Trieb gehöre, wie der normale, zu den. edlen 
Trieben, daher nicht gefährlicher für die Gesellschaft 
wie die normale Liebe. Bezugnahme auf Autoren Moll, 
Krafll-Ebing, Hirschfeld u. 8. w. 

Kapitel 3: Einblick in das urnische Seelen- 
leben. Schilderung der Seelenqualen des Urnings in 
Mitten der ihn umgebenden Verständnislosigkeit der Ge- 
sellschaft. Sein Trieb erzeuge eine Anzahl Konflikte, 
einen religiösen, einen moralischen und einen sozialen. 

Kapitel 4: Der religiöse Konflikt. Die antiken 
Religionen mit Ausnahme des Judentums hätten die 
Urningsliebe nicht verdammt Im neuen - Testament 
habe erst Paulus ausdrücklich diese Liebe verurteilt. Er 
habe aber Laster, keine angeborene Naturanlage im Auge 
gehabt. Die Bibel habe die konträre Sexualempfindung 
gar nicht gekannt Eine Stelle scheine für die Be- 
rechtigung der Urningsliebe zu sprechen: die Klagen 
Davids an Jonathan. 

Die grösste Sünde sei nach Jesu die Lieblosigkeit: 
trotzdem habe das Mittelalter die Urningsliebe mit Hass 
und Grausamkeit verfolgt. 

Die Philosophie habe trotz Piatos Verherrlichung 
der Freundesliebe den gleichen Standpunkt wie die Reli- 
gion eingenommen. 

Jahrbuch II. 24 



— 370 — 



Kapitel 5: Der moralische Konflikt Zwei all- 
gemein verbreitete Vorurteile werden bekämpft: Urnings- 
liebe bedeute nicht Päderastie im landläufigen Sinne, <t h. 
Missbrauch von Knaben und Verführung Unerwachsener. 
Päderastie in diesem Sinne sei ebenso selten als der 
Missbrauch kleiner Mädchen seitens Normaler. Ebenso 
bestehe die Befriedigung der meisten Urninge nicht in 
der Fädikation, sondern in der Umarmung von Angesicht 
zu Angesicht Die Pädikation komme 'beim Normalen 
am Weibe verübt, häufiger vor als beim Urning. 

Gemüts» und Gefühlsleben seien bei vielen Urningen 
edler als bei Normalen. Der urnische Liebesakt sei 
nicht unsittlicher als der normale; der Urning nicht un- 
sittlicher als der Normale. 

Kapitel 6: Der soziale Konflikt. Die Unge- 
rechtigkeit und Unhaltbarkeit des die Urningsliebe be- 
treffenden Gesetzes wird nachgewiesen. Wirkliche Ver- 
letzung von Naturgesetzen, wie z. B. Trunksucht bleibe 
straflos, während eine Naturanlage bestraft werde. Das 
Volksbewusstsein sei nicht massgebend; übrigens sei 
Vielen aus dem Volk eine Bestrafung von Handlungen 
Erwachsener in gegenseitigem Einverständnis unbegreif- 
lich. Rechte Dritter würden nicht verletzt, dagegen das 
Erpressertum gezüchtet 

Kapitel 7: Befürchtungen und Hoffnungen. 
Die Befürchtungen, die man aus der Aufhebung der 
Strafen hege, seien unbegründet. Gesundheitsschädigung 
des Urnings nicht Folge der Bethätigung seines Triebes, 
sondern der aus seiner jetzigen Lage entstehenden Nerven- 
zerrüttung. 

Keine Erniedrigung der Manneswürde des Geliebten 
durch den urnischen Geschlechtsverkehr, jedenfalls sei 
die Würde des Mannes nicht schutzbedürftiger als die 
des Weibes. Keine Gefährdung des Familienbestandes 
oder des Staatswohles. Bezugnahme auf Griechenland 



— 371 — 



und Rom. Umgekehrt, Familie gefährdet durch die 
skandalösen Prozesse. Der Urning sei auch nicht für 
die Heirat bestimmt. Die Freigabe der Urningsliebe 
werde eine Beruhigung für das Familienleben, eine Förde- 
rung für die Kunst und eine fruchtbare, edle Entwick- 
lung der urnischen Zuneigung bedeuten. 

Kapitel 8: Historische Umschau. Erwähnung 
einer Anzahl historischer Urninge, zum Beweis der Natür- 
lichkeit und Berechtigung der Urningsliebe: Phidias, 
Plato, Sokrates u.s. w., Hafis; einige Päpste, Michelangelo, 
englische Könige, Winkelmann, Johannes von Müller, 
Iffland, Grillparzer. 

Kapitel 9: Ergebnisse und Folgerungen. — 
Die Petition. Der Urning folge nicht seinem Willen, 
sondern einer Naturmacht. Der Gesetzgeber müsse be- 
achten, was die Wissenschaft festgestellt habe: Die Frei- 
gabe der Urningsliebe ein Gebot der Gerechtigkeit. 

Die Petition nebst den Unterschriften, sowie die 
Reichstagsverhandlungen sind am Schlüsse abgedruckt 

Die klar und im guten Sinne des Wortes populär ge- 
schriebene und trotzdem gründliche und ernsthaft gehaltene 
Schrift bringt zwar nichts Neues für den Kenner der 
Homosexualität, dürfte aber gerade ihrem Zweck ent- 
sprechend sehr gut geeignet sein, weiteren Kreisen die 
Frage der Urningsliebe näher zu bringen, die Ungerechtig- 
keit des Strafgesetzes darzuthun und überhaupt im ge- 
bildeten Mittelstand aufklärend zu wirken. 

4) Anonym: „Wide riegung der Gegenpetition 
zwecks Aufrechterhaltung des § 175 Str.-G.-B. 
Ende des Jahres 1898 war von den Sittlichkeitsvereinen 
gegen die Petition betreffend Beseitigung des § 175 eine 
Gegenpetition zwecks Aufrechterhaltung dieses Paragraphen 
dem Reichstag eingereicht worden. Unter den Unter- 
zeichnern — an Zahl ungefähr denjenigen der Petition 
gleich — befinden sich nur wenig bekannte Namen — 

SM* 



— 372 — 



im Gegensatz zur Petition — , sie setzen sich zusammen 
hauptsächlich aus Geistlichen und Handwerkern — auch 
ein Gymnasiast hat unterschrieben ! — Diesen kompetenten 
Beurteilern entsprechen auch die von ihnen angeführten, 
auf der bisherigen Unkenntnis basierenden Gründe, welche 
nur die herrschenden Vorurteile in der Frage der Homosexua- 
lität wiedergeben. Gegen diese Gegenpetition ist nun im 
Jahre 1899 wieder eine eingehende, treffende, der Gegen- 
petition durch ihre Ausführlichkeit eigentlich allzu viel 
Ehre erweisende Widerlegung erschienen, welche Satz 
für Satz die Unhaltbarkeit der Aufstellungen der Gegner 
nachzuweisen sucht. 

Im Namen der Sittlichkeit dürfe man nicht die Be- 
strafung der Homosexualität verlangen: eine absolute 
Sittlichkeit gäbe es nicht; die Bethätigung des einge- 
pflanzten homosexuellen Triebes sei für den Urning nicht 
unsittlich. Das Wohl des Volkes könnten die Gegen- 
petenten nicht bezwecken, da Tausende aus dem Volk 
— die Urninge — durch § 175 schwer litten. Verführ- 
ung Homosexueller sei nicht zu befürchten, jedenfalls 
ginge der Verkehr Erwachsener in gegenseitiger Ein- 
willigung den Staat nichts an. Die Meinung, es handle 
sich bei den Homosexuellen um Lüstlinge, die aus Ueber- 
sättigung am weiblichem Verkehr unreife Knaben ver- 
führten, sei längst von der Wissenschaft widerlegt und 
völlig irrig. Auch das Volksbewusstsein empfinde die 
Befriedigung des Urnings nicht als strafbare Handlung. 
Die Homosexualität: kein Zeichen des sittlichen Verfalls 
eines Volkes: Hinweis auf die grossen weltberühmten ur- 
nischen Genies. Aus der Natürlichkeit des homosexuellen 
Triebes folge die Berechtigung zu seiner Befriedigung. 
Mit diesem Triebe verfolge die Natur vielleicht spezielle 
Zwecke, z. B. um dem Urning die Möglichkeit zu gewähren, 
frei von Rücksichten auf Familie und Nachkommen 
Leiter und Führer des Volkes zu werden. Die Folgen 



— 378 — 



des § 175, Verzweiflung, Selbstmord, Irrsinn, seien Grund 
genug für die Aufhebung des Paragraphen, da die Straf- 
androhung ungerecht und unverschuldet. § 175 sei auch 
eine besonders sozial schädliche Quelle des Erpressertums. 

§ 51 kein genügender Schutz für den Urning, da 
die Homosexualität keine Geisteskrankheit darstelle, jeden- 
falls sei das Irrenhaus ebensowenige als das Gefängnis 
der Platz des Homosexuellen. 

Keine Verletzung von Rechten Dritter. 

Die Unfruchtbarkeit des Verkehrs kein Strafgrund, 
sonst miissten hunderte anderweitiger Akte strafbar sein. 

Die Behauptung der Gesundheitsschädlichkeit des 
gleichgeschlechtlichen Verkehrs sei längst widerlegt, 
schädlich dagegen der erzwungene Verkehr mit dem Weib. 

Skandalöse Untersuchungen hätten keine Hebung der 
Sittlichkeit zur Folge; die Seltenheit der Anzeige und 
Bestrafung der zahlreich vorkommenden homosexuellen 
Akte trügen nicht zur Vermehrung der staatlichen Autorität 
bei. Nach den bei Gesetzen der Vererbung zu befürchten, 
das? Homosexuelle wieder Homosexuelle zeugten, daher 
Verbot des Verkehrs mit dem Weib für den Urning 
eher angezeigt, als der von den Gegenpetenten erstrebte 
Zwang zu diesem Verkehr. Bei der von den Gegen- 
petenten den Urningen in christlicher (?) Weise gestellten 
Alternative, ihrem Triebe zu entsagen oder auszuwandern, 
fraglich, ob nicht der Staat in Folge Auswanderung 
mancher bedeutender Männer mehr verliere als er durch 
Aufrechterhaltung des § 175 gewinne. Dieser Paragraph 
Schuld, dass nur wenige Urninge sich dem Arzt anzu- 
vertrauen wagten. Das Christentum habe nur das Laster 
verurteilt, die Homosexualität aber gar nicht gekannt; 
seinem Geist widerspräche die Bestrafung der natürlichen 
homosexuellen Liebe. Der Kampf zu Gunsten der Urninge 
keine Propaganda für die Homosexualität, sondern Wahrung 



— 374 — 



der Rechte einer bisher verkannten und ungerecht ver- 
folgten Menschenklasse. 

5) Anonym. Soll der § 1 75 des B. Str.-G.-B. be- 
stehen bleiben? (Leipzig: Druck von Freter 1899.) 
Eine kleine in etwas erregtem Tone geschriebene Bro- 
schüre (nur 15 Seiten) mit geistreichelnden Ausfällen, die 
zur Begründung der angeregten Gedanken nicht aus- 
reichen. 

Die Ursache der Verdammung der Urningsliebe sei 
nicht im Christentum als solchen, sondern in dem ent- 
arteten Christentum der römischen Kirche zu suchen. 

Die römische Kirche habe die Männer und durch 
die Männer die Welt beherrschen wollen und zu diesem 
Zweck das Weib als Mittel auserkoren. Daher der 
Frauenkultus uud die Unterjochung des Mannes durch 
die Frau im Mittelalter und der Neuzeit. 

Während heute die Männer sich gegenseitig nur mit 
Hass und Neid begegneten, herrsche ein Dirnen- und 
Maitressenwesen der schlimmsten Sorte, welches die 
Kultur vergifte. 

Bei den Griechen habe die Männerliebe die höchste 
ethische und ästhetische Kultur ermöglicht 

Man beseitige § 175, gebe die Frau der Familie und 
dem Mann zurück, entreisse ihr die erworbene schädliche 
Machtstellung, und der nationale Körper würde gesunden. 

G) Asmus, Martha, veröffentlicht in der Zeitschrift 
„Magazin für Literatur des In- und Auslandes 14 
vom 2. Dezember 1899 einen kurzen Aufsatz Unter dem 
Titel: „Homosexuell 4 *. Verfasserin billigt durchaus 
die Bestrebungen zwecks Aufhebung § 175, sie bemängelt 
aber die von Hirschfeld in seiner „objektiven Diagnose 
der Homosexualität 44 im I. Jahrbuch aufgestellten Merk- 
male zwischen Mann und Weib. 

Nur die 3 Klassen physischer Merkmale bildeten 
prinzipielle Geschlechtsunterschiede, dagegen nicht die 



— 375 - 



geistigen Merkmale. Entwickeltere Verstandsthätigkeit 
finde sich ebenso gut beim Weibe wie gemütvollere und 
gefühlvollere Anlagen beim Manne. 

Auch die Liebe zum eigenen Gesohlecht dürfe nicht 
als Geschlechtsmerkmal aufgefasst werden, denn viele 
jungen Mädchen z. B. würden mehr oder weniger vorüber- 
gehend bei Mangel an normalem Geschlechtsverkehr oder 
bei besonderer Anziehungskraft gewisser Frauen sich zum 
eigenen Geschlecht hingezogen fühlen und mit Frauen 
auch geschlechtlich verkehren, ohne homosexuell zu sein. 

Diese Einwände scheinen uns nicht gerechtfertigt. 
Die Verschiedenheit des Geistes und des Gemüts, auf 
alle Fälle aber die geschlechtliche Anziehung durch das 
entgegengesetzte Geschlecht stellt zweifellos im Durch- 
schnitt — und gerade nur vom Durchschnitt will ja 
Hirschfeld sprechen — Unterscheidungsmerkmal der beiden 
Geschlechter dar, womit Ausnahmen und sogar zahl- 
reiche Ausnahmen nicht ausgeschlossen sind. 

7) Dr. Fuld, Ludwig, Rechtsanwalt zu Mainz erörtert 
in einem für den 1900 stattfindenden internationalen 
Gefängniskongress zu Brüssel bestimmten — wohl nur 
als Manuskript gedruckten — Vorbericht die Frage: 
„Welche Mittel zur Repression der Erpressung 
anzuempfehlen wären und ob ein spezielles 
Prozessverfahren bei Verfolgung dieses Deliktes 
angezeigt erscheint. 11 Fuld sieht in dem Bestehen 
des § 175 eine Hauptquelle des Erpressertums und in 
seiner Aufhebung ein wirksames Mittel zur Vermeidung 
der Chantage. Er führt das Beispiel eines homosexuellen 
Bankkassierers an, der vor einigen Jahren in Frankfurt 
240000 Mark aus der Kasse der Bank entwendete, um 
seine Erpresser zu befriedigen. Fuld hebt mit Recht 
hervor, dass sich ein regelrechter Erwerbszweig und Er- 
presserbanden gebildet haben, um die Homosexuellen 
auszubeuten. Er schlägt spezielle polizeiliche Ueber- 



— 376 — 

wachung der als Erpresser berüchtigten Personen vor, 
sowie Veröffentlichung ihres Namens und Standes. 

Die Behauptungen Fulds beruhen auf -Wahrheit. In 
Deutschland bestehen Erpresser- und männliche Prosti- 
tuiertenbanden namentlich in Berlin, Köln, Frankfurt, 
München. Viele wechseln öfters zwischen diesen Städten 
ab; im Sommer ist Wiesbaden und während der Renn- 
woche Baden-Baden von ihnen besucht. 

Uebrigens giebt es solche Erpresser der Homosexu- 
ellen auch in Frankreich und Belgien, obgleich sie dort, 
dank der günstigeren Gesetzgebung weniger gefährlich 
sind. Nichtsdestoweniger erzählte ein Genosse eines 
solchen Erpressers dem Verfasser, (Numa Praetorius) dass 
•sein Bekannter 8000 Frcs. während der Ostender Saison 
-„gemacht" habe! 

8) Gaulke, Johannes, (zu Berlin). „Das homo- 
sexuelle Problem" in dem „Magazin für Litera- 
tur des In- und Auslandes* vom 14. Oktober 1899. 

Gaulke berichtet über das I. Jahrbuch, giebt kurz 
dessen Inhalt wieder, und bespricht besonders Hirschfelds 
Aufsatz und denjenigen von Frey über Platen. Gaulke 
bezeichnet es als eine Kulturaufgabe jedes Deutschen an 
der Beseitigung des § 175 mitzuwirken. 

9) Gerling, Rein h.: Die verkehrte Grfcschlechts- 
empfindung und das dritte Geschlecht. (Berlin: 
Verlag Wilhelm Möller, 1900.) 53 S. 

Zunächst wird die Wichtigkeit und Notwendigkeit 
einer allgemeineren Kenntnis der Homosexualität hervor- 
gehoben namentb'ch im Hinblick auf die Gefahr der Ver- 
erbung. Viele Homosexuelle heirateten in völliger Un- 
klarheit über ihre Natur, die spätere Entdeckung ihrer 
Homosexualität habe oft namenloses Unglück zur Folge. 
Die Homosexualität sei kein Verbrechen, sondern ein 
— vielleicht nur scheinbarer — Missgriff der Natur. 

Sodann werden die Auffassungen, welche die Ursache 



— 377 — 



der Homosexualität in dem Ueberdruss an weiblichem 
Verkehr öder im Mangel an solchem erblicken, zurück- 
gewiesen, ebenso aber auch diejenige, welche die 
Homosexualität auf Degeneration zurückführen, oder 
welche sie als eine Erscheinung der Neurasthenie deuten. 
Viele Urninge seien allerdings neurasthenisch, aber die 
Neurasthenie sei nicht Ursache, sondern Folge der durch 
die Seelenkämpfe und die qualvolle Lage der Urninge 
hervorgerufenen Nervenerschütterungen (Hinweis auf 
Hirschfelds Schrift: „Sappho und Sokrates"). 

Kraflt-Ebings Einteilung der Homosexuellen in die 
vier Klassen: in Psychische Hermaphroditen, eigentliche 
Homosexuelle, Effeminierte, Androgyne wird für richtig 
gehalten; diese Einteilung beweise aber gerade, dass es 
sich nicht um Neurasthenie handele, sondern um Abarten, 
um Zwischenstufen zwischen Mann und Frau. 

Dass Homosexualität mit der Degeneration nichts 
gemein habe, werde durch die Geschichte und die zahl- 
reich geistig bedeutenden Urninge bewiesen : Eine grosse 
Anzahl historischer Urninge werden angeführt aus dem 
Altertum, dem Mittelalter und der Neuzeit. Gerling 
rechnet zu den Homosexuellen insbesondere auch 
Kobespierre, Byron, Beethoven, Wagner (psychischer Herma- 
phrodit) und Nietzsche; gar manches, was er über diese 
Männer berichtet, legt die Vermutung ihres homosexuellen 
Empfindens nahe. 

Die Theorie Schopenhauers und Hartmanns, wonach 
die Natur durch die Homosexualität die Erzeugung un- 
tauglicher oder allzu zahlreicher Nachkommen zu ver- 
hindern bezwecke, hält Gerling für unrichtig ; wahrschein- 
licher sei die Annahme, dass die Natur die Urninge 
nicht zur Fortpflanzung bestimmt habe, weil sie von ihnen, 
denen sie meist geistige Fähigkeiten über den Durch- 
schnitt verliehen habe, die Schaffung „höherer Werte* 
erwarte. 



— 378 — 



Es folgen Erörterungen über die verschiedenen ge- 
schlechtlichen Anomalien des Fetischismus, Sadismu susw., 
welche alle krankhaft, teilweise vielleicht verbrecherisch 
seien im Gegensatz zur Homosexualität, und die ebenso 
gut bei der Heterosexualität wie bei der Homosexualität 
vorkämen. 

Nach Erwähnung der weiblichen Homosexualität be- 
spricht Gerling die Entstehung der konträren Sexual- 
empfindung: Bei dem bedeutsamen Einfluss des Seelen- 
lebens auf die körperlichen Funktionen könne wohl der 
sehnliche Wunsch der Mutter während der Schwanger- 
schaft z. B. nach einem Mädchen dem Fötus die 
psychischen weiblichen Eigenschaften und so auch das 
geschlechtliche Fühlen des Weibes aufdrücken, selbst 
wenn der Embryo sich physisch zum männlichen Ge- 
schlecht ausbilde. 

Die Homosexualität sei höchstens durch frühzeitige 
Erziehung zu bekämpfen, nicht aber durch ein ganz und 
gar ungerechtfertigtes und ungerechtes Gesetz. 

Hypnose könne wohl nützen und den Trieb mildern, 
dauerhafte wirkliche Heilungen seien aber zu bezweifeln. 

Die Lage der Urninge sei heutzutage dank der 
herrschenden Unkenntnis und der Vorurteile eine meist 
sehr unglückliche : Aufklärung sei daher dringend geboten. 

Die Broschüre Gerlings, welche keine wissenschaft- 
liche Abhandlung, sondern eine für weitere mit der 
Frage der Homosexualität nicht vertraute Kreise be- 
stimmte, aufklärende Schrift sein will, eignet sich gut 
zu diesem Zweck durch ihre klare Darstellung sowie 
namentlich durch die geschickte Verwendung der Notizen 
über historische Urninge, sowie die das Gefühlsleben der 
Homosexuelle veranschaulichenden poetischen Fragmente. 

Dass die Lichtseiten des Homosexuellen im All- 
gemeinen in der Schrift ein wenig allzu sehr betont 
werden, schadet nichts. 



— 379 — 



10) Gross, Hans (früher Richter zu Graz, jetzt Pro- 
fessor in Czernowitz,) macht in dem 2. Heft seines Archivs 
für Kriminalanthropologie. Bd. II, gelegentlich der 
Besprechung der 3. Auflage der „konträren Sexuakmpfind- 
ung" von Moll einige teilweise eigenartige Bemerkungen 
über die Beurteilung der Homosexualität 

Er führt als einen für die Straflosigkeit homosexu- 
eller Handlungen maasgebenden Hauptgrund an : die sehr 
häufige Begehung solcher Akte und die trotzdem nur 
selten erfolgende Entdeckung und Bestrafung. 

Sodann betont er, dass noch nicht festgestellt sei, ob 
der Geschlechtstrieb im jugendlichen Alter nicht über- 
haupt unbestimmt sei und erst durch Kultureinflüsse, 
Umgebung, Charakterentwickelung usw. eine bestimmte 
Sichtung erhalte. Träfe dies aber zu, so sei derjenige, 
welcher homosexuell werde, verantwortlich und strafbar. 

Demgegenüber ist zu erwidern einmal, dass zweifel- 
los schon feststeht, dass ein Teil der Homosexuellen von 
Jugend auf (sei es nun, dass der Trieb angeboren oder 
in früher Kindheit erworben ist, was für dessen Be- 
urteilung sich gleich bleibt) mit konträrer Sexualempfind- 
ung behaftet ist, zweitens, dass der, dessen Trieb in der 
Pubertätszeit indifferent sich in der Richtung der Homo- 
sexualität entwickelte, für Handlungen, die aus diesen 
Trieb fliessen, nicht verantwortlicher ist, als der Hetero- 
sexuelle für seine Triebrichtung, drittens dass die Frage 
der Straflosigkeit der Homosexualität sich noch nach 
andern Momenten als dem in der Psyche des Urnings 
liegenden beurteilt. 

Allerdings will Gross gerade den häufig für die 
Straflosigkeit angeführten Grund „irgend ein Schaden 
werde nicht angerichtet* 1 nicht gelten lassen, weil sonst 
auch andere Thäter, z. B. der, welcher mit einem völlig 
verdorbenen, aber noch nicht 14 Jahre alten Mädchen ge- 
schlechtlich verkehrt habe, Straflosigkeit verlangen könnte. 



— 380 — 



Diese letztere Schlussfolgerung von Gross ist un- 
richtig; denn während der Schutz der Jugend die Auf- 
stellung einer festen Altersgrenze erheischt, wobei einzelne 
nicht schutzbedürftige Ausnahmefälle nicht berücksigtigt 
werden können, besteht weder ein Bedürfniss, die Homo- 
sexuellen gegen sich selbst zu schützen noch überhaupt 
irgend ein vernünftiger Grund, sie zu strafen. 

11) Gross: erwähnt in der Bibliographie des 4. Heftes, 
Band II. seiner Zeitschrift für Kriminalanthropo- 
logie das Jahrbuch, aber mit sehr geringer Sympathie. 

Bei einem sonst so ruhig denkenden, geistvollen 
Forscher wie dem Verfasser des „Lehrbuchs des Unter- 
suchungsrichters u wundert man sich doppelt, eine so 
wenig objektive Beurteilung und fast feindselige Stellung- 
nahme gegenüber dem Jahrbuch zu finden. 

Gross bemerkt: „Es mag ja sein, dass man einst zu 
dieser Auffassung der Sache (d. h. Straflosigkeit des 
gleichgeschlechtlichen Verkehrs) kommen wird, da werden 
aber eingehende, medizinische, strafpolitische, juristische 
und psychologische Studien und Erwägungen maasgebend 
sein. Das fortwährende Gequicke dieser Leute, man solle 
sie in ihrem widrigen Treiben ungestraft lassen, das wird 
uns nicht beeinflussen/ Gerade das Jahrbuch bezweckt 
ja, dos Studium der Homosexualität zu fördern und schon 
das erste hat auch thatsächlich die Homosexualität auf 
den verschiedensten Gebieten ins Auge gefasst. 

Gross fährt allerdings fort: «Das Jahrbuch brächte 
wenig Neues". Das was es aber Neues bringt, verschweigt 
er. Die zweifellos neue Anregungen enthaltende „objektive 
Diagnose" und den juristischen Aufsatz mit der Zu- 
sammenstellung der Strafgesetze und aller bisher mass- 
gebenden strafpolitischen Erwägungen führt er lediglich 
an, dagegen bezeichnet er die Arbeiten von Frey »als 
sattsam bekannte Geschichten aus dem Leben des zum 
Ueberdruss zitierten Graf Platen und Winckelmann". 



— 381 — 



Dieser Ausspruch ist zweifellos unrichtig; denn der I. Band 
von Platens Tagebuch ist erst kürzlich (im Jahr 1898) 
vollständig erschienen und Freys Aufsatz ist der erste, 
welcher ohne die üblichen Vertuschungen und mehr oder 
weniger absichtlichen Verdunkelungen der Thatsachen 
eine psychologische Analyse der Liebesgefühle Platens 
und eine unverfälschte Inhaltsangabe der homosexuellen 
Stellen des Tagebuchs gebracht hat Gerade Tagebücher, 
wie die Platens, bilden die wertvollsten psychologischen 
Studien. 

12) Günther, Reinhold: Kulturgeschichte der 
Liebe (Verlag Carl Düncker, Berlin 1900): Dieses 
populär geschriebene Buch von geringem wissenschaft- 
lichem Wert, welches eine Kulturgeschichte der Liebe 
sein will, übergeht trotzdem einfach die Homosexualität. 
Nur in einer Anmerkung S. 8 wird erwähnt, dass „der 
Befriedigung pervers-sexueller Genüsse in den Gross- 
städten eine männliche Prostitution zur Verfügung steht* 
und dass „diese Päderasten eine grössere Gefahr als die 
Freudenmädchen bilden". 

S. 70 wird in einer Anmerkung der Sapphismus be- 
rührt, geschichtliche und litterarische Notizen werden an- 
geführt mit der Behauptung, der gleichgeschlechtliche 
Verkehr zwischen Weibern sei häufiger als derjenige 
zwischen Männern. 

Endlich werden gegen Schluss des Buches (S. 317 flgd.) 
längere Ausführungen des englischen Schriftstellers Lecky 
über die griechischen Zustände mit den üblichen — von 
Günther allerdings nicht gebilligten — Entrüstungs- 
ausbrüchen über die griechische mannmännliche Liebe 
wiedergegeben. 

13) Jentsch, Karl, hat einen in der Zeitschrift von 
Bahr „Die Zeit" veröffentlichten Artikel über „Sexual- 
ethik, Sexualjustiz und Sexualpolizei" in er- 
weiterter Form als selbständige Broschüre herausgegeben; 



— 382 — 



in einem Anhang behandelt er nunmehr auch: „Die 
homosexuelle Leidenschaft 11 . (S. 74—95) (Verlag 
„Die Zeit" Wien 1900). 

Der Erklärungsversuch Schopenhauers befriedigt 
Jentsch nicht; derselbe sei nur teilweise richtig: Bei 
Schwächlingen, Greisen und insbesondere Jünglingen werde 
der Trieb zwar öfter auf das eigene Geschlecht abgelenkt, 
aber nicht in Folge eines Naturzwecks, sondern in Folge 
besonderer Umstände. Ursache seien : Unmöglichkeit 
natürlicher Befriedigung, Begierde nach Abwechslung und 
bei Jünglingen Irreleitung des Triebes, indem zärtliche 
Freundschafben bei erwachendem Trieb und Unkenntnis 
des Sexuallebens zu gleichgeschlechtlichen Handlungen 
führten. 

Die Homosexualität sei aber auch bei Musterbildern 
völliger Männlichkeit festgestellt worden. 

Auch bei diesen sei die andere Erklärung, die bio- 
logische von der Embryonalanlage ausgehenden nicht zu- 
treffend. Diese Erklärung möge bei solchen Männern, 
die als Weib fühlten und bärtige Männer liebten, richtig 
sein. Dies sei aber unnatürlich und lächerlich, eine Per- 
versität. 

Dagegen sei die zärtliche Zuneigung von Männern 
zu schönen Knaben und Jünglingen nicht pervers. Die 
Natur des Schönen und Zarten sei es, Zärtlichkeit zu 
erregen. 

Mit dem Gedankenaustausch, der Zärtlichkeit und 
dem Sexualsystem stünden die ästhetischen Empfindungen 
in Wechselwirkung. Das Ungewöhnliche, nicht Wider- 
natürliche bestünde darin, dass in einigen Männern 
die ästhetische Empfindung stärker sei als der Geschlechts- 
trieb, bei den Griechen sei dies in der Regel der Fall 
gewesen. 

Was natürlich sei, sei aber nicht stets erlaubt. Er- 
laubt sei nur, was nicht schade. Heute aber sei es für 



— 383 — 



den Knaben und Jüngling schädlich, zum Gegenstand 
sinnlicher Liebe gemacht zu werden. 

In Hellas habe die ideale Seite überwogen — einer 
ähnlichen idealen Seite begegne man auch in dem Ver- 
hältnis zwischen Jesus und Johannes — , mit dieser Liebe 
habe das sog. griechische Laster nichts gemein. 

Die Verhältnisse Hellas seien heute nicht mehr vor- 
handen. In Griechenland habe die homosexuelle Liebe 
zwei Aufgaben erfüllt: Plastik und Pädagogik geschaffen. 

Heute fehle die eine Seite für die sittliche Berech- 
tigung der homosexuellen Liebesverhältnisse: die Gegen- 
seitigkeit der Empfindung. In Hellas sei bei der haupt- 
sächlich in Leibesübungen und geistreichen Plaudereien 
mit erwachsenen Männern bestehenden Beschäftigung des 
Jünglings der Knabe als passiver Liebhaber denkbar ge- 
wesen. Heute in der modernen Welt falle das Jünglings- 
alter überhaupt aus; der Knabe, fast schon das Kind 
werde sofort zum jungen Mann; ein weibliches Stadium 
mache der Jüngling nicht mehr durch, schon auf der 
Schule strebe er danach, möglichst bald Mann zu werden. 

Sodann unterscheide sich auch das Erziehungs- und 
Unterrichtswesen gründlich von dem altgriechischen. In 
Hellas sei jeder erwachsene Mann in jahrelangem Umgang 
mit Jünglingen zur Bildung von Gesinnung und Charakter 
in gewissem Sinne zu ihrem Erzieher berufen gewesen I 

Heute sei der Zweck des Jünglings: Abiturienten und 
Staatsexamen. Berufslehrer hätten eine grosse Anzahl von 
Schülern zusammen zu unterrichten. Zwischen diesen 
und dem Lehrer sei ein intimeres oder gar Liebesverhält- 
nis undenkbar. 

Auch das moderne nicht mehr auf Waffenbrüder- 
schaften beruhende Kriegswesen biete keinen Boden für 
homosexuelle Verhältnisse. Endlich würden heute die 
Frauen, die für die moderne Geselligkeit das Element 



— 384 — 



der Schönheit und Anmut lieferten, niemals Knaben und 
Jünglinge als Konkurrenten dulden. 

Desshalb würde die Aufhebung des § 175 auch den 
„Edel päd erasten" wenig nützen, und nicht hindern, dass 
der Gegenstand ihrer Liebe lächerlich, verächtlich oder 
wenigstens in der Gesellschaft unmöglich gemacht würde, 
dies könnten aber aufrichtig liebende Homosexuelle nicht 
wollen. 

Gegen eine gelegentliche Aufhebung des § 175 bei 
der allgemeinen Aenderung des Strafgesetzbuches hat 
Jentsch nichts einzuwenden. 

Jentsch's Ausführungen sind, wie Alles, was er 
schreibt, geistreich und zeugen von selbständigem Denken, 
aber man hätte doch bei einem Manne, der schon in den 
verschiedensten Fragen das Richtige getroffen und wie 
Wenige scharfblickend und erfahren sich gezeigt hat, der 
gerade in den dem Anhang vorhergehenden Aufsätzen 
über die Sexualität im Allgemeinen und die Sexualmoral 
vielleicht das Beste, was wir kennen, gesagt hat, erwartet, 
dass er die Homosexualität weniger missverstehe. Jentsch 
hat offenbar einen tieferen Einblick in dieses Gebiet nicht 
bekommen und auch die Literatur nur wenig studiert 
(gesteht er doch selbst zu, dass er nicht einmal Kraflft- 
Ebing gelesen hat.) 

Die Erklärung der Homosexualität aus einem Ueber- 
handnehmen der ästhetischen Empfindungen über den 
Geschlechtstrieb ist falsch. Die Homosexualität ffiesst 
aus dem anstatt auf das Weib auf den Mann gerichteten 
Geschlechtstrieb, wobei die Aesthetik keine Bolle spielt 
Jentsch identifiziert sodann die Homosexualität mit Liebe 
zu unbärtigen Jünglingen und Knaben, zu weibähnlichen 
Wesen, während in Wirklichkeit mindestens ebenso viele 
Homosexuelle bärtige Jünglinge lieben und von un- 
bärtigen sich nicht angezogen fühlen. Unrichtig ist auch 
die scharfe Trennung zwischen idealer griechischer Liebe 



— 385 — 



und „ griechischem Laster". Rein ideale Liebe ohne sinn- 
liche Grundlage ist ein Unding. Endlich liegt der Grund 
dafür, dass jetzt homosexuelle Verhältnisse in die heutige 
Gesellschaftsordnung nicht passen, in dem herrschenden 
Vorurteil und der Aechtung der homosexuellen Liebe* 
mit der Aenderung der Anschauungen (allerdings nicht 
bloss des § 175) werden auch geachtete und sittliche 
Bündnisse zwischen Männern möglich werden. 

Bei Jentsch's Ausführungen ist immerhin hoch er- 
freulich, dass er sich nicht mit einer oberflächlichen und 
landläufigen Untersuchung der Frage begnügt, sondern die 
psychologische und soziale Bedeutung der Homosexualität 
prüft und die ganze Frage auf ein höheres Niveau hebt. 

14) Kupffer, Elisa r von, veröffentlicht inBrand's 
, Eigenem", 1. und 2. Oktoberheft 1899 Nr. 6 und 7, 
unter dem Titel „Die ethisch-politische Bedeutung 
de r Lieb 1 in gsmin ne a die Einleitung seiner seit längerem 
angekündigten, bisher jedoch noch nicht erschienenen: 
„Lieblingsminne und Freundesliebe in der Weltliteratur 1 * 
(einer 'Sammlung der verschiedenen litterarischen Pro- 
dukte aller Zeiten und Länder über die mannmännliche 
Zuneigung). 

Kupffer geht davon aus, dass vor Allem der Mann 
männlicher werden müsse, das hiesse aber, dass er seine 
Selbstbestimmung, seine persönliche Freiheit und das ge- 
meine Wohl zu wahren habe. Von einer Zurücksetzung 
oder gar Verachtung der Frau sei dabei selbstverständ- 
lich keine Rede. 

Aber jeder habe das Recht, alle seine Triebe und 
Kräfte ohne Gewaltthätigkeit auszuleben: Nur dann sei 
wahre Kultur möglich. Dieses Ausleben aller Kräfte be- 
deute nicht Aufgehen in reinem Sinnengenuss, vielmehr 
zeige sich der wahre Mensch in der freiwilligen weisen 
Beschränkung und Zügelung des eigenen Selbst. 

Die mannmännliche Liebe sei bisher gründlich miss- 

Jahrbuch II. 25 



— 386 — 



verstanden worden; teils habe die Prinzipiensucht unserer 
wissenschaftelnden Zeit diese Liebe bekrittelt, auf alle 
mögliche Weise untersucht und für krankhaft erklärt, 
teils habe Bosheit und Unwissenheit einfach mit Be- 
schimpfungen sich begnügt 

Man habe von Verfall und Dekadenz gesprochen: 
Den Gegenbeweis lieferten die grössten Männer aller 
Zeiten: Alexander, Theognis, Pindar, Shakespeare, Fried- 
rich der Grosse. 

Es könne unmöglich ein Zufall sein, dass solche 
hervorragende Vertreter der Kulturgeschichte diese Neig- 
ung verspürten. 

Wenn ihre Neigung als abscheulich gelte, müsste 
man sich auch von ihnen mit Abscheu abwenden und 
könne sie nicht mehr als Träger der Kultur betrachten. 

Die mannmännliche Liebesrichtung könne eine Quelle 
von Kraft für die Allgemeinheit abgeben. Griechen- 
land bewiese dies. Im Krieg und im Frieden könnten 
diese Verhältnisse von moralischer und staatlicher Be- 
deutung werden: erzieherische Wirkungen der Jüngeren 
durch die Aelteren, einen engeren Anschluss der Männer 
in gegenseitiger Hingebung zum Wohle des Ganzen 
herbeiführen. 

Der christlichen Anschauung widersprächen solche 
Verhältnisse nicht; nach Christus käme es vor Allem 
auf die Gesinnung an. 

Christus, welcher jedenfalls eine ideale Zuneigung zn 
Johannes verspürte, habe niemals die edlere Lieblings- 
minne verurteilt, trotzdem er bei ihrer damaligen Ver- 
breitung im Orient Anläse gehabt hätte, davor zu warnen. 
Nur bei Paulus, dem ehemaligen Pharisäer, der nie mit 
Jesus persönlich in Berührung gekommen, finde sich eine 
Stelle über diese Liebesrichtung, in welcher aber Paulus 
■* die ethische Bedeutung dieser Verhältnisse ge- 



— 387 — 



dacht habe, sondern lediglich an die aus Uebersättigung 
hervorgegangenen Lüste. 

Hoher Idealismus, Gedankentiefe und edle Sprache 
machen den Aufsatz Kupfers zu einem wertvollen Bei- 
trag der homosexuellen Literatur. 

Kupffer bildet hauptsächlich mit Gerling, Carpenter 
und von Wächter (siehe unten) jene Gruppe, welche die 
ethische und soziale Bedeutung der Homosexualität be- 
tont und ihr einen für die Allgemeinheit nützlichen Zweck 
abzugewinnen sucht. 

Diese erfreuliche Tendenz ist nur zu billigen. Sie 
möge auch die Homosexuellen veranlassen, nicht nur an 
ihr Recht auf sinnliche Befriedigung zu denken, sondern 
auch an ihre Pflicht einer ethischen Ausgestaltung ihrer 
Liebesrichtung. 

Dagegen muss Kupffers Angriff auf das wissen- 
schaftliche Studium der Homosexualität energisch zurück- 
gewiesen werden. 

Die Wissenschaft hat ein Recht und eine Pflicht, die 
physiologische und psychologischen Seiten aller Natur- 
erscheinungen zu untersuchen. 

Ohne die bisherigen wissenschaftlichen Studien über 
die physiologischen Grundlagen der Homosexualität wären 
Kupffers Erörterungen einfach unmöglich gewesen und 
unverstanden geblieben. 

15) Studie über die Sakalaven auf Madagascar 
in den „Annales d'hygiene et de mldecine 
colon iales" (wahrscheinlich letzte Nummer des Jahres 
1899 oder erste des Jahres 1900) (mitgeteilt in „Mercure 
de France« 1. F6vrier 1900 S. 490). 

Bericht über einen bei den Sakalaven und Hovas 
auf Madagaskar ziemlich verbreiteten Fall sexueller Ano- 
malie. Wir lassen die Hauptstelle in deutscher Ueber- 
Setzung wörtlich folgen: „In Emyrnien heissen die Indi- 
viduen, die sich über ihr Geschlecht täuschen, „Sarim- 

25» 



— 388 — 



bavy M (sar: Bildnis, vary : Frau), bei den Sakalaven heissen 
sie , Secatra". Bei diesen letzteren begnügen sich die 
„Secatra* nicht mit äusserlichen Aehnlichkeiten mit dem 
Weib, sondern gehen viel weiter in dem intimen Verkehr. 
Die Secatra sind normal gebildete Männer; aber seit ihrer 
Jugend hat man sie wahrscheinlich wegen ihres zarteren 
öder schwächlicheren Aussehens wie Mädchen behandelt 
und nach und nach werden sie wie wirkliche Frauen be- 
trachtet, indem sie auch das Kleid, den Charakter und 
die Gewohnheiten der Frau annehmen. 

Die Auto-Suggestion, die sie erlitten haben, hat sie 
ihr wahres Geschlecht vergessen lassen, und sie sind un- 
fähig geworden, eine Erektion oder eine Begierde bei 
einer Frau zu verspüren. Sie verwenden grosse Sorgfalt 
auf Toilette und Kleidung, sind mit Weiberstoff und 
Röcken bekleidet und tragen lange Haare mit Zöpfen, 
die kugelförmig enden; ihre Ohren sind durchlöchert und 
erhalten Ringelchen mit Silberstücken, auf dem linken 
Nasenflügel haben sie ein Geldstückchen, an den Aermen 
und Füssen tragen sie Halsbänder; um die Aehnlichkeit 
mit dem Weib noch weiter zu treiben, belegen und be- 
decken sie die Brust mit Lappen, welche den Busen und 
die Brüste nachbilden sollen ; sie entfernen sorgfältig alle 
Haare am Körper (mit Ausnahme des Kopfhaares^ haben 
den wiegenden Gang der Frau und eignen sich schliess- 
lich deren Stimme an. 

Wenn ein Mann ihnen gefällt, geben sie ihm Geld, 
damit er mit ihnen schlafe, sie lassen ihn in ein mit Fett 
gefülltes Ochsenhorn, das sie sich zwischen die Beine 
legen, koitieren; manchmal lassen sie sich pädizieren. 

Sie verrichten keinerlei mühsame Arbeit, beschäftigen 
sich mit der Haushaltung und der Küche, flechten Stroh- 
matten, hüten niemals das Vieh und gehen nicht in den 
Krieg. Ihre Geschlechtslage wundert Niemand, man findet 
ßie ganz natürlich und Niemand wagt eine Bemerkung, 



— 389 — 



denn der Secatra könnte sich rächen/ indem er auf die, 
welche seinen Fall besprechen würden, ein Loos und eine 
Krankheit würfe." 

Es handelt sich bei diesen Secatra zweifellos um 
Fälle völliger Effemination. Der Verfasser des Berichts 
scheint mehr an erworbene Effemination und er- 
worbene kontrare Sexualempfindung zu denken; doch 
werden wohl nur diejenigen sich zu Secatra ausbilden, 
welche schon von Jugend auf eine konträr sexuelle Natur 
haben; die besonderen weiblichen Gewohnheiten werden 
dann allerdings diese konträre Anlage noch bestärken 
und zu vollster Entwicklung bringen. 

16) Thal, Wilhelm: Der Roman einesConträr- 
S ex u eilen mit einer Einleitung von Raffalowlqh, 
Marc-Andr^: Der Uranismus. (Verlag Spohr 1899). 

Dieser „Roman eines Conträr- Sexuellen* ist nichts 
weiter als die Uebersetzung einer in den „Archives 
d'anthropologie criminelle" von Dr. A. Lacassage und in 
dem Werk von Laupts: Perversion etperversitd sexuelles 
veröffentlichten, an Zola von einem Urning tibersandten 
Autobiographie und zwar die Autobiographie eines 
typischen Effeminierten, der sicherlich nicht zu den edleren 
und höheren Homosexuellen gerechnet werden kann. 

Ob ein Bedürfnis bestand, gerade diese Autobiographie 
zu übersetzen und unter dem Titel „Roman eines Contr^r- 
Sexuellen" zu veröffentlichen, möchten wir bezweifeln. 
Wertvoller ist die Einleitung von Raffalowich, welche 
ebenfalls eine Uebersetzung aus dem Französischen dar- 
stellt und auch schon deutsch als selbständige Broschüre 
unter dem Titel „Die Entwickelung der Homosexualität * 
(Berlin, Fischers Mediz. Buchhandlung 1895) herausge- 
geben worden war, weshalb eine eingehendere Besprech- 
ung dieser sehr bedeutsamen, psychologisch tief gehenden 
Einleitung in dem Rahmen dieser Bibliographie des Jahres 
1899 nicht am Platz wäre. 



— 390 — 



17) Wächter, T h eo dor von: stellt in seinem Buche: 
„Ein Problem der Ethik* die Liebe als körper- 
lich-seelische Kraftübertragung, „Eine psycho- 
logisch-ethische Studie" (Spohr 1899) (200 S.) eigen- 
artige und neue Gesichtspunkte für die Beurteilung der 
Homosexualität und des Geschlechtstriebes überhaupt au£ 

Verfasser sieht das Wesen der Liebe nicht im Fort- 
pflanzungstrieb, sondern im Trieb nach Ergänzung, nach 
Gemeinschaft, nach gegenseitiger Erfrischung und Be- 
lebung; die Fortpflanzung sei nur eine mit diesem Er- 
gänzungstrieb verbundene mögliche Folge. 

Die Auffassung der Liebe, ihre Regelung und Aus- 
gestaltung in den verschiedenen Zeiten und Völkern 
hänge von der jeweiligen sozialökonomischen Grundlage 
der verschiedenen menschlichen Gemeinschaften ab. Die 
noch heute allgemein herrschende Auffassung der Liebe 
lediglich als Fortpflanzungstrieb sei auf das Judentum, im 
Gegensatz zum Christentum zurückzuführen. 

Bei dem kleinen, schwachen, in dem feindlichen, er- 
oberten Kanaan zu steten Kampf ums Dasein gezwungenen 
Judenvolk habe das Christentum möglichste Vermehrung 
der Volkszahl erfordert. Daher die Beurteilung einer 
jeden nicht Fortpflanzung bezweckenden Liebesbethätig- 
ung als Sünde, daher der besondere Abscheu gegen den 
gleichgeschlechtlichen Verkehr. Den Griechen, bei denen 
ein solches Interesse an möglichster Vermehrung nicht 
bestanden habe, sei Hauptzweck der Liebe gewesen, die 
freie Hingabe an die erwärmende belebende Macht der 
menschlichen Jugendschönheit und zwar — da der Zweck 
der Kinderzeugung nicht massgebend gewesen — an die 
Jugendschönheit beiderlei Geschlechts. 

Trotz des Sieges der jüdischen Auffassung habe doch 
bei vielen grossen Männern das griechische Ideal die 
Oberhand gewonnen. Folgt sodann Erörterung des Wesens 
der Liebe im Sinne des Verfassers: Nicht in der Be- 
friedigung geschlechtlicher Erregung sei das Wesen der 



— 891 — 



Liebe zu suchen, sondern im Trieb nach Gemeinschaft, 
in der Anziehung nicht nur der physischen, sondern be- 
sonders der seelischen Reize der geliebten Person. 

Aus dem Zusammensein mit der geliebten Person 
ströme eine Belebung, Erwärmung, Erfrischung des ganzen 
Menschen. Die erwärmende, belebende, verjüngende 
Kraft der Liebe, sei das Wesentliche aller wahren Liebe. 
Zum Beleg für seine Auffassung der Liebe als physisch- 
psychische Kraftübertragung verweist Verfasser auf zwei 
Schriften, die er des Näheren bespricht. Die von Exul 
(1890): „Die psychische Kraftübertragung* welche mehr 
die psychische und die von Buttenstedt: „Die Ueber- 
tragung der Nervenkraft - , welche mehr die physische 
Kraftübertragung behandelt, (Buttenstedt schreibt dem 
menschlichen, gesunden Körper die Fähigkeit zu, ins- 
besondere durch enges Zusammenliegen mit einem andern 
Organismus auf diesen seine gesunden Kräfte zu über- 
tragen und überströmen zu lassen.) 

Verfasser geht dann des Näheren auf das Verhältnis 
des Liebestriebes zum Fortpflanzungstriebe ein. Der Zweck 
der Fortpflanzung spiele bewusstermasen fast nie eine Rolle. 

Für seine Auffassung der Liebe beruft sich Wächter 
auf Carpenter, den er ausführlich zitiert; dagegen pole- 
misiert er gegen Moll, der lediglich wegen der Unmög- 
lichkeit der Zeugung die gleichgeschlechtliche Liebe für 
krankhaft halte. 

Die Zuneigung zum gleichen Geschlecht sei keine 
Krankheit, sie fände sich gerade bei vielen geistig Hoch- 
stehenden. Sie bezwecke nicht Zeugung von körperlichen 
Nachkommen, sondern diene dazu, diesen geistig Hoch- 
stehenden frische körperliche Kraft zur Belebung und 
Kräftigung ihres geistigen Lebens zuzuführen und so sie 
fruchtbar zu machen zur Zeugung geistiger Güter. 

Schon im Mittelalter und in der kapitalistischen Neu- 
zeit, wo die Gesellschaft sich in Herrn imd Knechte 
teile, habe man den wahren Herrn, den Fürsten, Künst- 



— 392 — 



lern, Genies, eine andere Liebeaethik, als dem Volke 
eingeräumt; denn das Interesse der Gesellschaft erfordere 
möglichste Vermehrung der Knechte, nicht aber der 
Herren, die hauptsächlich zur Bereicherung des Kultur- 
lebens beigetragen hätten. 

In der sozialistischen Gesellschaft würde die mög- 
lichste Vermehrung nicht mehr Hauptzweck der Gesell- 
schaft sein, sondern das Erringen kultureller, geistiger 
Güter, daher würde auch nicht mehr vor Allem möglichst 
grosse Volksvermehrung verlangt werden. 

Verfasser breitet sich des Weiteren dann über das 
Verhältnis der geistigen zur sinnlichen Liebe ans. Nach 
der platonisch-christlichen Weltanschauung, der Anschau- 
ung des Gegensatzes zwischen Körper und Geist sei 
höchstes Ideal, völlige Enthaltung von aller Hingabe 
an irdisch-sinnliche Erregung. Die Möglichkeit solcher 
völligen Abstinenz sei nicht zu leugnen, auch bei den 
Homosexuellen fänden sich Vertreter dieser Anschauung, 
welche sie thatsächlich zu verwirklichen suchten. Ver- 
fasser führt einige Briefe solcher abstinenten Homosexu- 
ellen an. Diesem Ideal sei aber nicht Jeder gewachsen, 
wer aber diesem Ideal nicht folge, sei ganz gleich zu 
beurteilen, ob homo- oder heterosexuell 

Die Hauptsache sei, dass echte Liebe seelische 
und geistige Anziehung neben der physischen er- 
strebe ; eine rein sinnliche geschlechtliche Erregung ohne 
seelische Hingabe sei verwerflich. 

In „Zusätzen" fügt der Verfasser noch eine Anzahl 
historischer und literarischer Bemerkungen und weiterer 
Auslassungen seinen früheren Ausführungen hinzu. Mit 
einem idealen Appell an den Jüngling seiner Träume, in 
dem er Freundschaft und Liebe vereint fände, schliefst 
Verfasser. 

Wächters Buch verdient besondere Beachtung wegen 
seines wohlthuenden Idealismus und seiner anregenden 
Gedanken. 



— 893 — 



Kapitel 2: Belletristisches und Varia. 
1) Brand, Adolf: t Der Eigene". Der junge Ver- 
leger und Schriftsteller Adolf Brand zu Neurahnsdorf 
hatte im Jahre 1898 die Herausgabe einer künstlerischen 
Zeitschrift mit Randzeichnungen und Bildschmuck ver- 
sucht, welche ganz besonders der künstlerischen Dar- 
stellung der Homosexualität gewidmet sein sollte. Im 
Jahre 1898 erschienen auch zwei Nummern mit ausgesucht 
schöner äusserer Ausstattung. Sie brachten an homo- 
sexuellen Sachen: 

Brand: „Prolog", eine Einleitung von wirklicher 
Klangschönheit, die in ihrer symbolistisch- 
poetischen Form dem unverstandenen Schmerz 
und dem unnennbaren Sehnen aller nach Ideal 
dürstenden Seelen beredten Ausdruck verleihen 
wollte. 

Brand: „Du und ich tf und 9 Spielmannslos*, zwei 
Gedichte. 

Nobert Langner: „Echte Liebe", eine gefühl- 
volle Novelle. 
Numa Praetorius (unter Dr. G.): Eine Be- 
sprechung der Tagebücher des Grafen Platen. 
Nr. 2: Brand: „Morituri*. Gedicht. 

Lord Byron: Ein im Nachlass des Dichters vor- 
gefundenes homosexuelles Liebesgedicht (über- 
setzt von Albert König). 
Mangels genügender Unterstützung musste die Zeit- 
schrift eingehen. Im Juli 1899 hat Brand nochmals die 
Herausgabe einer nunmehr aller 14 Tage erscheinenden 
Zeitschrift in verkleinertem Format, aber in nicht minder 
geschmackvoller und künstlerischer Ausstattung zu sehr 
billigem Preis (nut 4,50 Mk. pro Jahr!) unternommen. 



— 394 — 



Erschienen sind bisher drei einfache und drei Doppel- 
hefte. 

Homosexuellen Inhalt weisen auf: in Nr. 1: 

Brand: „Lenzfahrt*. Gedicht, impressionistisches 
Momentbild. 

Joseph Kitir: „Eros im Bordell*. Gedicht: 
Gegensatz zwischen der. poetischen Urningsliebe 
und der gemeinen heterosexuellen Venus. 
Nr. 2: Hans Heinz Evers: „Armer Junge". Novelle: 
tiefempfundene Schilderung der unglücklichen 
Liebe eines ideal und monogam liebenden Urnings, 
der sich tödtet, weil der Geliebte ihn nicht ver- 
stehen und seine Gefühle nicht erwidern kann. 

Brand: „Verwirkt". Gedicht, voll Naturfrische. 
Nr. 3: Brand: „Nach dem Gewitter*. Gedicht, poetisch- 
sentimentales Natur- und Stimmungsbild. 

Louis Franche: „Liebeslied*. Gedicht 
Nr. 4 u. 5: Paul R Lehnhard: „Mein Antinous". 

Novelle, ein in etwas kühnen Farben gemaltes 
Liebesabenteuer. 

Brand: „Waldfrei". Gedicht, nicht ohne Schwung 
und Feuer. 

Elisar von Kupffer: „Der Lieblingsjünger* 
Gedicht, feine und zarte Andeutung des Ver- 
hältnisses zwischen Jesu und Johannes. 

Louis Franche: Besprechung des Romans eines 
Konträrsexuellen und des Vorworts dazu von 
RafFalowich. 

Nr. 6 u. 7: Elisar von Kupffer: 1 Die ethisch-politische 
Bedeutung der Lieblingsminne (siehe oben S. 385). 

Brand und Freiherz: „Aus der Harfe des 
Todes*. Gedichte, symbolistisch gehalten, düster- 
dämonisches Gefühl in klangvoller Sprache. 

Peter Hamecher: Besprechung des I.Jahrbuchs. 
Kühnes freimütiges Bekenntnis der eigenen Homo« 



— 395 — 



Sexualität des Kritikers. Auch Hamecher pole- 
misiert leider gegen das wissenschaftliche Studium 
der Homosexualität; für ihn gilt dasselbe, was 
wir oben über die gleiche Tendenz von Kupffer 
sagten. 

Nr. 8 u. 9: November- und Dezemberheft; erst am 
18. März 1900 erschienen. 
Peter Hamecher: »Heinrich voi| Kleist*, eine 
interessante Studie, in welcher die in Kleist an- 
geblich latente, von ihm selbst verkannte Homo- 
sexualität erörtert wird. 
Brand: „Immer Lustig* und „Liebling von der 

Gasse", zwei Gedichte, ersteres sehr gewagt. 
Brand: „§ 175 und seine richtige Auslegung." 
Die gleichgeschlechtlichen Akte zwischen Homo- 
sexuellen seien keine widernatürliche Unzucht *) 
2) Gourmont, Remy de: Le Songe d'uhe Femme 
(im Mercure de France**), wohl der bedeutendsten Zeitschrift 
der neueren Richtung in Frankreich, Oktober- und No- 
vemberheft 1899). Ein psychologischer, in Briefform 
geschriebener Roman. Drei Briefe berühren die Horao- 



*) Die in diesem letzten Heft enthaltene teilweise recht akt- 
lose „Extrapost" muss ausdrücklich gerügt werden. Derartiges wie 
z. B. die Schlussstelle „Ewald Maskenbald" passt nicht in eine 
Kunstzeitschrift. Auch der Name von Numa Praetorins ist ohne 
mein Wissen und ohne meinen Willen in dieser „Extrapost" auf- 
genommen worden, wogegen ich hiermit ausdrücklich Verwahrung 
einlege. N. P. 

**) In dem „Mercure de France" sind überhaupt in den letzten 
Jahren verschiedene Romane mit urnischem Inhalt oder wenigstens 
einzelne die Homosexualität streifenden Stellen erschienen, nament- 
lich Pierre Louys: L'Esclavage, im Buchhandel Aphrodite 1895. 
Hugues Rebell: La Nichina 1896. Rachilde: Les Factices, 
im Buchhandel Les Hors-Natures 1897. Georges Eekhoud: Le 
comte de la Digue, im Buchhandel Escal-Vigor 1898. Albert 
Delaconr: le Roy 1898. 



— 396 — 



Sexualität und r zwar die weibliche. Briefe von Claude 
de la Tour an Anna des Loges vom 6. und 12. September 
und von Anna an Claude vom 14. September. Claude, 
kühl gegen jede Mäunerliebe kann die Liebesleidenschaft 
nur für ihre Freundin Anna empfinden, Sie bittet sie, 
zu. ihr zu kommen und die frühere im Pensionat ent- 
standene Intimität wieder aufzunehmen. 

Anna besucht Claude, vertreibt durch ihre Gegen- 
wart eine hübsche Gesellschaftsdame, die Claude sich 
auserwählt hätte, will aber die „Kindereien * des Pen- 
sionates nicht mehr erneuern. Anna liebt nur den Mann, 
mitleidig- schaut sie auf ihre Freundin herab: Gleich- 
geschlechtliche Liebe sei Liebeskampf ohne Gegner; 
langweilige Siege ohne Besiegte. 

Die psychologischen und sentimentalen mit Ironie 
vermengten Feinheiten der Briefe lassen sich schwer in 
wenig Worten auch nur andeuten. 

3) d'Herdy, Luis: „Monsieur Antinoüs et 
Madame . Sappho" (Girard Paris 1899): ein echter Roman 
der Homosexualität. Der nicht gerade geschmackvolle und 
reklamesüchtige Titel kennzeichnet genügend die beiden 
Hauptträger der Erzählung. 

Beide sind Invertierte: Er liebt nur den Mann, sie 
pur die Frau. Beide aus reichen und vornehmen Kreisen 
stammend, heiraten sich ohne Kenntnis ihrer Gefühle und 
leben dann völlig getrennt von einander. S i e reist mit 
einem geliebten Mädchen, welches mitten in ihrem Liebes- 
glück stirbt. E r wird sich seines Zustandes erst allroälig 
klar; nach der ersten Bekanntschaft mit einem Urning, 
flieht er auf das Land, da er sich nach wahrer und 
tieferer Leidenschaft sehnt. Ein Jugendfreund, ein ein- 
facher Matrose, ist sein Ideal, aber er wagt nicht das 
Geständnis seiner Liebe; der Matrose geht auf die See 
und stirbt. 

Nun wirft sich Antinous in den Strudel des Pariser 



— 897 



homosexuellen Lebens. Es folgt die Schilderung seiner 
Exzentrizitäten in Kleidung, Luxus, Festen u. s. w., die 
an die ähnlichen Darstellungen dekadenter Männer von 
Hysmans in „A Rebours Ä und von Wilde in „Dorian 
Grey* erinnern. 

Auf einem urnischen Maskenball lernt Antinous als 
Prinzessin verkleidet einen schönen Pagen kennen. Er 
führt ihn in ein entlegenes Heim und entdeckt, dass der 
Page seine eigene Frau ist, welche ihrerseits die maskierte 
Prinzessin für ein Weib gehalten. Wie zwei gute Be- 
kannte bringen beide in vertrautem Gespräch die Nacht 
zu und erzählen sich ihre bisherigen Erlebnisse. 

Der Roman entbehrt des wahren künstlerischen 
Ernstes und tieferer Psychologie; er ist auf den Effekt 
berechnet Doch liest er sich angenehm und enthält 
hübsche Stellen. Der Held als typischer Vertreter einer 
Klasse von Urningen, den Effeminierten und Raffinierten, 
die das Bestreben in sich fühlen, ihre gesamte Lebens- 
führung eigenartig und seltsam einzurichten, ist nicht 
schlecht getroffen. 

4) d'Herdy, Luis: L'Homme-Sir be (Paris, 
Girard 1899). 

Edouard, von Jugend auf konträr, hat auf dem Lyceum 
sich die Freundschaft des normalgeborenen, männlich er- 
zogenen Georges d'Athis errungen. Trotz seiner Normali- 
tät hat Georges in tiberschäumender, zurückgedrängter 
Jugendglut den schwachen weiblichen Edouard zärtlich 
geliebt. Nach Verlassen des Lyceum hat er aber bald 
die „Spielereien" des Alumnates vergessen und sich. nur 
dem Weibe zugewendet Edouard dagegen sieht in 
Georges sein Ideal und die früheren Gefühle haben sich 
zu unzerstörbarer Liebesleidenschaft für den Freund ent- 
wickelt. Er sucht den mit dem geliebten Weib glücklich 
verheirateten Georges auf und verbringt einige Zeit auf 
dem Schloss der Eheleute« Edouard will Georges wieder 



- 398 — 



gewinnen und thatsächlich gelingt es dem weichen, 
weiblichen Androgynen die wieder erneuerte zärtliche 
Freundschaft von Georges in Liebe umzuwandeln. Lange 
sträubt sich Georges dagegen, die Natur seiner Gefühle 
zu erkennen und als er mit Schrecken sieht, dass er von 
leidenschaftlicher Liebe zu Edouard ergriffen ist, schwört 
er sich, doch niemals dieser Leidenschaft zu unterliegen 
und will seinen Freund veranlassen, abzureisen. Als 
Edouard die Gewissheit erlangt hat, dass Georges niemals 
ihm nachgeben wird, will er wenigstens gemeinsam mit 
dem Freunde sterben. Während einer gemeinsamen Kahn- 
fahrt reiset er Georges mit sich ins Wasser. Edouard 
ertrinkt, während Georges sich retten kann. 

Der Roman bedeutet einen wesentlichen Fortschritt 
gegenüber dem w Monsieur Antinous und Madame Sappho.' 
Der seelische Kampf beider Männer ist mit psycholog- 
ischem Verständnis und der Einfluss eines echten Andro- 
gynen, der körperlich und geistig dem Weibe ähnlich, die 
Freundschaft eines Normalen bei gegenseitiger andauern- 
der seelischer Sympathie in Liebesleidenschaft umzu- 
wandeln vermag, in interessanter, glaubhafter Weise 
geschildert. Auch in diesem Roman ist der Androgyne 
mit allen typischen Eigentümlichkeiten und der Sucht 
nach überfeinerten Lebensgestaltung des effeminierten 
Urnings gezeichnet. Von warm empfundenem Gefühl 
zeugt cjie Szene, wo Edouard seine Liebe dem Freund 
gesteht und seinen Empörungsruf gegen die Vorurteile 
ausstösst, die jede Liebe gestatten, nur die seine ver- 
dammen. 

5)v. Platen, Graf August: Tagebücher. Heraas- 
gegeben von G. von Laubmann und L. von Scheffler. 
(Verlag J. G. Cotta, Stuttgart.) IL Band. 

Fast noch deutlicher als im ersten Band tritt in 
diesem zweiten Band die Homosexualität Platens hervor. 
Seine Liebe steht immer noch an Innigkeit, Feinheit und 



— 399 — 



edlem Kern der Liebe zwischen Mann und Frau nicht 
nach, übertrifft sie noch hie und da an Triebkraft ge- 
richtet auf Veredelung des Geliebten. (S. 65 v. 9.6. 1818: 
„Ich kann mich nur an die anschliessend die Liebe zur 
Wissenschaft» Begeisterung zu etwas höherem belebt; 8. 
78 v. 4./7. 1818, S. 82 v. 14./7. 1818, S. 91 v. 31./7. 1818, 
S. 133 v. 16./11. 1818: „Ich hasse die Alltagsmenschen 
S. 162 v. 20.12. 1818: »Dein Anblick zog mich vom Ab- 
grund*.) 

S. 181 v. 6./1. 1819, wo Platens feinfühlige, der 
Rohheit abgeneigte Natur besonders deutlich zur Sprache 
kommt. S. 213: Ich kann mir doch nachsagen, dass diese 
Liebe vollkommen edel war. S. 242 v. 4./4. 1819: „Unsere 
Verbindung würde die reinste und schönste aller Jüng- 
linge werden." S. 346 Grubers Brief, worin Gruber 
Platen einen Mann von hohen Ideen nennt S. 361 v. 
31./1. 1820: „Wir küssten, wir umarmten uns oft, aber 
gewiss mit einem edlen Gefühl der Freundschaft, der 
Neigung, der Sympathie." 

Die Tiefe, Innigkeit der Neigung spricht sich in 
folgenden Stellen, oft rührend, aus: S. 67 v. 14./6. 1818: 
„Mein ganzes Wesen bedarf der Liebe*; S. 86 v. 21./7. 
1818: „ach nur einen Funken Liebe*; S..87 v.*24./7. 
1818, S. 92 v. 3./8. 1818, S. 134 v. 19./11. 1818: „mit 
welcher Wärme ich ihn liebe*; S. 139 das Gedicht; S. 
156 v. 10/12. 1818: „Wenn ich aufstehe des Morgens, so 
hat mich dein Bild erweckt, wenn ich mich schlafen lege, 
so wiegt auch dein Bild mich in Träume" ; S. 156, S. 167 
v. 27./12. 1818; S. 178 v. 3./1. 1819, wo er das Gedicht 
Gretchens aus Faust auf sich anwendet, und dann später, 
„dass es Süssigkeit sein müsse, von seiner Hand zu 
sterben«; S. 247 v. 11./4. 1819, S. 251 v. 15./4.' 1818, S. 
254 v. 18./4. 1819: „Du bist mir die ganze Welt"; S.269 
v. 4./5. 1819: ,je sentais un vif sentiment de contentement, 



— 400 — 



de me trouver auprfes d'Edouard aprfes de si longues 
douleurs". 

S. 320 v. 17./9. 1819 der Vers am Ende; S. 323 v. 
1./10. 1819, 8. 361 v. 30. 1. 1820, 8. 367 v. 26./2. 1820. 

Das Glück der Liebe war Platen nur sehr karg zu- 
gemessen und es waren nur wenig Sympathiebeweise, die 
ihm das Glück erwiderter Liebe ersetzen mussten. Aber 
wie wohlthuend schon diese kleinen Kundgebungen auf 
Platen wirkten, zeigt sich auf S. 288 v. 2J.6. 1819, 2S9 
und vorher: „Ma santl m€me se trouve r&ablie"; S. 31 
v. 26., 8. 1819, wo das Liebesleid ihm wieder sein körper- 
liches Leid zurückführt. 

Er hat dieses Leid bis auf die Hefe auskosten müssen, 
wie alle tiefempfindenden Männer seiner Art. Besonders 
ergreifend ist die Anrede an den Leser S. 158. Dann 
folgen andere Stellen, z. B. S. 191 v. 21. 1. 1819, S. 204 
v. 7,/2. 1819, S. 240 Brief an Adrast, S. 296 v. 14./7. 
1819, S. 302 v. 26.,7. 1819: Oh pourquoi, pourquoi la 
Providence m'a ainsi form£, S. 561 v. 26./10. 1821 „bal- 
diger Tod", S. 567 v. 1./12. 1822, S. 577 v. 5/4. 1823: 
„Die Natur hat mich bestimmt, ewig unglücklich zu sein." 

In seinem herzzerreisenden Gram ist ihm seine einzige 
Hilfe die Religion. S. 234 v. 25.,3. 1819: „Nur die 
Religion, nnr der Gedanke an Gott und seine Vorschrift 
kann mich aufrecht erhalten." 

Deutlicher als im ersten Band erkennt Platen all- 
mählich selber die Natur seiner Gefühle als das was sie 
sind: als leidenschaftliche Liebes- keine blossen schwär- 
merischen Freundschaftgefühle. S. 284 v. 9,6. 1819: 
„C'est la passion". S. 285 v. 13. 6. 1819 Ah, Tamour . . 
est invincible. S. 113 v. 29./9. 1818, wo er merkt» dassihm 
die Weiberliebe versagt ist: „Ich weiss die weibliche 
Süsse so wenig zu schätzen". S. 302 v. 26,7. 1819: 
„Pourquoi m'est-il impossible d'aimer les femraes?" 

Allerdings über den sinnlichen Untergrund seiner 



— 401 — 



Liebe wird er sich noch nicht recht klar, er drückt sogar 
seinen Abscheu vor jeder sinnlichen Begierde aus (S. 67 
v. 15.6. 1818, S. 80 v. 7. 7. 1818). Nichts desto weniger 
ist es gerade das Aeussere der Erscheinungen der 
von ihm geliebten Männer, das ihn fesselt und anzieht 
(Schmidtlein, v. Rotenhan, v. Liebig, v. Bülow 8. 283 v. 
8./6. 1819, S. 3Ö7 v. 15./8. 1819, S. 350 v. 4./1. 1820, S. 
546 v. 29./4. 1822, S. 582 v. 26./S. 1823 der Student 
Heinz, S. 598 v. 24./12. 1923 Freiherr von Egloffstein, 
S. 607 v. 29./2. 1824 v. Schachelhausen). 

Dem geliebten Freund Eduard Schmidtlein gegen- 
über, den Platen Adrast nannte, kommt das Sinnliche 
seiner Liebe bei aller ihrer Idealität sogar direkt zum 
Duchbruch: Als die Freunde sich trennen mussten, wuchs 
Platens Liebe unter dem Drange der Sehnsucht. Er teilt 
S. 324 mit, dass er mehrere Lieder gedichtet habe; auf 
derselben Seite bemerkt der Herausgeber, dass Platen 
hier drei beschriebene Blätter herausgerissen habe. S. 325 
erwähnt Platen, dass er wieder mehrere „chansons" ge- 
dichtet habe und drückt Unruhe darüber aus, dass Schmidt- 
lein seine Verse nicht beantwortet habe. Dann folgt ein 
Tag später die wörtliche Wiedergabe eines Briefes Schmidt- 
leins, worin dieser sagt, dass er „das schimpfliche 
Schreiben" Platens erhalten habe, ihm die tiefste Ver- 
achtung ausdrückt und ihm ankündigt, „er werde ihn als 
ein pestartiges Uebel meiden." 

Dass der in den damaligen Vorurteilen aufgewachsene 
und mit dem Wesen der konträren Sexualempfindung 
völlig unbekannte Schmidtlein die Gedichte Platens, welche 
wahrscheinlich in etwas glühendem Tone seiner Liebes- 
sehnsucht Ausdruck verliehen, mit Entrüstung zurück- 
wies, lässt sich begreifen. Dagegen ist nicht recht ver- 
ständlich, warum die Herausgeber der Tagebücher Platen 
wegen seiner an Schmidtlein gesandten Verse verteidigen 
und ihn von „Schuld" und „Verdorbenheit" reinzuwaschen 

Jahrbuch II. 26 



— 402 — 



glauben müsse?. Die Liebesglut Platens hat ebenso wie 
die Liebesempfindungen eines heterosexuellen Dichters 
mit der Lauterbarkeit des Charakters nichts zu thun. 
Der edle Sinn Platens erleidet sicherlich deshalb keinen 
Makel, weil seine Natur ihn zwang, den Mann statt das 
Weib zu lieben. 

6) Pierron, Sander: „Le ma\ivais chemin du 
bonteur" im „Mercure de France", Juliheft 1899: Eine 
feine Novelle von nur wenigen Seiten, aber voll poetischen 
Dufts. Es ist die Erzählung der poetischen und schwär- 
merischen Empfindung, die einen Mann gelegentlich eines 
Spaziergangs auf das Land beim Anblick eines schönen 
sechszehnjährigen Bauernburschen befällt. Der von dem 
Liebreiz und der Anmut des Jünglings Hingerissene will 
nach einem längeren Gespräch mit dem Jungen ihm einen 
Kuss auf die Lippen drücken, als er durch die Zwischen- 
kunft des Bruders gestört wird. Seit dieser Zeit kann 
der Städter die Erinnerung an diesen stimmungsvollen 
Augenblick nicht mehr bannen, eine Erinnerung, die ihn 
oftmals mit Wehmut erfüllt. 

7) Rebell, Hugues: „LaBataille pour unMort* 
scenes Romaines (im „Mercure de France" November- 
heft 1899). 

Der reiche SceVinus weilt in seiner üppigen Villa in 
Bajä mit seiner Geliebten, der Freigelassenen Cadicia 
und einer Anzahl Gäste und Schmarotzer aller Art. 
Vatinius, der Parasit, fürchtet, dass Cadicia ihn aus dem 
Hause treiben werde und vorbeugend will er sie verjagen. 
Er bringt es dazu, dass Cadicia ihre Freundschaft mit 
einer früheren Geliebten, Statilia, wieder erneuert and 
dass Scdvinus beide in seiner eigenen Villa während des 
sinnlichen Liebesaktes ertappt. Die erhoffte Wirkung auf 
Scevinus bleibt aber aus, nur ein gleichgültiges Lächeln 
gleitet bei dem ungewohnten Anblick über seine Lippen. 
Unterdessen hatte Vatinius in der Absicht, die, wie er 



— 403 — 



glaubt, frei werdende Stelle der Cadicia auszufüllen, einen 
hübschen Prostituierten, Quirinalis, — um den gerade 
zwei vornehme junge Römer sich stritten — herbeigeholt 
Noch hofft Vatinius, beim Gastmahl Sc£vinus Blicke auf 
Quirinalis zu lenken und durch dessen Schönheit einen 
Wechsel in der Stimmung des Hausherrn gegenüber 
Cadicia zu erreichen. 

Alle Kombinationen des Parasiten werden aber zu 
Nichte gemacht durch den plötzlichen Tod von Sc^vinus, 
der sich die Pulsader im Bade öffnet, um einer ihm ge- 
meldeten, auf Grund falscher Anzeige wegen Komplottes 
gegen den Kaiser bevorstehenden Verhaftung zu entgehen. 

Wütend wegen seines verlorenen Abends entfernt 
sich Quirinalis; kurz darauf werden die Insassen der Villa 
mit Ausnahme von Cadicia verhaftet. 

Die Novelle bildet in ihrem kurzen Rahmen ein 
treffendes Sittenbild römischer Zustände der Kaiserzeit. 
Die gleichgeschlechtliche Liebe fügt sich in das Ganze 
als etwas den damaligen Sitten Entsprechendes und ist 
mit derselben lächelnden Ironie, Selbstverständlichkeit, 
feiner Skepsis und objektivem Behagen an den Erschei- 
nungen frisch pulsierenden Lebens behandelt wie die 
ganze Novelle und wie ähnliche Szenen aus der Renaissance- 
zeit in Rebells hübschem in der vorjährigen Bibliographie 
erwähnten früheren Roman „La Nichina". 

8) In RebelTs Hugues „La Calineuse", Roman (Ed 
Revue blanche, Paris 1900) kommt eine homosexuelle 
Nebenperson vor, der Dichter und Romanschreiber Pierre 
Chaperon. 

Rebell hat ihn mit den etwas affektierten Gesten, 
der äusseren Eleganz, dem von Pose und Selbstgefällig- 
keit nicht freien Benehmen, dem Witz und geistreichen 
Gespräch des vornehmen, gebildeten, weltmännischen 
homosexuellen Parisers gezeichnet. 

Auch die durch die Gewissheit, gegen weibliche Reize 



gefeit zu sein, erlangte Ueberlegenheit des Homosexi 
gegenüber den Frauen, die Kälte und GleichgültJ 
gegenüber dem weiblichen Geschlecht, welche mal 
aller zuvorkommenden Höflichkeit, Liebenswürdigkeit 
Galanterie hindurchfühlt, sind gut getroffen. 

An der homosexuellen Natur von ChaperonJ 
Bebell keinen Zweifel übrig, denn in Neapel wi^r < 
Pariser Arm in Arm mit einem hübschen, gelockten^ 
ling in einem entlegenen Stadtteil von Bekannten 
(pg. 154). In dem Roman wird auch der Nea 
Kuppler erwähnt» der den Fremden sogar ; 
Bischöfen" anbietet (pg. 159). 



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Erschienene, 
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— 406 — 



Cohn, Hermann. Was kann die Schule gegen die 
Masturbation der Kinder thun? Referat dem 
achten internationalen hygienischen Kongress zu 
Budapest erstattet. (Berlin 1894.) 

Angaben über mutuelle Onanie CS. 4 — 9) und 
eingehende Satschläge zu ihrer Bekämpfung. 

(8. 28 flgd.)" 

Cristiani, Andrea: Autopederastia in un alienato, 
affeto da follia periodica. Archivio delle psico- 
patie sessuali. Vol 1 pasc. 13 und 15, 1 — 15. 
(Luglio 1896.) 

Der besprochene Fall dürfte wohl nur als ein 
Fall einfacher Onanie, per rectum, der an sich mit 
der Homosexualität nichts zu thun hat, aufzu- 
fassen sein. 

Dag>onet,H.Traitldesmaladies mentales Paris 1894) 
avec la collaboration de J Dagonet et G. Duhamel. 

S. 104 und 769. Ausführungen über konträre 
Sexualempfindungen. 

Deblerre, Ch.Hermaphrodisme: Structure, fonctions, 
£tat psychologique et mental. Etat civil et mariage. 
Dangers et remedes. (Paris 1891.) 

Behandelt den körperlichen Herrn aphrodismus; 
beim seltenen wahren Hermaphrodismus bestehe Neu- 
tralität in psychosexueller Beziehung, ähnlich wie 
bei Castration. (S. 135.) 

Delbrück, Anton: Gerichtliche Psychopathologie. 
Ein kurzes Lehrbuch für Studirende, Aerzte und 
Juristen. (Leipzig 1897.) 

S. 187 Erwähnung der Homosexualität. 

Despine, Prosper: Psychologie naturelle. Etüde 
sur les facultas intellectuelles et morales dans leur 
£tat normal et dans leur manifestations anomales chez 
les alit'nes et chez les criminels Tome III (Paris 1868.) 



— 407 — 



S. 223 Angaben über gleichgeschlechtlichen Ver- 
kehr zwischen Prostituierten. 
Dornblüth, Otto: Compendium der Psychiatrie für 

Studierende und Aerzte. (Leipzig 1894.) 
S. 36 Erwähnung des Homosexualität. 
Duval, Jacques: Trait£ des Herrn aphrodites: 

R£imprimd sur P^dition unique (Rouen 1612) Paris 1880. 
Rechnet homosexuelle Frauen mitunter zu den 

körperlichen Hermaphroditen. S. 68 flgd. 
Ellls, Havelock: Sexual Inversion in man. Repr. 

from the Alienist and Neurologist April 1896. 
Ellis, Havelock: A note an the Treatment of 

sexual inversion. Repr. from the Alienist and 

Neurologist. Juli 1396. 
Ellls, Havelock: Nota sulle facolta artistische 

degli invertitiin Archivio delle psicopatie sessuali 

Vol. 1 fasc. 17 u. 18 1—15 Settern. 96. 
Förö, Charles: La pr^disposi tion et les agents 

provocateurs dans Petiologie des perver- 

sions sexuelles. Revue de mddecine 1898. 
F6r6, Charles: Contribution h l'ätude de lades- 

cendance des invertis. Archives de Neurologie 

1898. 

F6r6, Charles: Contribution h Pdtude des dqui- 
voques des caractferes sexuels accessoires. 
Revue de Mtfdicine 1893. 

Eingehende Untersuchung über die Fälle, wo bei 
Frauen eine mehr männliche Körperbildung (Mas- 
culismus); bei Männern eine mehr weibliche Körper- 
bildung (Feminismus) stattgefunden hat. Nicht immer, 
aber oft seien perverse geschlechtliche Neigungen 
vorhanden. 

Forel, August: Zwei kriminal-psychologische 
Fälle. Ein Beitrag zur Kenntnis der Uebergangszu- 



— 408 — 



stände zwischen Verbrechen und Irrsinn, in Zeitschrift 
für Schweizer Strafrecht 2. Jahrg. 1. Heft, Bern 1889. 
Frantz, Adolf: Ein Fall von Paranoia mit kon- 
trärer Sexualempfindung. Doktordissertation. 
Berlin 1895. 

Frigerio: Anomalie sessuali, Autopederastia e 
Pseudoonanismo in Archivio di Psychiatric Scienze 
penali ed Antropologia criminale 181*3 fasc 4—5. 

Behandelt die an sich mit der Homosexualität 
nicht zusammenhängende Onanie per rectum sog. 
Autopederastie. 

Froriep, Robert: Beschreibung eines Zwitters 
nebst Abbildung der Geschlechtsteile des- 
selben. Wochenschrift für die gesamte Heilkunde, 
herausg. von J. L. Casper, 1833, 1. Bd. 

Fall eines längere Zeit für ein Mädchen gehaltenen 
Mannes, eines Pseudo-Hermaphroditen mit Zuneigung 
zu Männern. 

Gauster, Moritz: Handbuch der gerichtlichen 

Medizin. Herausg. von J. Maschka. 4. d.B 

Tübingen 1882. 

S. 423 wird die Homosexualität erörtert. 
Geill, Christian: La psychopathie sexuelle et 

son influence sur la mldecine legale. Uge- 

schrift for Laeger, V. 27, S. 403. 
Nach Geill sei die sexuelle Perversion niemals als 

Geisteskrankheit zu betrachten und hebe nicht die 

Zurechnungsfähigkeit auf. 
V. Gyurkovechky, Victor: Pathologie und Therapie 

der männlichen Impotenz. (Wien u.Lpzg.l 889.) 
S. 80 Mitteilung eines Falles von Sadismus bei 

einem homosexuellen Knaben. S. 97 Erklärung der 

Homosexualität aus einem im höheren Mannesalter 

oftmals eintretenden verderbten Geschmack! (eine 

zweifellos völlig irrige Auffassung). 



— 409 — 



Halban, L.: Conträre Sexualempfindung: In der 
Realencyclopädie der gesamten Heilkunde von Eulen- 
burg (Wien u. Leipzig 1895). 

Hayes: LeP£d6rastie (Biblioth£que d'hygiene des deux 
sexes) (Paris, Pigeon 1893). 

Kleine populär geschriebene Schrift: Die üblichen 
geschichtlichen Angaben; die landläufige frühere vor- 
urteilsvolle Auffassung (schändliches Laster etc.) und 
die schwarz gemalten angeblichen gesundheitsschäd- 
lichen Folgen. 

Hirsch, William: Genie und Entartung. Eine 
psychologische Studie. (Berlin u. Leipzig 1894,) 
S. 17, 136 Erwähnung der Homosexualität 

Hoflfmann, Albrecht: Die Sittlichkeit, eine For- 
derung der Gesundheitspflege. Streitfragen. 
Wissenschaftliches Fachorgan der deutschen Sittlich- 
keitsvereine. 4. Heft. (Berlin 1892.) 

Auffassung der Homosexualität, als eines Lasters, 
trotzdem doch wieder die Krankhaftigkeit der Ge- 
schlechts- und Geistesrichtung hervorgehoben wird. 

Howard, William Lee: Sexual perversion: The 
Alienist and Neurologist N. I vol. 17; Jan. 1896. 

Der Fall eines homosexuellen Musikers, der stiehlt 
um sich Geld zur Befriedigung seiner Leidenschaft 
zu verschaffen. 

Howard, William Lee: Psychical Hermaphro- 
ditism. A Few Notes of Sexual Perversion, with 
two Clinical Cases of sexual Inversion. Repr. from 
the Alienist and Neurologist April 1897. 

Howard, William Lee: Pederasty and Prostitution, 
a few historie not es. Repr. from the Journal of the 
American Medical Association 15. Mai 1897. 

Hughes: in The Alienist and Neurologist 1893 Oktober 
bespricht die Homosexualität. Referat darüber von 



— 410 — 



Victor Paraut in den Annales mldico-psychologiques 
7. s<*rie 20. torae. Paris 1894. pg. 467. 

Ireland, William: Herrschermacht und Geistes- 
krankheit. Stuttgart 1 887. Besprechung der kon- 
trären Sexualempfindung von Ludwig II. 

Ireland, William W.: Throngh the Ivory Gate: 
Studies in psychology and history Edinburgh 1889. 

S. 150 Besprechung des berühmten ärztlichen Gut- 
achtens über Ludwig II. von Bayern. 

Ireland, William W.: The journal of mental 
science Vol. 37 Januar 1891. 

S. 120: Bei den Homosexuellen handele es sich 
nicht um „intellectually insane", sondern mehr um 
einen „verdorbenen Geschmack" „depraved taste". 

Jeannel: De la prostitution publique (deutsch 
übersetzt von F. W. Müller, Erlangen 1869) mit An- 
gaben über männliche Prostitution. 

Kelp: Ueber den Geisteszustand der Ehefrau 
Katharina Margaretha L — r Conträre 
Sexualempfindung. Zeitschrift für Psychiatrie 
36. Bd. S. 716 flgd. 

Kirn: (f Professor zu Freiburg) „Ueber verminderte 
Zurechnungsfähigkeit*. In der Vierteljahrs- 
schrift für gerichtliche Medizin und öffentliches Sani- 
tätswesen von Schmidtmann und Strassmann. Bd 
XVI, Heft 2, 1898, 4. Heft. 

Mitteilungen einiger Fälle von konträrer Sexual- 
empfindung, die zu gerichtlicher Verfolgung Anlass 
gaben und die Verfasser als Fälle „ verminderter Zu- 
rechnungsfähigkeit* betrachtet. Vorschlag, letzteren 
Begriff in das Gesetzbuch einzuführen und spezielle 
Anstalten zwecks Internierung und Heilungsversuche 
zu gründen. 

Insoweit die Homosexuellen lediglich wegen Be- 
gehung gleichgeschlechtlicher Handlungen in spezielle 



— 411 — 



Anstalten — halb Gefängnis, halb Irrenhaus — ge- 
bracht werden sollen, ist Eirns Vorschlag ebenso 
ungerechtfertigt als die bisherige Bestrafung. 

Kölle, Theodor: Geri chtlich-psychiatrische G ut- 
achten aus der Klinik des Herrn Professors Dr. 
Forel in Zürich. Für Aerzte und Juristen heraus- 
gegeben Stuttgart 1896. 
S. 163 — 181 Erwähnung der Homosexualität. 

Kraus, August: Die Psychologie desVerbrechens. 
(Tübingen 1884.) 

Angaben über gleichgeschlechtliche Handlungen in 
Gefängnissen. Geschichtliche Notizen über Homo- 
sexualität. 

Kurella, Hans: Osservazione sul significato bio- 
logico della bisessualitä. Archivio di psychi- 
atria 1890. 

Ladame: Inversion sexuelle chez un d£g£n£r£, 
trait£e avantageuseraent par la Suggestion 
hypnotique. Communication faite au congres inter- 
national de mddecine mentale dans la slance du mardi 
totit 1889: Revue de PHypnotisme et de la psychologie 
physiologique. September 1889. S. 67—71. 
Laupts: „Betrachtungen über die Umkehrung 
des Gesch lechtstri ebes" in Heft IV und V der 
von dem Pseudodoktor Wenge während des Jahres 
1897 herausgegebenen, nur ein Jahr lang erschienenen 
„Zeitschrift für Ciiminal-Anthropologie, Gefängnis- 
wissenschaft und Prostitutionswesen*. (Berlin, Priber 
und Lammers. 1897.) 

Wiedergabe in sehr gekürzter Form des Haupt- 
inhaltes des Buches von Laupts : Perversion et perversit«* 
sexuelles*. (Paris, Carr<5 1896); Unterscheidung von 8 
Hauptklassen Homosexueller : 

1. Der Homosexuelle mit körperlichen Abnormitäten 
und weiblichen Formen ; angeborene zufällige Missbildung 
der Natur. 



— 412 — 



2. Der Homosexuelle mit cerebraler sexuell konträrer 
Hirnanlage, aber ohne sonstigen Diffbrmitäten, sowie der 
lediglich zur Homosexualität prädisponierte, erst 
durch ungünstige Umstände Invertirte. Ursache: Ererbung 
durch Abstammung von blos zeitweise Homosexuellen. 

3. Der blos gelegentlich Homosexuelle, je nach dem 
Einfluss des Milieu bald hetero- bald homosexuell, der 
aus Weibermangel, Modesucht oder sonstigen Gründen 
sich der Homosexualität zuwende. 

Besonderes Gewicht legt Laupts auf den Einfluss 
äusserer Umstände für die Entstehung der Homosexualität. 
Nähere Exemplificierung bei Gründung von Colonien und 
Städten. 

Unterscheidung zwischen schwachem und starken Teil 
unter den Homosexuellen, wonach auch die spezielle Ge- 
schmacksrichtung sich bestimme, z. B. Liebe des Andro- 
gynen zum normalen Mann u. s. w. Zum Schluss: Aus- 
führungen über die Homosexualität im Mittelalter und 
Altertum nebst Citaten aus der antiken Literatur. In 
Laupts „ Betrachtungen" wäre gar Manches auszusetzen: 
Viel unrichtiges ist in geistreicher Weise mit Richtigem 
vermischt. 

Laurent, Emile: Les habituls des prisons de Paris avec 
preTace du Dr. Lacassagne. (Paris soci£te* d'lditions 
scientifiques.) 

Lewin: Ueber perverse und konträre Sexual- 
empfindung im Neurologischen Centralblatt, 15. 
September 1891. 

Betonung der Gefahr; man könnte durch die neueren 
Arbeiten über den Geschlechtstrieb zur Lehre von 
der Monomanie zurückkehren. 

Libermann, H.: Les fumeurs d'opium en Chine. 
Etüde medicale (Paris 1862). 

S. G4 flgd. Angabe über die Homosexualität, ins- 
besondere die männliche Prostitution in China. Die 



— 413 — 



Ursache der grossen Verbreitung der Päderastie in 
China wird in dem Opiumgebrauch und seinem Ein- 
fluss auf den Geist gesehen. 

Lloyd-Tuekey, C: Psycho-Therapeutics, or Treat- 
ment by Hypnotism and Suggestion. Third 
Ed. London 1891. (S. 268.) 

Lloyd-Tuekey, C: Quelques cas d'inversion 
sexuelle traitls par la Suggestion. Revue 
de Phypnotisme et de la psychologie physiologique, 
Mai 1896, (S. 345 fl.) 

Lombroso, Cesare: Kerkerpali mpseste. 

Das Werk enthält homosexuelle Inschriften, Liebes- 
erklärungen, Tätowirungen urnischer Verbrecher, die 
in italienischen Gefängnissen auf den Zellenmauern 
oder am Rande der den Gefangenen geliehenen Bücher 
gefunden wurden. 

Lombroso, Cesare: Archivio di Psichiatria, 
scienze penali ed anthropologia criminale. 
Vol. XI. Fase. III— IV. Torino 1890. 

Verfasser rechnet Virgil zu den Homosexuellen. 

Lombroso, Cesare: L'amore nel suicidio e nel 
delitto: Conferenze Torinesi Torino 1881. 
„S. 34 f. Erwähnung der Homosexualität". 

Löwenfeld, L.: Jahrbuch der gesamten Psycho- 
therapie. Mit einer einleitenden Darstellung der 
Hauptthatsachen der medizinischen Psychologie.) Wies- 
baden 1897). 

S. 241 hypnotische Behandlung der Homosexualität. 

Martini, J.: Ein männlicher Zwitter als ver- 
pflichtete Hebamme. Vierteljahrschrift für ge- 
richtliche und öffentliche Medizin. Herausgegeben 
von Casper. (Berlin 1861). Bd. 19, S. 303. 

Moll: „Problem der Homose xuali t ä t Ä in Heft 2 
der genannten Zeitschrift für Kriminalanthropologie, 
Gefängniswissenschaft und Prostitutionswesen von 
Wenge. 



— 414 — 



Quintessenz der in dem bekannten Werke von Moll: 
„Die konträre Sexualempfindung* niedergelegten Haupt- 
gedanken: Angaben über das von den Homosexuellen 
bevorzugte Alter ihrer Geliebten. Das Vorkommen von 
Zuständen blos vorübergehender Homosexualität in der 
Pubertätszeit und in einem Stadium undifferenziertem 
Geschlechtstriebes wird betont und ein scharfer Unter- 
schied gemacht zwischen der wenn auch nur vorüber- 
gehend unter gewissen Einflüssen auftretenden Homo- 
sexualität und blossen gleichgeschlechtlichen ohne 
psychische Zuneigung und nur zur Erzielung eines localen 
Kitzels vorgenommenen Handlungen. 

Erörterung der Entstehung der Homosexualität: Meist 
angeboren, aber nur eine eingeborene Reaktionsfähigkeit 
auf bestimmte Reize vorhanden, ebenso wie beim nor- 
malen Trieb. Die Homosexualität ein Krankheitssympton, 
auch wenn sonstige Krankheitserscheinungen nicht nach- 
weisbar. Homosexualität kein Grund für die Annahme 
von Unzurechnungsfähigkeit; die Aufhebung des § 175 
dagegen dringend ratsam. 

Besprechung des Verhältnisses der Homosexualität 
zu den Degenerationszeichen, zum Pseudohermaphrodismus 
und abnormen physischen Bildungen; Bemerkungen über 
männliche Prostitution und die weibliche Homosexualität, 
sowie zum Schluss über die therapeutische Behandlung 
der Homosexualität^ insbesondere durch Hypnose. 
Moraglia (Turin): „Neue Forschungen auf dem 
Gebiete der weiblichen Criminalität, Pro- 
stitution und Psychopathie" in Heft HI der 
Zeitschrift für Criminalanthropologie etc. von Wenge 
und zwar unter Abschnitt II des Aufsatzes: Er- 
örterung über die weiblicheHomosexualität. 
Scharfe Unterscheidung zwischen Tribadismus und 
Sapphismus. Die Tribade: die geborene Konträre: Be- 
friedigungsart nur durch gegenseitige vulväre Onanie, 



— 415 — 



muluelle Friktionen der Genitalien. Fähig tieferen Ge- 
fühles und schwärmerischer Leidenschaft. 

Die dem Sapphismus ergebene Frau, die Lesbierin: 
von Natur nicht konträr, ohne horror viri. Ursache des 
Sapphismus: unbefriedigte Sinnlichkeit, Unmöglichkeit der 
Ausübimg des normalen Koitus aus sozialen Rück- 
sichten etc. Befriedigungsart: nur Onanie per os. Die 
Lesbierin nur auf grobsinnliche Wollust bedacht. 

Anführung von Beispielen und Wiedergabe ausführ- 
licher Briefe, von denen insbesondere diejenigen einer 
Tribade wegen des Tones überschwenglischer Leidenschaft 
typisch. 

Die scharfe Klassifizierung des Verfassers dürfte 
nicht richtig sein. Die Art der sinnlichen Befriedigimg 
kann niemals ein sicheres Kriterium für das psychische 
Empfinden und die Natur des Triebes abgeben. Auch 
Moll kennt Moraglias scharfe Unterscheidung nicht. 
MOFSelli: Prefazione all'opera le „amizie di 

Collegio" del Obici e Marchesini (estratto 

Roma 1898). 

Näcke, Paul: Problemi nel carapo della funzione 
sessuale normale: Archi vio delle psicopatie sessuali 
1897 N. 19 u. 20. 

Erörterung einer Reihe von Fragen über normalen 
und anormalen Geschlechtstrieb. Das Problem der 
Homosexualität und die Auffassung, wonach sie auf 
die bilatente Anlage des Geschlechts zurückzuführen 
ist, wird berührt; ferner wird die Wichtigkeit des 
Studiums der vorübergehenden homosexuellen Neig- 
ungen Normaler betont. 

Neri, S. A.: Inversione e Perversione sessuale 
complessa. Archivio delle psichopathie sessuali. 

Obici e Marchesini: Le amizie di Collegio. Ref. 
in Rivista quindicinale di psicologia 1898 pg. 139. 

Penta, P.: L'origine e la patogenesi della in- 



— 416 — 



versione sessuale secondo Krafft-Ebing e 
gli altri autori. Archivio delle psicopathie sessuali. 
Ploss, Heinrich: Das Weib in der Natur undVölker- 
künde. Herausg. von Dr. Bartels (Leipzig 1 884). II. Aufl. 

Angaben über Homosexualität des Weibes, Er- 
örterungen über Vergrösserung der Clitoris im Zu- 
sammenhang mit der Ausübung der Tribadie. Mit- 
teilungen über die grosse Verbreitung der Tribadie 
im alten Rom und im Orient. 
Polenda: Ernie ed anomalie sessuali. Archivio delle 
psicopathie sessuali 1896 Nr. 6. 

Bei sexueller Inversion fand Polenda öfters ein- 
fache und doppelte Leistenbrüche. Er wagt nicht 
eine Erklärung zu geben, glaubt aber, dass der Druck 
des Bruches auf den Samenstrang nicht gleichgiltig 
für den Samenstrang ist. 
Raffalowich, Andre 1 : „Annales de l'unisexualit£". 
(Storck u. Masson, Lyon-Paris 1897.) 
Ein Versuch, denselben Gedanken, den dieses Jahr- 
buch zu verwirklichen strebt, zur Ausführung zu bringen, 
nämlich alljährlich ein lediglich der Homosexualität und 
der Sammlung aller im Laufe des Jahres für sie bedeut- 
samen Ereignisse gewidmetes Buch herauszugeben. Die 
„Annalen" des Jahres 1897 haben leider bisher keine 
Fortsetzung erhalten. 

Sie bringen: eine Uebersicht und Kritik der im 
Laufe des Jahres 1896 veröffentlichten wissenschaftlichen 
und literarischen, die Homosexualität behandelnden oder 
berührenden Werke. Dabei sind eine Menge der in 
Raffalowichs Buch „Uranisme et Unisexualitä* und in 
der deutschen Uebersetzung „Die Entwicklung der Homo- 
sexualität **j (Berlin: Fischers Mediz. Buchhandlg. 1895) 

*) Auch als Einleitung der aus Laupts Werk entnommenen 
unter dem Titel : Der Roman eines Konträrsexuellen von Thal über- 
setzten Biographie eines Trnings abgedruckt. (Verlag von S p o h r.) 
(Siehe oben S. 415.) 



— 417 — 



näher entwickelten Gesichtspunkten eingeflochten. Die 
Anerkennung eines geborenen Homosexuellen, wobei 
dem Einfluss des Milieu für die Weiterentwickelung der 
Homosexualität für viele Fälle grosse Bedeutung bei- 
gelegt wird. Unterscheidung des gesunden und des 
krankhaften sowie des lasterhaften Homosexuellen. Eine 
scharfe Grenze zwischen Homo- und Heterosexualität 
bestehe überhaupt nicht. Homo- und Heterosexuelle seien 
in moralischer und strafrechtlicher Beziehung gleich zu 
beurteilen. Für beide verlangt Raffalowich, namentlich 
von religiösen Gesichtspunkten geleitet: Selbsterziehung 
und Unterdrückung der Sinnlichkeit. Sodann Besprech- 
ung: insbesondere der Werke von Ellis und Symonds: 
„ Das konträre Geschlechtsgefühl*, von Laupts: „Perver- 
sion et perversit£ sexuelle" sowie des Novellenbandes von 
Eekhoud: „Le cycle patibulaire", dessen künstlerischen 
Wert Raflalowich lobend anerkennt, dessen Tendenz er 
aber von seinem streng-orthodoxen Standpunkt aus miss- 
billigt. 

Reuss, L.: La Prostitution au point de vue de 
Phygifene et de l'administration en France 
et ä i^tranger. (Paris 1889.) 

S. 69 Angaben über gleichgeschlechtlichen Ver- 
kehr bei prostituierten Frauen. 

Rutgers : Ueber die Aetiologie des perversen 
Geschlechtstriebes. Psychiatrische Bladen Deel 
XII Aflevering 3. (Amsterdam van Rossen 1894.) 
S. 183. 

Sandras, C. M. S. : Traite pratique des maladies 
nerveuses Tome second. (Paris 1851.) 
S. 245 Erwähnung der Homosexualität, 
von Schrenk-Notzing: „Homosexualität und Straf- 
recht* in der wöchentlich erscheinenden „Umschau ■ 
Nr. 50 vom 10. Dezember 1898. 

Gemeinverständlicher Aufsatz: Wiedergabe der be- 

JahrbucU II. 27 



— 418 — 



kannten Associationstheorie über die „Entstehung der 
Homosexualität/ Hervorhebung des Einflusses der jüd- 
ischen Moral im Gegensatz zum griechischen Standpunkt. 
Als bestes Mittel zur Verhütung der Entwicklung anor- 
maler Triebe wird die soziale Hygiene, die zweckmässige 
Aufklärung und Erziehung, Verhinderung von Ver- 
brecherehen und Krankenfortpflanzung anempfohlen, 
von Schrenk-Notzlng: Psychotherapie. In der Real- 
Encyclopädie der gesamten Heilkunde von Eulenburg. 
3. Aufl. 1898. 
Schürmayer, J. H.: Lehrbuch der gerichtlichen 
Medizin mit Berücksichtigung der neueren Gesetz- 
gebungen des In-. und Auslandes. Für Aerzte und 
Juristen bearbeitet. 3. Aufl. (Erlangen 1861.) 

S. 365 f. Erörterung der sog. Päderastie und Sodomie 
ohne tieferes Eingehen auf die psychische Seite. 
Siemerling, E.: Sittlichkeitsverbrechen und 
Geistesstörung im Medizinischen Korrespondenz« 
blatt des Württembergischen ärztlichen Landesvereins. 
5. Oktober 1895. Bd. 65. Nr. 31. 

Die konträre Sexualempfindung wird als Teil- 
erscheinung eines pathologischen Zustandes betrachtet^ 
die jedoch an und für sich nur selten die Zurech- 
nung ausschliesse. 
Sloli: Ueber perverse Sexualempfindung. AU- 
gemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychische 
gerichtliche Medizin. 50. Bd. Berlin 1894. S. 897. 

Aehnliche Befürchtungen wie Lewin, dass die heutige 
Auffassung der konträren Sexualempfindung zur 
Monomanielehre zurückführe, hervorzuheben. 
Strassmann, Fritz: Lehrbuch der gerichtlichen 
Medizin (Stuttgart 1895). 

S. 114—123 Erörterung der Homosexualität. 
Toulouse, Edouard: L'inversion sexuelle eher 
les aliln£s. Tribüne m£dicale 1893. 



— 419 — 



Vierordt, Hermann: Medicinisch es aus der Ge- 
schichte. Tübingen 1896. 

Angaben über historische Urninge. Anerkenntnis, 
dass viele geistig hochstehende Männer homosexuell 
waren. 

Wachholz, Leo: Zur Kasuistik der sexuellen 
Verirrungen. Friedreichs Blätter für gerichtliche 
Medizin und Sanitätspolizei. 43. Jahrg. Nürnberg 1892. 

S. 433 Mitteilung eines sehr interessanten Falles 
fortgeschrittener Effemination, eines Mannes, der als 
Weib auftrat und als solches sich geschlechtlich 
Männern hingab. 

Wetterstrand, Otto 6.: Der Hypnotismus und seine 
Anwendung in der praktischen Medizin. 
(Wien und Leipzig 1891.) 

S. 52: über hypnotische Behandlung der Homo- 
sexualität. 

Wise-Wlllard, P. M.: Case of sexual perversion. 

The Alienist and Neurologist, Jan. 1883. 

Der Fall einer homosexuellen Frau, welche im 

ganzen Lande als tüchtige Jägerin bekannt war und 

eine Zeit lang mit einem andern Weib in den Wäldern 

zusammenlebte. 
Ziehen, Th.: Psychiatrie (Berlin 1894). Ein Lehrbuch. 

S. 12 und 57 Erwähnung der Homosexualität. 
Zuccarelli, Angelo: Inversione congenita delP 

istinto sessuale in due donne. EstrattoNapoli 1888. 

§ 2: Schriften der Nicht-Mediziner. 

Adam, Paul: L'assant malicieux. Revue blanche 
15. Mai 1895, geistreiche und mutige Verteidigung 
von Oscar Wilde. 

Anonym: Die Schule der Wonne, aus dem Fran- 
zösischen. (Leipzig, Carl Minde.) 

27* 



— 420 — 



Flugschrift aus der Zeit der Revolution, welche 
die Straflosigkeit gleichgeschlechtlicher Liebe begehrt. 

Anonym : Schouwtooneel: Aktenmässige Darstellung 
einer Urningsverfolgung in den Niederlanden 1730. 

Anonym: Denkschrift betreffend Aufhebung des 
§ 175 (Berlin, Steinitz 1898): Bethätigung der 
Konträr sexual -Empfindung. 

Eine kleine Schrift (20 S.), welche die Ungerechtig- 
keit der Bestrafung der Homosexualität betont und 
energisch die Abschaffung des § 175 verlangt. 

Appert, Benjamin Nicolas Marie: Die Geheim- 
nisse des Verbrechens, des Verbrecher- 
und Gefängnislebens (Leipzig 1851). 

1. Th. S. 82: Angaben über gleichgeschlechtliche 
Akte in Gefängnissen. 

Arnold, Bernhard: Sappho: Sammlung gemein- 
verständlicher wissenschaftlicher Vorträge, herausg. 
von Virchow und Holzendorff (Berlin 1871). 

Verfasser behauptet, dass es sich bei Sappho nur 
um übertriebene Freundschaft, nicht um Weiberliebe 
gehandelt habe. 

Backofen, J. J. : Das Mutterrecht. Eine Unter- 
suchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach 
ihrer religiösen und rechtlichen Natur. 2. Aufl. 
(Basel 1897.) 

Längerer Abschnitt über die Liebe der Sappho 
zu ihren Freundinnen, welche mit der Liebe des 
Socrates zu Jünglingen verglichen wird. S. 337 — 341. 
Bastian, Adolf: Zur Kenntnis Hawaiis. Nachträge 
und Ergänzungen zu den Inselgruppen in Ozeanien. 
(Berlin 1883.) 

S. 35 wird berichtet, dass Päderastie in Hawai 
vorkomme. 

Beccaria: Verbrechen und Strafe. Juristisches und 
kriminalpolitisches Werk. 



— 421 — 



S. 137 wird die Ursache des mannmännlicheD Ver- 
kehrs in dem Weibermangel erblickt 

Becker« Karl Friedrich: Weltgeschichte. (Heraus- 
gegeben von Ad. Schmidt. Mit der Fortsetzung von 
Eduard Arnd. III. Aufl. (Leipzig 1869). 

Bd. XI: Angaben über die Zuneigung Jakobs I. 
von England zu unwürdigen Lieblingen, die beim Volk 
allgemeine Unzufriedenheit erregte. 

Beyer, C: Ludwig II. König von Bayern. Ein 
Charakterbild nach Mitteilungen hochstehender und 
bekannter Persönlichkeiten und nach anderen authen- 
tischen Quellen. (Leipzig.) 

von Bismarck, Fürst Otto: Gedanken und Er- 
innerungen. (Cotta'sche Buchhandlung Stuttg. 1898.) 

Bd. I. Kapitel 1 S. 6: Erwähnung eines grossen 
Päderastenprozesses und der gleichmachenden Wirk- 
ung der mannmännlichen Liebe. 

Bodemann, Eduard: Elisabeth Charlotte von der 
Pfalz. Historisches Taschenbuch herausge- 
geben von Maurenbrecher. 6. Folge. 11. Jahrg.: 

Briefe der Elisabeth Charlotte an ihre Freundin 
Kurfürstin Sophie von Hannover über die Homo- 
sexualität ihres Gatten, des effeminierten Bruders 
Ludwigs XIV., Philipp d'Orl^ans. 

Bonnetain, Paul: Au Tonkin Charpentier Paris: 

Sittenschilderungen. Verkehr der Europäer mit 
den jungen Tonkinesen. 

Carriere, Moritz: Liebig und Platen in Lebens- 
bilder (Leipzig 1890). 

Das Freundschaftsverhältnis zwischen beiden wird 
insbesondere an der Hand von Briefen geschildert. 
Dass es sich bei Platen um homosexuelle Liebe 
handelte, wird von Carriere noch nicht deutlich er- 
kannt. 

Castilhon: Considtfrations sur les causes physiques et 



— 422 — 



morales de la diversite du genie des mocurs et du 
gouvernement des nations. Bouillon 1759. 
Erwähnung der Päderastie S. 90—92. 

Cella: Ueber Verbrechen und Strafen in Un- 
zuchtsfällen, juristisches Buch. 

S. 66 wird die Ursache der Päderastie in der un- 
begrenzten Geilheit, in dem durch übermässige 
Sättigung entstandenen Ekel an dem Genuss natür- 
licher Wollust gesehen. 

Claepius, Ludovicus: Dissertationeula juridica de Crimine 
Sodomiae oder »Von der Sodomiterey" Halae, Magde- 
burg 1669. 

Juristische Dissertation über die verschiedensten 
Unzuchtakte, insbesondere über Päderastie. 
Damian!, Peter: Liber Gomorrhianus. 

Schrift eines Kirchenfürsten aus dem 11. Jahr- 
hundert mit der Schilderung der Fleischessünden und 
Ausschweifungen des Clerus. 
von Dankelmann, E.: Päderastie. Aufsatz in der Zeit- 
schrift die „Kritik* Nr. 136, Mai 1897. 
Dodge, W.P.rPiersGaveston. (Fischer, London 1898.) 
Eine historische Studie über Gaveston, den Ge- 
liebten von Eduard IL (deren Verhältnis ein Drama 
von Marlowe schildert). 
Dubut de Laforest: Pathologie sociale (Paris 1897). 

S. 493 Erwähnung der Homosexualität 
Duttenhofer, F. M.: Die krankhaften Erscheinungen des 
Seelenlebens für Aerzte, Psychologen, Naturforscher 
und gebildete Laien. (Stuttgart 1890.) 
S. 163 Erwähnung der Päderastie. 
Ehlers, Martin: Betrachtungen über die Sittlich- 
keit der Vergnügungen, 1 Tl. (Flensburg und 
Leipzig.) 

S. 198 Erwähnung der Faderastie. 



— 423 — 



Ehrenberg, Friedrich: Euphranor, Ueber die 
Liebe. Ein Buch für die Freunde eines gebildeten 
und glücklichen Lebens. 1 Th. 2. Aufl. (Elberfeld 
und Leipzig 1809.) 

S. 114 Ausführungen über gewisse Gefühle zwischen 
Personen gleichen Geschlechts, die nur als homo- 
sexuelle aufzufassen sind. 

Ferrlani, Carl Lino: Minderjährige Verbrecher, 
deutsch von Alfred Ruheroann. (Berlin 1896.) 

S. 158 Angaben über mutuelle Masturbation und 
päderastische Akte in Instituten. 

Feuerbach, Anselm: Lehrbuch des gemeinen, in 
Deutschland geltenden peinlichen Rechts 
herausgegeben von Mittermaier. (Giesen 1847.) 

In § 468 wird als Grund der Bestrafung der 
Päderastie die dem Staate drohende Schädigung, und 
die in Folge der körperlichen und geistigen Ent- 
nervung des Thäters zu befürchtende Entvölkerung 
angesehen. 

Forbijjer, Albert: Hellas und Rom; populäre Dar- 
stellung des öffentlichen und häuslichen Lebens der 
Griechen und Römer. 2. Abth. 1. Bd. (Leipz. 1876.) 

S. 283 Ausführungen über die Päderastie im 
Altertum. 

Fournier-Verneuil: (auteur de curiositl et indiscr&ion) 
et Huron de Montrouge: „Tableau moral et 
philosophique de Paris." (Paris 1826.) 

Ein tendenziöses gegen die Jesuiten gerichtetes 
Machwerk, welches in übertriebener, skandalsüchtiger 
Weise die Sittenschilderung von Paris unter der 
Restauration geben will. Zahlreiche Stellen über 
homosexuellen Verkehr: über die Art und Weise 
der Homosexuellen öffentlich Bekanntschaft zu 
schliessen, über die Zusammenkunftsorte, die männ- 
liche Prostitution u. s. w. so S. 153, 313, 332—338, 



— 424 — 



367, 397, 398. Besonders Adelige, höhere Beamte 
und hohe Würdenträger werden unter den Homo* 
sexuellen genannt. 

von Franke, J. H.: „Die Männerliebe als ein Ele- 
ment der sittlichen Entartung des Menschen- 
geschlecht s. (Selbstverlag Zürich u. Säckingen.) 

Friedländer, Ludwig: Darstellungen aus der 
Sittengeschichte Roms in der Zeit von Au- 
gustus bis zum Ausgang der Antonine. (6. A. 
Leipzig 1890.) 

Geiger, Ludwig: Renaissance und Humanismus 
in Italien und Deutschland. (Berlin 1882.) 

Geiger berichtet, dass Antonio Beccadelli aus 
Palermo (f 1471) auch Panormitanus genannt, im 
Hermaphroditus die unnatürlichen Laster geisselte. 
Gibbon, Edward: History of the decline and fall 
of the Roman empire. 

Angaben über die Homosexualität der römischen 
Kaiser. 

Gre gor ovius, Ferdinand: Der Kaiser Hadrian: Ge- 
mälde der römisch-hellenischen Welt zu seiner Zeit. 
3. AufL (Stuttgart 1884.) 

Grohmann: Grundriss des Kriminalrechts. 

§§ 397, 398, 400. Die Bestimmungen über die 
Bestrafung der Päderastie am Ende des 18. und 
Anfang des 19. Jahrhunderts in Deutschland. 

Häberlin: Grundsätze des Kriminalrechts nach 
den neuen deutschen Strafgesetzbüchern. 
(Leipzig 1845.) 

Bd. IL § 135. Angabe der strafrechtlichen Be- 
stimmungen gegen Päderastie. 

von Hammer-Purgstall, Joseph: Geschichte des 
Osmanischen Reichs. (Pesth 1840.) 4. Bd.: 

Erwähnt wird ein Befehl des Grossvezier bei Be- 
ginn eines Feldzuges im Jahre 1771 alle „Lotter- 



— 425 — 



buben* aus dem Lager zu entfernen; der Befehl 
wurde nicht befolgt. 
Hancarville : Monuments priv£s de la vie des douze 
Casars. 

Heinse: Geheime Geschichte des römischen Hofes 
unter der Regierung des Kaisers Nero. 2 Bde. 
Rom 1783. 

Hellmann, Roderich: Ueber Geschlechtsfreiheit: 
Ein philosophischer Versuch zur Erhöhung 
des menschlichen Glückes. (Berlin 1878.) 

Ein eigentümliches in geschlechtlicher Beziehung 
sehr frei denkendes Buch, das in einem der letzten 
Kapitel auch Straflosigkeit des gleichgeschlechtlichen 
Verkehrs verlangt, weil Niemand dadurch geschädigt 
wird. 

Hennequln, Victor: Sauvons le genre humain. 
(Paris 1853.) 

S. 112 flgd. Erwähnung der Päderastie. 

von Herder, Johann Gottfried: Charikles oder 
Bilder altgriechischer Sitte. (1890.) 

2. Bd.: Besprechung der griechischen Knabenliebe. 

Herzen, W.: Die konträre Sexualempfindung und 
der § 175 des R.-St.-G.-B. in der „Neuen Zeit«. 
Nr. 44. XVI. Jahrgang. II. Bd. 1897—1898. 

Der Aufsatz billigt die Bestrebungen zu Gunsten 
der Aufhebung des § 175 des St.-G.-B., dessen Be- 
seitigung er ebenfalls verlangt. 

Hug, Arnold: Ausgabe von Plato's Symposien. 
Bemerkungen über die griechische Knabenliebe. 

James, William: The priciples of psychologj. 
(New-York 1890.) Vol II S. 438. 

Heute sei die Homosexualität eine pathologische 
Erscheinung, im Altertum habe es sich um eine an- 
geborene Neigung gehandelt, die unter normalen 
Verhältnissen nicht hervortrete. Der „Isolierungs- 



— 426 — 



trieb", d. h. das Streben, die körperliche Berührung 
mit Personen gleichen Geschlechts zu vermeiden, sei 
bei den Griechen in Folge von Gewohnheit und Bei- 
spiel unterdrückt worden. 

Jansen, Albert: Leben und Werke des Malers 
Giovantonio Bazzi von Vercelli genannt il 
Soddoma. (Stuttgart 1870.) 

Angaben über die Homosexualität von Soddoma. 

Jonas: § 175. In der Neuen Zeit. Nr. 6. Jahrg. XVII. 
I. Bd. 1898,99. 

Die Beseitigung des § 175 wird begehrt. 

Jousse: Traitd de le justice criminelle en France 
(Paris 1771.) 

T. II S. 119: Angaben über die Bestrafung der 
Päderastie (Lebendig Verbranntwerden) in Frank- 
reich im 18. Jahrhundert 
Kappler: Handbuch der Litteratur des Criminal- 
rechts. (Stuttgart 1838.) 

Die Bestimmungen und die Praxis bezüglich der 
Päderastie am Ende des 18. und Anfang des 19. 
Jahrhunderts werden angegeben. 
Klenke, H.: System der organischen Psychologie. 
(Leipzig 1842.) 

Verfasser spricht statt von einer gleichgeschlecht- 
lichen von einer pytagoräischen Liebe. Eine der 
ersten ruhigeren wissenschaftlicheren Auffassungen 
des Gegenstandes. 
Klopp, Onno: Der König Friedrich II. von 
Preussen und seine Politik. 2. Aufl. (Schaff- 
hausen 1867.) 

Verfasser nimmt die päderastischen Neigungen des 
Königs an. 

Komer: Entwurf eines Strafgesetzbuches für 
Oesterreich. Motivierung der Abschaffung der 
Bestrafung der gleichgeschlechtlichen Liebe. 



— 427 — 



Lamalresse: Le Kama Sontra. 

Französische Uebersetzung des heiligen indischen 
Liebescodex: häufige Erwähnung des gleichgeschlecht- 
lichen Verkehrs. 
Lammasch: In Zeitschrift für gesamte Strafrechtswissen- 
schaft. Bd. XV. Heft 4 und 5. 

S. 638. Verfasser befürchtet von der Straflosigkeit 
des gleichgeschlechtlichen Verkehrs, Schädigung des 
Staates und Zerrüttung der Ehe. 
Lenz, Oskar: Timbuk tu: Reise durch Marokko, die 
Sahara und den Sudan, ausgeführt im Auftrage der 
afrikanischen Gesellschaft in Deutschland, in den 
Jahren 1879 und 1880. I. Bd. (Leipzig 1884). 

S. 367 Ueber die Sitten der Grossen in Marokko 
verschnittene Negerbuben zum geschlechtlichen Ver- 
kehr sich zu halten. 
Leppmann: Bericht über den Lustmord in den 
Mitteilungen der internationalen kriminalistischen 
Vereinigung. Bd. V. Heft 3 1896. S. 505-507. 

Leppmann betont, dass konträre Sexualempfindung 
und sadistische Neigungen mit einander kombiniert, 
selten beobachtet worden sind; er führt zwei Bei- 
spiele von Lustmord an Knaben an. 
Lessing, G. E.: Schriften. 3. T. Rettungen des 
Horaz. (Berlin 1754.) 

S. 42—57 über die Frage der Homosexualität 
von Horaz. 

V. Uszt, Franz: Lehrbuch des Strafrechts: (Berlin 
Verlag Guttentag 1894.) 

In S. 107 ist die historische Entwicklung der straf- 
rechtlichen Bestimmungen gegen gleichgeschlechtlichen 
Verkehr und der heutige Stand der Gesetzgebung 
wiedergegeben. Verfasser ist im Prinzip für Straf- 
losigkeit. 



— 428 — 



Hacö, 6.: Un joli monde. 1 

Mon mus<*e animal. I (Paris 6d Charpentier.) 
Mes lundis en prisonj 

Angaben über die männliche Prostitution in Paris, 
die Erpressung und den Verkehr der Homosexuellen 
mit den gefährlichen „petits J&us", welche die 
Urninge anlocken, um sie durch ältere Verbrecher 
ausbeuten zu lassen. 
Michelet, J.: Procfes des Templiers. 

Zahlreiche Stellen über die gleichgeschlechtlichen 
Handlungen der Templer, insbesondere Bd. I, S. 387, 
Bd. IL, S. 223, 208. 
Michelet, J.: Histoire de France (Paris Vasseur). 
T. 14, 15, 16; 17. 

Eine Reihe von Auslassungen über historische 
Urninge und überhaupt über die Homosexualität 'zur 
Zeit Ludwig XIV. und XV. und die Sitten der 
jungen Höflinge, insbesondere über den Bruder 
Ludwig XIV., Philipp d' Orleans. „Dieses ge- 
schminkten, koketten Weibes, das bemalt und in 
Weiberkleidern am Arm seines Geliebten, des Chevalier 
de Lorraine auf den Ball ging.* (T. 15. p. 57 u. 137.) 
Mlrabeau: Histoire secrfete delecourde Berlin ou 
Correspondance d'un voyageur fran^ais depuis les 5 
juillet 1786 jusqu'au 19 janvier 1787. Tome secoad 
1789. 

S. 98 und 131 über die Knabenliebe des Prinzen 
Heinrich, des Bruders Friedrichs des Grossen. 
Mlrabeau: Erotika Biblion. (2 <& Paris 1792. Chez 
Le Jay, rue Xeuve-des-Petits Changes prfes celle de 
Richelieu, an Grand Corneille Nr. 146.) (sehr selten!) 

Eine unzüchtige, rein erotische Schrift mit ein- 
gehenden Auslassungen über gleichgeschlechtlichen 
Verkehr, namentlich S. 126. 



— 429 — 



Miratar, F.: Seminar-Geheimnisse: Kuriose Geschichten 
aus einem Erziehungsinstitute für Studierende. (III. 
Aufl. München 1896.) 

Moldenhauer, Daniel: Prozess gegen den Orden 
der Tempelherrn. Aus den Original- Akten der 
päpstlichen Commission in Frankreich. (Hamb. 1732.) 

de Montaigne, M i che 1: Essais: Sur l'amiti£. Bd. I, 
Kap. 27. 

Hat wohl nur die Freundschaft im Auge, spricht 
aber von seinem Verhältniss zu La B^otie im Tone 
- leidenschaftlicher Liebe. 
Montesquieu: Esprit des lois. 

Livre 12, Chap. 6, ferner Ii vre 4, Chap. 8: letztere 
Stelle über den homosexuellen Verkehr der Thebaner. 
Müller, Joseph: Ueber Gamophagie. Ein Versuch 
zum weiteren Ausbau der Theorie der Befruchtung 
und Vererbung. (Stuttgart 1892.) 
S. 40 Erwähnung der Homosexualität. 
Münter, G ustav Wilhelm: Geschichtliche Grund- 
lage zur Geisteslehre des Menschen oder 
die Lebensäusserungen des menschlichen 
Geistes im gesunden und krankhaften Zu- 
stand. (Halle 1850.) 

S. 203 Erwähnung der Päderastie. 
Muyart de Vouglans: Traite des lois criminelles 
de la France. (Paris 1780.) 

S. 243 Angaben über die Bestrafung der Päderastie 
in Frankreich im Mittelalter und der Neuzeit bis zur 
Zeit des Verfassers. 
NeiSSer, Karl: Die Entstehung der Liebe. Zur 

Geschichte der Seele. (Wien 1897.) S. 45. 
Nelsser, Karl: Die arische Sexualreligion, als 
Volksveredelung im Zeugen, Leben und 
Sterben. Mit einem Anhang über Menschen- 



— 430 — 



Züchtung von Freiherrn Dr. Karl, Du PreL 
(Leipzig 1897.) S. 294. 

In beiden Werken Erörterung der Homosexualität. 
Oelzelt-Newin, Anton: Ueber sittliche Disposi- 
tionen. (Graz 1892.) 

S. 66 Erwähnung der konträren Sexualempfindung. 
Panizza, Oscar: Der teutsche Michel und der 
römische Papst. Altes und Neues aus dem 
Kampfe des Teutschtums gegen römisch-wälsche 
Ueberlistung und Bevormundung in 666 Lesen und 
Citaten. Mit einem Begleitwort von Michael Georg 
Conrad. (Leipzig 1898.) 

S. 260 Angaben über die Homosexualität des 
Papstes Sixtus V. 
Prantl, K.: Piatos Gastmahl und Phädrus. 

Anmerkungen dazu mit Besprechung der griech- 
ischen Knabenliebe. 
PreilSS, Johann: Friedrich derGrosse. (Berlin 1832.) 
Bd. I mit Erörterungen über die bezüglich der 
angeblichen Homosexualität des Königs verbreiteten 
Gerüchte. 

Prudhomme, Louis Marie: Vergehungen der 

Päpste vom heiligen Peter an bis auf Pius 

den VI. (1793.) 

S. 527 wird behauptet, dass Paulus II. der 

Sodomie ergeben gewesen sei. 
Prutz, Hans; Entwicklung uud Untergang des 

Tempelherrnordens. (Berlin 1888.) 

S. 152: genauere Angaben über die im Prozess 

der Templer festgestellten gleichgeschlechtlichen 

Handlungen. 

Quistorp: Grundsätze des deutschen peinlichen 
Rechts mit Anmerkungen von Klein (1812)* 

Bd. II S. 496 flgd: Die Bestimmungen und die 
Praxis bezüglich der Bestrafung der Päderastie im 
18. Jahrhundert. 



— 431 — 



Raehilde: Question brillante: in der Revue blanche 
vom 1. September 1876. 

Sehr geistreicher, vernünftiger Artikel über die 
Frage der völlig freien Liebesbethätigung. 
Raffolovich, M. Andrer Gli studii sulle psicopat ie 
sessuali in Inghilterra. Archivio delle psicopatie 
sessuali, vol. 1, fasc. 13 e 14, 1 — 15. (Luglio 1896). 
Ueber die Homosexualität in England, 
de RÖgla, Paul: Les Bas-Fonds de Constantinople. 
3. «d. (Paris 1893.) 

S. 115 über gleichgeschlechtlichen Verkehr zwi- 
schen Weibern in der Türkei. 
Rettig, G. F.: Erläuterungen zuXenophons Gast- 
mahl. 

Angaben über die griechische Knabenliebe. 
Rein, Kriminalrecht der Römer. (Leipzig 1844.) 

S. 864 über die strafrechtliche Behandlung der 
Päderastie bei den Römern. 
Ribot, Th.: La psychologie des sentiments. (Paris 
1896.) S. 253—256, und Les maladies de la 
personnalit& (Paris 1885.) 

S. 74 — 76 Erwähnung der contr. Sexualempfind. 
Roscher: Grundzüge der Nationalökonomie. 

S. 209: Die kretische Gütergemeinschaft soll sich 
namentlich auf obrigkeitlich befohlene Päderastie ge- 
stützt haben. 

St ... r, Baron: Hof und Gesellschaft in deut- 
schen Residenzen. (Berlin 1895.) 

S. 292 flgd. Ueber die Beziehungen des ver- 
storbenen Königs Karl von Württemberg zu seinen 
amerikanischen Gesellschaftern. 

V. Schettler, Ludwig: Michelangelo:*) Eine Renais- 
sancestudie. (Altenburg 1892.) 

*) Siehe oben den Aufsatz von Numa Praetorius S. 254. 



— 132 — 



Zum ersten Male eine annähernd richtige Auffassung 
der wahren Natur der in den Gedichten Michel 
Angelos ausgedrückten Gefühle: 
Schmitz, Hermann Joseph: Die Bassbücher und 
die Bussdisziplin der Kirche. Nach hand- 
schriftlichen Quellen dargestellt (Mainz 1883.) 

S. 249, 265, 275, 28 \ y 282, 299, 361, 407, 455 und 
527 Erwähnung der Päderastie. 
Schräder: Corpus juris civilis (Berlin 1832). 

Bd. L S. 758: Bestrafung der Päderastie bei den 
Römern im Falle von Verführung Minderjähriger. 
Schultz, Alwin: Das höfische Leben zur Zeit der 
Minnesänger. 1 Bd. (Leipzig 1889) 

S. 585—587 ausführliche Angaben über gleich- 
geschlechtlichen Verkehr zur Zeit der Minnesänger. 
Scott, Colin A.: Sex and art, American journal of 
psycology, Vol. 7. N. 1896. 

S. 217 über den angeblichen Einfluss der Ein- 
bildungskraft auf die Entstehung der Homosexualität. 
Sueton: Duodecim vitae imperatorum. 

Angaben insbesondere über Neros Homosexualität. 
Surbled, Georges: La m orale dans ses rapports 
avec la mldecine et Phygifene. Tome second: 
La vie sexuelle. 3. £d. (Paris 1892.) 

S. 64 flgd. Erwähnung der Homosexualität. 
Stieber: Ueber die Berliner Prostitution. 
(Berlin 1897.) 
Ein Anhang handelt über die urnische Liebe. 
Thompson, U. H. : Ausgabe von Piatos Plädrus. 

Bemerkungen über die griechische Knabenliebe. 
Tittmann: Handbuch der Strafrechtswissenschaft 
der deutschen Strafgesetzkunde (Halle 1823) 
Bd. II § 590. Angaben über die Bestrafung der 
Päderastie. Ziemlich milde Auffassung Tittmanns: 
Erziehung und Begünstigung der Ehe die besten 



- 433 — 



Mittel zur Verhütung der Päderastie. Es sei besser, 
von der Handlung keine Kenntnis zu nehmen, als 
durch die Untersuchung erst recht Aergernis zu 
erregen. 

Tourtual: Ein als Weib verehelich ter Androgynus 
im kirchlichen Forum: Vierteljahrsschrift für 
gerichtliche und öffentliche Medizin, Berlin 1856, 
Bd. X, S. 18. 

Valmaggi, L.: Virgilio anomale? Rivisti di Filo- 
logia e d'fstruzione classica (Torino 1890). 

Vehse, Eduard: Geschichte der deutschen Höfe 
seit der Reformation, 26. Bd., (Hamburg 1853). 

Angaben über Friedrich I., König von Württem- 
berg, über einen Minister Augusts III., Königs von 
Polen, Graf v. Brühl, über Prinz Eugen, und deren 
Verkehr mit jungen Männern, der die Homosexualität 
dieser Personen wahrscheinlich macht. 

Voltaire: Dictionnaire philosophique: Amour 
socratique. 

Für die damalige Zeit ziemlich duldsame Auf- 
fassung. 

Wasserschieben, F.W. H.: Die Bussordnungen der 
abendländischen Kirchen nebst einer rechts- 
geschichtlichen Einleitung (Halle 1851). 

S. 101, 107, 158, 171, 181, 185 etc. Erwähnung 
der Päderastie. 

von Wächter, Karl Georg: Abhandlungen aus dem 
Strafrecht. (Leipzig 1835.) 

S. 170 flgd. Eingehende Erörterung über die ge- 
schichtliche Entwicklung der strafrechtlichen Be- 
stimmungen gegen den gleichgeschlechtlichen Ver- 
kehr bei den Römern, im Mittelalter und der Neuzeit, 
insbesondere unter Berücksichtigung der Gesetzgebung 
Sachsens, (S. 159 flgd.) 

Jahrbuch II. 28 



— 434 — 



Weber, Carl Julius: DieMöncherey (Stuttgart 1820 
Bd. IH 1 S. 314. 

Mitteilungen über das Klosterleben am Ende des 
18. Jahrhunderts. Das von den Mönchen beliebte 
Spiel des „Hochzeitshaltens" mit den als Singknaben 
angestellten Jungen wird erwähnt Verfasser spricht 
ferner von den Faunenblicken, welche die Mönche 
auf schöne Jünglinge warfen and dass sie sie küssten, 
wie Jupiter den Ganymed und Socrates den Alci- 
biades geküsst haben soll. 

Weber, Carl Julius: Das Papsttum und die Päpste 
(Stuttgart 1839) Bd. I S. 348. 

Verfasser giebt dem Cölibatsgesetz Hildebrands 
die Hauptschuld an der grossen Verbreitung des 
gleichgeschlechtlichen Verkehrs im Clerus. Die 
Effeminatio des Papstes Paulus IL wird erwähnt. 

Welcker, Friedrich Gottlieb: Sappho von einem 
herrschenden Vorurteil befreit (Göttingen 
1816). 

Bekämpfung der Annahme der homosexuellen Liebe 
der Sappho. 

Wiedemeister: Der Cäsarenwahnsinn der Julisch- 
Claudichen Imperatorenfamilie (Hannover 
1875). 

v. Wollzogen, Freiherr Ludwig: Memoiren aus 
dessen Nachlass, mitgeteilt von Alfred Freiherrn von 
Wollzogen (Leipzig 1851). 

S. 31 flgd. Angaben über die Günstlingswirtschaft 
beim König Friedrich I. von Württemberg, ins- 
besondere auch über dessen Liebling Graf Dillen. 

v. Zimmermann, Bitter: Fragmente über Friedrich 
den Grossen. Zur Geschichte seines Lebens, seiner 
Regierung und seines Charakters. 1 . Bd. (Leipzig 1790). 

S. 70 — 100 Verteidigung des Königs gegen den 
angeblichen Yerwurf des gleichgeschlechtlichen Ver- 



— 435 — 



kehre: Behauptung der Unfähigkeit des Königs zum 
Beischlaf in Folge einer chirurgischen Operation. 
Friedrich habe die Neigung für das männliche Ge- 
schlecht simuliert, um keinen Verdacht auf deinen 
körperlichen Fehler zu lenken! 

Zicino, G.: Shakespeare un psicopata sessuale? 
Archivio di psicopatia sessuali (Roma. Napoli 
November 1896). 

Zyro, Ferdinand Friedrich: Wissenschaftlich- 
praktische Beurteilung des Selbstmordes. 
(Bern 1837). 

Erwähnung der Erzählung von Pouqueville aus 
dem Jahre 1805, wonach die lesbische Liebe im 
Harem verbreitet war. 



Kapitel 2: Belletristisches. 

Anonym: Getroffene Bilder aus dem Leben vor- 
nehmer Knabenschänder. (Merseburg, Friedrich 
Weidmann, 1833.) 

Anonym: Distraction de l'lquipage (rein porno- 
graphisch.) 

Anonym, Tim (aus dem Englischen übersetzt; Engelhorns 
allgemeine Romanbibliothek. 11. Jahrgang. 19. Bd. 
Stuttgart 1895.) 

Die schlichte, aber psychologisch äusserst feine und 
im guten Sinne rührende Erzählung der leidenschaft- 
lichen Zuneigung eines Knaben, Tim, zu seinem 
Jugendfreund Carol. Tim geht in seiner grenzen- 
losen Liebe soweit, dass er Bruch der Freundschaft 
und Gleichgiltigkeit erheuchelt, um nicht das Ver- 
hältnis von Carol zu dessen eifersüchtigen Braut zu 



— 436 — 



trüben. An dieser Aufopferung und Selbsverleugnung 
siecht dann aber Tim langsam dahin. 

Obgleich völlig rein und ideal gehalten, tritt doch 
der homosexuelle Charakter der geschilderten Ge- 
fühle deutlich hervor, 
de Balzac, Honorl: Scfenes de la Vie Parisienne: 
. Splendeurs et misferes des courtisanes La 
dernifere incarnation de Vautrin. 

Die homosexuelle Leidenschaft des grossartigen 
Verbrecherhelden Vautrin zu dem schönen Rubenprö 
und zu einem jungen Verbrecher Theodore Calvi. 
de Balzac, Honorar Sarrazine: 

Ein junger Maler verliebt sich in einen als Weib 
gekleideten Castraten des sixtinischen Chores und 
wird im Augenblick, wo er das wahre Geschlecht 
des Sängers entdeckt, von gedungenen Söldnern des 
Geliebten des Castrates, eines Cardinais, erstochen, 
B6ranger, Chansons: Oeuvres complfetes. T V Supple- 
ment (Paris 1834) Pg. 49. U Hermaphrodite: 
Spottgedicht über einen Androgenen. 
Bourget, Paul: Un crime d'amour. (Paris Lemerre.) 
Einige Seiten in den ersten Kapiteln über die 
Knabenliebschaften in den französischen Lyceen. 
Cladel, L6on: La FSte Votive. (Paris Lemerre.) 

Pg. 48 flgd. 
Cladel, L£on: Ompdrailles. 

Einige Stellen sehr zärtlicher Freundschaft. 
Cladel, L£on: Les Vas-Nu-Pieds (Paris Charpentier) : 
Le Nomm£ Quouael: S. 70, 71: Gefängnissitten. 
Corbiöre, Tristan: Les amours jaunes (Paris Vannier.) 
Le Renegat S. 234: Der Renegat ist ein Ma- 
trose, der sich zu jeder Art Liebe hingegeben hat. 
Delacour, Albert: Le Roy (Ed. Mercure de France 
1898): Roman. Zuerst in der Zeitschrift Mercure de 
France selber veröffentlicht 



— 437 — 



Einige Stellen homosexuellen Inhalts: Plötzliche 
Leidenschaft des Prinzen d'Armorique zu dem Helden 
des Romans, dem Kraft und Naturmenschen, Louis 
Henri de Bourbon. Versuch des Prinzen den Louis- 
Henri zu verführen, wobei letzterer den Prinzen 
tötet, aber mehr deshalb, weil sein Wille sich da- 
gegen aufbäumt^ dass ein Anderer seinen Willen 
ihm aufzudrängen wagt, als aus sittlichem Abscheu. 

Descaves Lucien: Sous-Off. (Stock., Paris 1889). 
Militärroman. 

S. 419 Erwähnung eines Zusammenkunftortes von 
Homosexuellen, der Wirtschaft , Aux amis des soldats", 
wo der Adjudant Laprevotte verkehrt, der „auch so 
ist". Diese Stelle soll im Sinne des Verfassers den 
Gipfel der Fäulnis des Unteroffizierkorps darstellen. 

Eekhoud, Georges 41 ): La nouvelle Carthage 
(Bruxelles Lacomblez 1893). 

(Die Kapitel le Moulin de pierre; les Runners; 
Contumace; Cartoucherie.) 

Eekhoud, Georges: Mes communions (Paris Mercure 
de France 1897). 

Besonders die Novellen : Une partie sur l'eau, Apoll 
et Brouscard; Une mauvaise rencontre, le sublime 
escarpe. 

Eekhoud, Georges: Tremeloo: Conte (Mercure de 

France Aoüt 1897.) 
Friedrich der Grosse: Oeuvres posthumes de 
Fr£d£ric le Grand, roi de Prusse. Tome 4. (1788). 
Das Gedicht „Le Palladion" spricht in scherz- 
hafter Weise über die Päderastie. (S. 91—93.) 

Auch das Gedicht: „La Palinodie k Darget* 
atmet einen ähnlichen Geist in seinen offenen Aus- 
lassungen über päderastische Beziehungen zwischen 
Jesuiten und jungen Mönchen. 

*) Siehe oben den Absatz von Numa Prätorius über Eekhoud. 



— 438 — 



Gide, Andr£: Les nourritures terrestres (Ed Mer- 
cure de France). 

T. 62, 63, 91, 120, 121, 124, 12 «, 153, 181 und 
andere zahlreiche Stellen voll lyrischen Enthusiasmus 
für schöne Burschen und ländliche Arbeiter. 

de Gourmont, Remy: Les chevaux de Diom&de. 
(Ed Mercure de France) Roman. 

Ein Passus, wo von der sehr einigen und ziemlich 
mächtigen Secte der Homosexuellen und ihren Er- 
kennungszeichen gesprochen wird. 

de Goucourt, Edouard: La Faustin (Paris Charpentier 
1882). Roman. 

Der englische Lord Sedwyll (gegen Schluss des 
Romans) ist offenbar als Homosexueller gezeichnet. 

Huysmans, J. K.: A Rebours (Paris: Charpentier 1884). 
Roman Kap. IX am Schluss S. 145—147. 

Die zufällige Bekanntschaft des Helden, des Es- 
seintes, des Neuropathen und Decadenten, mit einem 
jungen Mann, mit dem er ein monatelang dauerndes 
Liebesverhältnis anknüpft, das ihn, wie kein anderes 
früheres, vollauf befriedigt und auch später noch mit 
Sehnsucht erfüllt Die Stelle ist in der deutschen 
Uebersetzung weggelassen. 

Huysmans, J. K: La- Bas (Tresse et Stock Paris 1891) 
Roman mit der Erzählung über den Marchai 
Gilles de Rays, das Scheusal aus dem 15. Jahr- 
hundert, der zur Befriedigung seines sadistischen 
Mord- und Geschlechtstriebes hunderte von Knaben 
tötete, bis er schliesslich zur Strafe verbrannt wurde. 

Huysmans, J. K.: La Bi&vre et Saint-Slverin (Paris 
Stock 1898). 

S. 164. Bei der Beschreibung einer Verbrecher- 
spelunke des alten Pariser Quartiers St. Severin 
nennt Hysmans als ständigen Besucher der Spelunke 
;«~or en Burschen ,die schöne Clara" mit einem 



— 439 — 



Engelskopf ä la Boticelli, langem Haar und auffallend 
klaren Augen, der, erst 20 Jahre alt, schon 6 Ver- 
urteilungen wegen Sittlichkeitsvergehen aufzuweisen 
hat. 

Japanische Litteratur. 

1. M. Sasanoya: „Nanskoku (Päderastie). Tokio 
1893/94. Veröffentlicht in der illustrierten Monats- 
schrift „Fuzoku-Gaho* (Japanisches Leben) Nr. 58, 
59, 60, 62 und 66. 

Eine vollständige Geschichte der Päderastie in 
Japan von den ältesten Zeiten bis zur Einführung 
westlicher Kultur. 

2. Ohaski Shiutaro: „Nanskoku Okagami" (Päderast- 
ische Geschichten) in „Seikaku Zensku" (erotische 
Essays). Tokio 1894. 2 Bde. Eine Sammlung zum 
Teil sehr freier Novellen in acht Büchern. 

3. Nobutoki Kitamwra: „Kiju-shoran" (Japan- 
ische Sitten und Gebräuche.) 

4. a) „Mokudru Monoyatani:" eine klassisch schöne 

Novelle auf diesem Gebiet. 

b) Shidzu-no-Odomaki. 

c) Tsune-Asure-gusa. 

Drei Novellen. 

5. „Seikaku Nanskoku Mokuroku" f = Katalog päder- 
astischer Litteratur, erschienen gegen 1830; zählt 177 
Nummern zumeist obscöner Schriften auf. 

Keine der Schriften ist bis heute in einer fremden 
Sprache erschienen. Nr. 1 wird demnächst in deut- 
scher Sprache veröffentlicht werden. 

6. In englischen und japanischen Zeitungen der 
letzten Jahre finden sich verschiedentlich längere 
Angaben über die Verbreitung der Homosexualität 
in Japan, so in 

„The Japan daily Mail vom 2. September 1896." 
„The Eastern World vom 19. Februar 1998." 



— 440 — 



„Yominsi Shimbun vom 13. Juli 1898." 
„The Eastern World vom 20. Mai 1899." 
„The Eastern World vom 27. Mai 1899." 
Jarry, Alfred: Les jourset les nuits, roman d'un 
d&erteur. (Ed. Mercure de France) P. 177. (heure 
militaire.) 

Eine seltsame Szene von sexueller Gewaltthat eines 
Soldaten gegenüber einem andern. 
Karadek, Jan.: „Sodoma" (Prag, Selbstverlag). 

Roman in czechischer Sprache mit viel Talent und 
Phantasie, homosexuelle Empfindungen schildernd. 
Lebacq, Georges: Nuits subversives (Bruxelles, 
Janssens). 

Ein etwas zerfahrenes und naives Buch eines noch 
sehr jungen Mannes; eine homosexuelle Liebe bildet 
das Hauptinteresse des Werkes. 
Loti, Pierre: Le Roman d'un Spahi (Calman-Levy 
Paris 1886). 

Chap. 20, P. 77: Freundschaft zwischen Johann 
und dem Offizier: Andeutung homosexuellen Inhalts. 
Chap. 21, P. 80: Beschreibung einer Kneipe im 
Senegal, wo auch Lustknaben erwähnt werden. 
Loti, Pierre: Le Mariage de Loti (Calman-Levy. 
Paris 1880> 

P. 246, Chap. 22 Ende: Das Verweilen Tehuros 
bei dem fiebernden Loti: Ein homosexueller Inhalt 
der Stelle nur zwischen der Zeile zu lesen, aber 
zweifellos ein solcher gemeint. 
Martens, Kurt: Roman aus der Dlcadence (Fon- 
tane, Berlin 1898). 

S. 159 flgd.: Eine ganze Entwicklungsgeschichte 
des Geschlechtstriebes, wie er, zuerst auf die Alumnat- 
genossen gerichtet, doch schliesslich die normale 
Bahn findet. Vorzügliche Schilderung, namentlich 
der Knabenliebschaften. 



Mendts, Catulle: Lesbia (Charpentier, Paris 1896). 

Ein Band seichter oft lüsterner und obscöner Er- 
zählungen. Eine „Idylle d'automne": behandelt 
die „Idylle" zwischen zwei Weibern. 

Mötenier, Oscar: La chair (Kistemaecker Bruxelles). 
Eine Novelle dieses Buches berichtet über das 
Abenteuer eines homosexuellen vornehmen Dichters, 
der seinen Geliebten, einen schönen Athleten, Ver- 
stössen hatte und von diesem in eine Falle gelockt wird. 

Michelangelo, Buanorotti: Sonette*) (deutsch zuletzt 
von Carl Frey, Stuttgart 1897). 

Hirbeau, Octave: Slbastien Rock (Charpentier Paris) 
Roman. 

Einige Kapitel über die gleichgeschlechtlichen 
Handlungen in einer Jesuitenschule, die zeigen wollen, 
wie die Schüler durch einen der Jesuitenväter ver- 
führt werden. Der gehässige Antiklerikalismus des 
Verfassers macht ihn ungerecht in seiner Beurteilung 
der Homosexualität als solchen. 

Moritz, Karl Philipp: Anton Reiser. Ein psycho- 
logischer Roman. 2 T. (Berlin 1786.) S. 45. 

de Nerval, G6rard: Voyage en Orient Reiseerinner- 
ungen. (Charpentier Paris 1851.) Bd. I Ch. VI S. 5. 
Jdylle«: 

Der Schiffskapitän glaubt, Nerval habe einem 
hübschen Schiffsjungen einen Kosenamen zurufen 
wollen und schlägt ihm vor, denselben gegen die 
Sklavin Nervals umzutauschen, indem er die Vor- 
züge des Jungen anpreist. 
O'Monroy, Richard: Souvent homme varie. In der 
Skizze: Comment cela commence. 

S. 119 Verleitung einer Frau durch eine Pro- 
stituierte zu gleichgeschlechtlichem Verkehr. 

*) Siehe oben S. 254 den Aufsatz von Numa Praetoritw über 
Michelangelo, 



— 442 — 



Piepron, Sander: Pages de Charite\ (Lacomblez 
Bruxelles.) Le 8 e Sacrement. 

Sehr rührende Geschichte der gegenseitigen Liebe 
zweier Künstler zu einander, welche an derartige 
Liebesbündnisse in Griechenland erinnert. 

Piron, Alexis: Polsies badines. (18. Jahrh.) 

In der Ode ä Priape (8. Strophe) wird in der 
diesem Dichter öfters gewohnten, etwas unzüchtigen 
Manier Socrates als- leidenschaftlicher Päderast ge- 
schildert 

Reuter, Gabriele: Aus guter Familie. Leidensge- 
schichte eines jungen Mädchens. 5. Aufl. (Berlin 1897.) 

S. 41 flgd. werden homosexuelle Empfindungen 
eines Mädchens geschildert. 

de Röpnier, Henry: Souvenirs sur Oscar Wilde: 
Revue Blanche 15 D^cembre 2895. 

Restif de la Bre tonne: Les nuits de Paris. (Londres 
1788.) T. II troisifeme partie. S. 781. 

Die Ursache der Verbreitung des gleichgeschlechtr 
liehen Verkehrs im Altertum sieht Restif in der zu 
geringen Differenzierung der damaligen Kleidung 
beider Geschlechter. 

Rimbaud, Jean Arthur: Oeuvres (Mercure de France) 
Delires; Vierge folle; L'e*poux infernal 
S. 231 flgd. Ziemlich ausführliche Anspielungen 
auf das Verhältnis zwischen Rimbaud und Verlaine. 

Rouart, Eugene: La Villa sans maitre (ed Mercure 
de France). 

Hübscher Roman mit anmutigen Stellen über 
Umingsliebe in der Art Virgils und der antiqen 
Egloge. 

Saint-Simon (duc de): M£moires. 

Eine Anzahl interessanter Stellen über die Sitten 
des effeminirten Bruders Ludwig XIV., des „ehevalier 
de Lorraine u und des duc de Vendöme. 



— 443 — 



Scheerbart,Paul: Tarub, Bagdads berühmte Köchin. 
Arabischer Kulturroman. (Berlin Storm 1897.) 

Die Schilderung des Jünglingsfestes in dem unter- 
irdischen Mondtempel. Ein ganz grandioses Gemälde 
perverser Geschlechts- und Mordlust bei hoch ent- 
wickelten Individuen auf einer hervorragenden 
Kulturstufe. 

Scheerbart, Paul: Ich liebe dich! Ein Eisenbahn- 
roman mit 66 Intermezzos (Berlin Schuster und 
Löffler 1897). 

Speziell S. 184 flgd. die Geschichte der drei 
Freunde. -Himmlische Ehe nebst der zugehörigen 
Hede. 

Scheerbart, Paul: Der Tod der Barmekiden: Ein 
arabischer Haremsroman (Leipzig Spohr 1897.) 
Das Kapitel: Die Herrn Söhne. 

Smolett: Roderik Random (Leipzig Tauchnitz). Kap. 
25 und 51. 

Zwei sehr realistische Kapitel über einen homo- 
sexuellen Lord und über das Liebesverhältnis eines 
Schiffskapitän zu seinem Arzte. 
Schwinburne, Algernon Charles: Poems and Ballads 
(First Series). 

Hermaphroditus: ein durch den Hermaphroditen 
des Louvre eingegebenes, sehr schönes Gedicht. 
Erotion noch deutlicheres und leidenschaftlicheres 
homosexuelles Gedicht. 
Strlndberg, August: Die Beichte eines Thoren. 
Roman. (Berlin 1893.) 

In der zweiten Hälfte des Romans zahlreiche Stellen 
über die homosexuelle Leidenschaft der Frau des Helden. 
Taillade, Laurent: Au pays du mufle. Chronique 
de mois. Revue indlpendante Avril 1885. 

Einzelheiten über urnische Skandale in Paris. 
Satirische, teilweise sehr boshafte Verse. 



— 444 — 



Taylor, Georg: Antinous, historischer Roman aus der 
römischen Kaiserzeit (Leipzig, Hirzel 1836). 

Darstellung des Verhältnisses zwischen Hadrian 
und Antinous. Antinous ist als der normalfühlende 
Jüngling geschildert, der Hadrian nur als Freund 
lieben kann, der aber in seiner Anhänglichkeit zum 
Kaiser sogar freiwillig stirbt, um — einem vermeint- 
lichen Orakel gemäss — das Leben Hadrians zu 
verlängern. 

Das sinnliche Verhältnis zwischen dem Caesar und 
seinem Lustknaben wird nicht geleugnet trotz des 
poetischen Schleiers, mit dem es bedeckt wird. Hadrian 
ist der virile Konträrsexuale, der tiefe und wahre 
Liebe zu seinem Liebling empfindet. Z. vgl. nament- 
lich S. 42, 186, 187, 251. 

Tennyson, Lord Alfred: In Memoriam. Eine Ge- 
dichtsammlung. 

Fast ausschliesslich Klagelieder über den Tod eines 
geliebten Freundes. Tennyson mag beabsichtigt 
haben, lediglich Freundschaft zum Ausdruck zu 
bringen, thatsächlich hat er aber Töne echter Liebe 
angeschlagen mit teilweise deutlich fühlbarer sinn- 
licher Färbung. 

Tolstoi, Graf Leo: Anna Karenina. Roman. 

Bd. II, Kap. 7: Skizzierung des Verhältnisses 
zweier homosexueller Offiziere. 

de la Vaudere, Jane: Les Demi-Sexes. 

Schilderung von Weibern, die sich kastrieren 
lassen, um der Schwängerung zu entgehen. Beiläufige 
Schilderung homosexueller Leidenschaften. 

Whitmann, Walt: Leaves of Grass, namentlich der 
Abschnitt „Calamus*, ferner „Drum-Taps M . 

Verherrlichung von Freundschaften, „bei welchen 
körperliche Berührung und eine Art stillschweigend 
wollüstiger Stimmung wesentliche Elemente sind."(Ellis.) 



— 445 — 



Wedekind, Frank: Frühlingserwachen. Eine Kinder- 
tragödie (Zürich, Schmidt 1894). III. Akt VI. Szene: 
Häuschen Ribow und Ernst Röbel im Weinberg. 

Wiese: Die Freunde. Drama mit homosexuellen An- 
deutungen. 

Zola, Emile: La Cure' e Roman (Charpentier, Paris 1893). 
Eine Nebenperson, Baptist, der Diener, wird als 
homosexuell skizziert. Pg. 40 wird von „seinem 
kalten Blick, den auch der Anblick schöner Weiber- 
schultern nicht erwärmt und seinem Eunuchen- 
aussehen" gesprochen und am Schlüsse pg. 376 wird 
erzählt, dass er wegen seiner Leidenschaft zu hüb- 
schen Dienern fortgejagt wurde. 

Zola, Emile: Nana. Roman (Charpentier, Paris 1880. 
Das geschlechtliche Verhältnis von Nana zu ihrer 
Geliebten, Satin, wird erwähnt. 



Zeitungsmitteilungen. 



Bemerkung des Herausgebers. 
Die folgenden Notizen sind eine Auslese aus uns 
übersandten Zeitungsausschnitten. Wir sind den Ueber- 
sendern, welche sie dem Jahrbuch zur Verfügung stellten, 
dankbar und bitten um weitere Zuweisungen. Es empfiehlt 
sich, möglichst die ganze Zeitung mit angestrichener 
Stelle zu schicken oder dem Ausschnitt die Quelle sowie 
die Zeit des Erscheinens anzuführen. Wir geben die 
Notizen in bunter Reihenfolge ohne Commentar wieder, 
bemerken nur, dass die meisten aus den beiden letzten, 
einige aus früheren Jahren stammen. 



Der Baron in Weib er kl eidern. Wie ans aas Ziegenhals 
gemeldet wird, wurde daselbst Dienstag den lö. Juni Mittags auf 
dem Bahnhofe eine Persönlichkeit verhaftet, die durch länger als 
ein Jahrzehnt mit ganz kurzen Unterbrechungen in Gräfenberg und 
Freiwaldau domiziliert, sich dann hierher nach Ziegenhals begeben 
hatte: Baron Chambrier, geboren 1849 zu NeufcbateL Der Mann 
war in Freiwaldau wegen seiner absonderlichen Kleidung bekannt; 
zu Hause trug er eine Art weiblicher Gewandung. Kleider und 
Parfüm kosteten dem Manne viel Geld; der grösste Teil seiner 
nicht unbeträchtlichen Rente wurde auf Kostüme und Parfüms ver- 
ausgabt Die Familie Chambrier ist mit einzelnen Mitgliedern des 
französischen Hochadels verwandt. Friedrich Wilhelm Freiherr v. 
Chambrier wurde über Requisition der Staatsanwaltschaft in Dresden 
wegen eines Sittlichkeitsdelikts verfolgt und verhaftet Es scheint 
hier ein Fall vorzuliegen, den schon Krafft-Ebing in seinem Werke 
erwähnt 



— 447 — 



WegenErpressungistein Kellner N. festgenommen worden 
Dieser gehört zu jenen gefährlichen Subjekten, die sich namentlich 
im Tiergarten an Herren herandrängen, um ihnen dann Geld abzu- 
pressen. Zur Kenntnis der Kriminalpolizei war die That des Kellners 
durch seine Unterhaltung in einem Verbrecherlokal gekommen, wo- 
bei N. sich damit gebrüstet hatte, dass er Nachts vorher eine „grosse 
Erbschaft" gemacht habe. Ein Freund von ihm sei mit einem 
Herrn, der als Amerikaner bezeichnet wurde, in den Tiergarten ge- 
gangen; er selbst (N.) sei hinzugekommen, habe sich als Polizei- 
beamter ausgegeben und mit Verhaftung gedroht. Der Amerikaner 
habe sich mit 500 Mk. loskaufen wollen, damit sei er und sein 
Freund nicht zufrieden gewesen und der Fremde habe mehr zahlen 
müssen. Bei der Festnahme hatte N. eine Medaille, die der Er- 
kennungsmedaille der Kriminalbeamten gleicht. Das Opfer der 
Erpressung soll ein Herr aus Warschau sein, der in einem ersten 
Gasthofe gewohnt, Berlin aber wieder verlassen hat. N. hat bei 
der Vernehmung angegeben, der Fremde habe ihm freiwillig 
400 Mk. geschenkt; unter dem Gelde sollen sich englische und 
russische Münzen befunden haben. Auch seine Ringe habe der 
Fremde einliefern müssen. 



Alienstein. In dem hiesigen Material- und Kolonialwaren- 
Versandtgeschäft des Herrn B. war eine Buchhalterin beschäftigt, 
deren ausser ge wohnlich hübsches Mädchen- Antlitz Aufsehen 
und Bewunderung erregte, deren übriges Wesen und Auftreten 
jedoch wie auch die Haarfrisur einen Mann verriet. Zweifel an 
ihrer „holden Weiblichkeit" hegte auch ein hiesiger Arzt, der bei 
Gelegenheit einer Erkrankung der Buchhalterin au das Krankenbett 
gerufen wurde und sie in dem mit Zigarettenrauch gefüllten Zimmer 
im Bett liegend und Zigaretten rauchend fand. Eine körperliche 
Untersuchung fand jedoch nicht statt. Nach ungefähr sechswöchiger 
Thätigkeit hierselbst veriiess das „Fräulein Luise Schwarz", unter 
welchem Namen sie hier geführt wurde, unsere Stadt, um ander- 
weit in Stellung zu treten. So engagierte sie auch Herr Kaufmann 
L. in Osterode für sein Manufakturgeschäft. Als eines Tages das 
Fräulein nicht zur rechten Zeit im Geschäft erschien, begab sich 
Herr L. nach deren Zimmer, doch was er hier sah, machte ihn starr 
und stumm; denn vor ihm stand seine „Buchhalterin" fix und fertig 
im Gehrook und Zylinder, den Chef mit den Worten begrüssend: 
„Von heute ab bin ich wieder junger Herr". Wie später bekannt 
wurde, soll der junge Herr eine Wette eingegangen sein, nach 



— 448 — 



welcher er durch eine bestimmte Zeit unbehelligt als „Fräulein" 
sein Brot verdienen sollte. In diesen Tagen war die Zeit um und 
die Wette gewonnen. („Ges. u ) 

Ein trübes Sittenbild entrollte sieb gestern in einer Ver- 
handlung vor der vierten Strafkammer des Landgerichts I. Wegen 
Vergehens gegen § 175 des Str.-G.-B. hatten sich der Kellner Krönert 
Junge und Jeske, sowie ein Schauspieler zu verantworten. Krönert 
hatte am Waterloo-Ufer 16 eine Wohnung gemietet, die er zum 
Tummelplätze der Unsittlichkeit machte und sie jenen Männern zur 
Verfügung stellte, die von gewissen widernatürlichen Neigungen 
beherrscht werden. Mit den Gästen, die dort zu verkehren pflegten, 
kamen auch wiederholt Kürassiere aus der nahen Kaserne des Garde- 
KürasieiregimeiitB. Einer von ihnen, der gestern als Zeuge ver- 
nommen wurde, ist wegen seiner Teilnahme an jenen sittenlosen 
Zusammenkünften in der Krönert'schen Wohnung vom Militärgericht 
zur Ausstossung aus dem Soldatenstande und 3 Jahren Gefängnis 
verurteilt worden, die er zur Zeit in Kottbus verbüsst Ein anderer 
Kürassier ist aus gleichem Grunde in die Arbeiter- Abteilung nach 
Magdeburg versetzt worden. Die Verhandlung fand unter Aus- 
schluss der Oeffentlichkeit statt Der Geiichtshof verurteilte Krönert 
zu 1 Jahr 6 Monaten, Junge zu 6 Monaten, Jeske zu 9 Monaten 
Gefängnis. Der Schauspieler wurde freigesprochen, weil der als 
Zeuge auftretende Kürassier eine frühere, diesen Angeklagten be- 
lastende Aussage widerrief. 



Unter Ausschluss der Oeffentlichkeit wurde gestern 
vor dem Schöffengericht gegen den Hauptmann a. D. v. Tz. eine 
Anklage wegen Beleidigung verhandelt. Als einziger Belastungs- 
zeuge warder 16jährige Barbierlehrling Meier gegen ihn aufgetreten, 
welcher, bekundet hatte, dass der Angeklagte ihn zweimal in un- 
anständigem Weise angefasst habe, während er damit beschäftigt 
gewesen sei, ihn in seiner Wohnung zu rasieren. Der Gerichtshof 
sprach den Angeklagten frei. Der Vorsitzende führte aus, dass der 
Vortrag des Zeugen den Eindruck des Auswendiggelernten gemacht 
habe, der Inhalt decke sich fast wörtlich mit der schriftlichen An- 
zeige. Es sei doch auch wenig glaublich, dass der Angeklagte sich 
vergangen haben sollte, während ihm im wahren Sinne des Worts 
das Messer an der Kehle sass. Das der Angeklagte dem Zeugen 
zu zwei Malen je eine Mark geschenkt, könne vielleicht gegen ihn 
sprechen, aber erwiesener Massen sei es das erste Mal anlässlich der 
Centenarfeier geschehen und die Behauptung des Angeklagten, dass 



— 449 — 



er beim zweiten Male im Begriff gestanden habe, seine Wohnung 
zu wechseln und deshalb sich seinem Barbier noch erkenntlich zeigen 
wollte, sei ebenfalls glaubwürdig. Möglicherweise habe der junge 
Mensch unter einem schlechten Einfluss gestanden, jedenfalls reiche 
seine Aussage aber nicht aus, um daraufhin den unbescholtenen 
Angeklagten zu verurteilen. 

Ein Bild aus „Berlin bei Nacht" wurde in einer Verhand- 
lung vor Augen geführt, die gestern vor der 4. Ferienstrafkammer 
des Landgerichts I stattfand. Die noch im jugendlichen Alter 
stehenden Arbeiter Max Korn und August Nitschke waren des Dieb- 
stahls, bezw. der Hehlerei beschuldigt. Der Erstere legte ein Ge- 
ständnis ab, welches sich nach den angestellten Ermittelungen mit 
der Wahrheit deckt, so dass von einer Beweisaufnahme Abstand 
genommen werden konnte. Korn erzählte, dass er an einem Mai- 
Abende spät durch die Alte Jacob-Strasse gegangen sei. Er habe 
nicht gewusst, wo er Unterkunft finden und wie er seinen Hunger 
stillen solle. Da sei ein älterer, feingekleideter Herr an ihn heran- 
getreten und habe ihn gefragt, ob er ein Glas Bier mit ihm trinken 
wolle. Er habe ihm erwidert, dass er dies sehr gern thun möchte, 
aber der Herr würde schwerlich mit einem so abgerissen aussehen- 
den Begleiter ein Lokal besuchen. „Das macht nichts 41 habe der 
Herr erklärt. Sie seien dann in ein Lokal gegangen, wo der Herr 
ihn genötigt habe, soviel zu essen und zu trinken, wie er wolle. 
Nun habe er sich entfernen wollen, der unbekannte Wohlthäter habe 
ihn aber überredet, erst noch in ein Caf6 zu gehen. Hier habe man 
ihm allerdings seiner schlechten Kleidung wegen den Zutritt ver- 
weigert, sein Gönner habe aber den Ausweg gefunden, ihm eine 
Tasse Kaffee hinauszubringen. Darauf habe der fremde Herr eine 
Droschke herbeigerufen und eine gemeinsame Nachtfahrt vor- 
geschlagen. Jetzt habe den Angeklagten ein beängstigendes Ge- 
fühl ergriffen. Als er noch unschlüssig vor der Droschke stand, ob 
er einsteigen solle oder nicht, sei zufällig sein Freund, der Mitan- 
geklagte Nitschke vorübergegangen. Er habe den bereits im Wagen 
sitzenden Herrn gefragt, ob sein Freund Nitschke an der Fahrt Theil 
nehmen dürfe und nach kurzem Ueberlegen habe der Herr ein- 
gewilligt. Darauf seien alle Drei noch in verschiedenen Wirtshäusern 
gewesen. Der Spender habe dabei viel Geld gezeigt. In der dritten 
Stunde hätten sie sich auf dem Wege nach der Schönhauser Strasse 
befunden. Der Gönner sei infolge der vielen genossenen Getränke 
eingeschlafen. Da habe der Angeklagte gesehen, dass demselben 
aus der äusseren Brusttasche eine Anzahl Hundertmarkscheine hervor- 
Jfthrbuch n. 29 



— 450 — 



lugten. Zunächst habe er Bich nur einen Scherz machen wollen, als 
er die Scheine aber vorsichtig hervorgezogen hatte, sei ihm die Idee 
gekommen, sie für sich zu behalten. Der ihm gegenübersitzende 
Nitschke sei sofort damit einverstanden gewesen. Es sei ihnen ge- 
lungen, die Droschke zu verlassen, ohne dass der Kutscher es ge- 
wahr wurde; sie hätten ihren Gönner seinem Schicksale überlassen 
und seien davongelaufen. Nitschke erhielt von der Beute — es 
waren gegen 1300 Mark — einige hundert Mark, mit dem Best be- 
gab sich Korn auf Reisen. Er ging nach Schlesien und gelangte 
auf allerlei Umwegen nach Hamburg, wo er auf Grund des hinter 
ihm erlassenen Steckbriefs verhaftet wurde. Seine B aarschaft be- 
stand noch aus 40 Pfennigen. Der sonderbare Wohlthäter war der 
Buchhalter Gr. aus einem hiesigen grösseren Holzgeschäft, welcher 
an dem fraglichen Tage eine grössere Summe für seine Firma ein- 
kassiert hatte. Er hatte es sich selbst zuzuschreiben, dass er in den 
Verdacht der Unterschlagung geriet und eine Zeit lang in Haft ge- 
nommen wurde. Der Verteidiger liess durchblicken, dass der Buch- 
halter Gr. wohl nicht aus edlen Beweggründen zum Wohlthäter 
gegen die beiden armseligen Angeklagten geworden sei. Das Ver- 
halten der Letzteren sei verwerflich, aber mit Rücksicht auf die 
begleitenden Umstände nicht so scharf anzusehen. Der Gerichtshof 
trat dieser Anschauung bei; der bisher unbescholtene Korn wurde 
zu sechs Monaten, der mehrfach vorbestrafte Nitschke zu einem Jahr 
Gefängnis verurteilt. Es wurden je 3 Monate durch die erlittene 
Untersuchungshaft in Abrechnung gebracht 



Ueber eine sensationelle Skandal-Affaire, in die an- 
geblich ein Berliner Banquier verwickelt sein soll, bringen einige 
französische und belgische Blätter längere Berichte. Es handelt sich 
um eine sehr schlüpfrige Sitten-Angelegenheit, in welcher ein in 
Paris in Garnison stehender Zuave die Hauptrolle spielt Nähere 
Einzelheiten lassen sich hier nicht wiedergeben. Wie versichert wird, 
wäre gegen den auf der Durchreise befindlichen Berliner Banquier 
Anzeige erstattet worden, und würde die Verhandlung demnächst 
vor dem Pariser Zuchtpolizeigericht stattfinden. Vergebens habe die 
kaiserliche Botschaft sich für den Angeschuldigten verwandt, der in 
Berlin in weitesten Kreisen bekannt und geachtet sei. 

Eine Razzia auf Erpresser wurde in der heutigen Nacht 
am Bahnhof Zoologischer Garten seitens der Charlottenburger Krimi- 
nalpolizei abgehalten. Es waren in der letzten Zeit wiederholt 
Anzeigen erstattet worden, dass sich zur Nacht unbekannte Personen 



— 451 — 



an die Passanten herandrängten, sie eines Vergehens beschuldigten 
und unter der Erklärung, dass sie selbst Kriminalbeamte seien, die 
Zahlung eines Geldbetrages verlangten. In einigen Fällen ist den 
Passanten sogar mit Gewalt Geld abgenommen worden. Bei der 
gestrigen Razzia gelang es nun, drei Individuen zu verhaften, welche 
des oben genannten Verbrechens beschuldigt werden. Es sind dies 
die Gebrüder W. aus Charlottenburg, welche alsbald in das Gefäng- 
nis des Amtsgerichts eingeliefert wurden. 

Dreissig Jahre als Mann verkleidet. Vor zwei Jahren 
wurde in Wien die damals 45jährige Anna Drezelsberger wegen 
Falschmeldung verurteilt. Sie hatte 30 Jahre Männerkleidung ge- 
tragen und sich polizeilich als Anton Horner, „Hausknecht", ge- 
meldet. Als es durch die Verhandlungsberichte bekannt geworden 
war, dass Anna Drexelsberger nur deshalb Männerkleidung getragen 
habe, „weil sie nur als Mann die Stellung eines Hausknechtes habe 
erhalten können", wandte sich die Aufmerksamkeit dieser resoluten 
Frau zu. Von allen Seiten wurde ihr Arbeit und Beschäftigung 
angetragen, damit sie nicht mehr gezwungen sei, ihr Geschlecht zu 
verleugnen. Sie entsohloss sich endlich, als Gesellschafterin zu einer 
alten Dame zu gehen. Am Ende des vorigen Jahres starb Anna 
Drexelsberger in London, nachdem sie kurz vorher von ihrer Dienst- 
geberin 50000 fl. geerbt hatte. Von diesem Gelde vermachte sie 
30000 iL einem Mädchen in Wien, von welchem sie als Mann 
„verehrt worden war* und zwar (wie es in dem Testament hiess) 
„als Genngthuung dafür, dass sie das arme Mädchen in ihrem Irr- 
tum belassen und genarrt hatte". Die Erblasserin wurde von den 
prozessführenden Verwandten als geistig nicht normal bezeichnet. 
Gestern entschied das zuständige Gericht in Wien, dass das Testa- 
ment als giltig anerkannt werde. Es hätte sich keine Veranlassung 
ergeben, die Zurechnungsfähigkeit der Erblasserin zur Zeit der 
Testamentslegung zu bezweifeln, die Verlassenschaftsbehürde hatte 
vielmehr die angefochtene Verfügimg als „ganz plausibel" befunden. 



Eine Sensationsgeschichte aus Amerika mit Leip- 
ziger Anklängen. Aus St. Louis Mi. wird uns geschrieben : Ein 
sensationeller Fall, welcher auch „drüben", namentlich aber im säch- 
sischen Vaterlande interessieren dürfte, beschäftigt die hiesigen 
Gerichte. Dr. Hugo Toeppen, der bekannte, aus Berlin herüberge- 
kommene, junge deutsche Arzt, kam nämlich und fragte an, ob ein 
Mädchen, das sich für einen Mann ausgegeben nnd als solcher ein 
anderes Mädchen in sich verliebt gemacht habe, bestraft werden 

29* | 

J 



— 452 — 



könne, wenn in Folge der Enthüllung des Betruges das Opfer wahn- 
sinnig geworden sei? Auf die bejahende Antwort hin, wurde auf 
Grund der weiterhin deponierten Aussagen Dr. Toeppens die Ver- 
haftung des Schriftsetzers Johann Burgers angeordnet. Bei der 
Untersuchung stellte sich heraus, dass Johann Burger ein vermutlich 
30 — 32 Jahre altes Mädchen sei. Burger war vor zwei Jahren mit 
einem jüngeren Mädchen Hedwig Lutze aus Leipzig nach St. Louis 
eingewandert und hatte Stellung als Setzer in der Druckerei des 
deutschen Blattes: „Die Tribüne" genommen. Er hatte sich mit 
seiner „Stiefschwester", für die er Hedwig Lutze ausgab, bei dem 
Juwelier Gammater, einem Berner Eingewanderten, eingemietet und 
alsbald mit der Tochter seines Hauswirtes, Martha Gammater, ein 
Liebesverhältnis begonnen. Der Juwelier sah dies beginnende Ver- 
hältnis nicht gerne, zumal er zu bemerken glaubte, dass Burger zu 
seiner „Stiefschwester" in sehr intimen Beziehungen stehe. In seinem 
Verdachte immer mehr und mehr bestärkt, holte Gammater, der die 
Leidenschaft seiner Tochter für Burger von Tag zu Tag wachsen 
sah, bei dem früheren Brotherrn desselben, einem der grössten 
Drucker Leipzigs, Erkundigungen ein. In der betreffenden Druckerei 
war niemals ein Johann Burger beschäftigt gewesen. Wohl aber 
war an dem, durch das Datum des Zeugnisses ersichtlichen Tage 
eine Setzerin Anna Mattersteig entlassen worden. Dieselbe war in 
Begleitung eines Mädchens Hedwig Lutze aus Leipzig nach Amerika 
ausgewandert und hatte bereits in Leipzig wiederholt bedauert, dass 
sie kein Mann sei, drüben aber ganz gewiss nur Männerkleider 
tragen werde. Anna Mattersteig sei am 26. Dezember 1863 in 
Sellerhausen geboren und von 1880 — 1893 in der Druckerei be- 
schäftigt gewesen. Diese Auskimft Hess keinen Zweifel darüber, 
dass Anna Mattersteig und Johann Burger ein und dieselbe Person 
sei. Martha Gammater geriet darüber in grösste Aufregung und 
als Burger nicht leugnen konnte — sich trotzdem aber bereit er- 
klärte, das Mädchen zu heiraten und sich von Hedwig Lutze zu 
trennen, fiel Martha Gammater in Krämpfe, die in Tobsucht aus- 
arteten, so dass sie ins Irrenhaus geschafft werden musste. Vor 
Gericht gab Anna Mattersteig an, sie sei sich keines Unrechtes be- 
wusst. Sie fühle, dass sie ein Mann sei und nur durch 
einen Irrtum der Natur sei sie als Weib zur Welt ge- 
kommen. Einen solchen Irrtum aber anzuerkennen und gar noch 
weiter danach zu leben, fiele ihr gar nicht ein. Glaube man, dass 
sie sich eines Vergehens schuldig gemacht habe, so nehme sie gerne 
jede Strafe an, einem Verbote Männerkleidung zu tragen, würde 
sie aber nie nachkommen. Da müsse man sie schon zeitlebens ein- 



— 453 — 



sperren. Soweit stehen die Sachen jetzt, die Richter aber zepbrechen 
sich den Kopf, welcher Paragraph auf den Fall Burger-Mattersteig 
angewendet werden könne. 



Giessen. Ein auf Grund des § 175 des Strafgesetzbuches 
(widernatürliche Unzucht) verurteilter Student floh, als er verhaftet 
werden sollte, aus dem Gerichtsgebäude und erschoss sich mit einem 
Revolver. 



Eine sonderbare Lady. Grosses Aufsehen erregte dieser 
Tage, so wird uns geschrieben, in dem Kriminalgerichts.hof in Clerken- 
well, Alt-London, ein in Untersuchungshaft befindlicher junger Mann, 
der als elegant gekleidete Dame auf der Anklagebank erschien. 
Er trug ein tadellos sitzendes schwarzes Kostüm, das nach neuester 
Mode speziell für ihn gearbeitet zu sein schien. Um seinen Hals 
schmiegte sich eine graue Federboa, die in der Farbe mit einem 
kokett garnierten Matrosenhut aus Seidenfilz harmonierte. Die in perl- 
grauen Glacees steckenden Hände in einem fashionablen Astrachan- 
muff verbergend, lehnte sich das merkwürdige Individuum in graziöser 
Haltung An die Barriere, die es von den Geschworenen und dem 
Untersuchungsrichter trennte. Wie sich aus dem Verhör und den 
Zeugenaussagen ergab, hatte der in so sonderbarem Aufzuge sich 
zeigende Angeklagte, ein bis vor Kurzem in einem vornehmen Hause 
in Gresse Street angestellter Kammerdiener, am Abend vorher in 
Eustonroad in derselben Verkleidung die Aufmerksamkeit der 
Passanten auf sich gelenkt. Der Abenteuerlustige hatte sich einen 
amüsanten Ulk machen wollen. Ein Geheimpolizist war der sich 
verdächtig benehmenden Person schon einige Zeit gefolgt ; da wandte 
diese sich plötzlich um und legte ihren Arm in den des Beamten. 
Zu ihrer wohl nicht sehr angenehmen Ueberraschung erfasste der 
vermeintliche Verehrer die auf seinem Arm liegende Hand mit weniger 
zärtlichem als energischem Griff und sagte laut: „Ich bin Detektiv 
und habe Ursache, Sie für einen Mann zu holten. 41 Darauf suchte 
die „Dame" ihren Arm zu befreien und rief im Tone der Entrüstung: 
„Sie Elender, ich bin eine Lady !" Als der Beamte jedoch keine 
Miene machte, sich seinen Fang entschlüpfen zu lassen, führte die 
Person, ehe er es verhindern konnte, mit der geballten Faust einen 
derben Stoss gegen seinen Mund aus. „Ihnen allein soll es nicht 
gelingen, mich mitzunehmen! 41 schrie der Verkleidete wütend und 
zerkratzte mit der rechten Hand das Gesicht des Gegners. In dem 
nun entstehenden Ringkampf wurde die „Lady u zu Boden geworfen, 
riss aber im Fallen den Detektiv mit und biss ihm in die Finger. 



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Einige inzwischen herbeigeeilte Polizisten bewältigten das um sich 
stossende, kratzende und beissende Individuum und schleppten es 
zur Polizeistation. Der Angeklagte wurde wegen öffentlichen Tragens 
weiblicher Kleidung zu drei Monaten und wegen Körperverletzung' 
und Beamtenbeleidigung zu weiteren drei Monaten Gefängnis ver- 
urteilt. 



Prag. Ein mysteriöser Vorfall, der noch seiner Auf- 
klärung harrt, hat gestern Vormittag die Bewohner des Augezd auf 
der Kleinseite in grosse Aufregung versetzt Der gegenüber der 
Augezder Kaserne etablierte Gemischtwarenhändler Johann Hugo 
Bäk, 85 Jahre alt und ledig, sperrte gestern früh seinen Laden nicht 
auf, aber auch sein Commis, der 20 jährige Joseph Rak, der aber 
trotz der Namensgleichheit in keinem verwandtschaftlichen Verhält- 
nisse zu dem Kaufmanne stand, liess sich nieht bücken. Stande 
auf Stunde verrann, der Laden blieb geschlossen und der Chef wie 
sein Bediensteter kamen nicht zum Vorschein. Da beide dieselbe 
Wohnung im zweiten Stockwerke des Hauses inne hatten, forschte 
man dort nach dem Verbleiben der Beiden. Die Wohnung war 
von aussen abgesperrt. Durch das Fenster aber sah man den 
Commis angekleidet im Bette üegen. Die Leute glaubten Anfangs 
der Commis habe verschlafen, und pochten an die Thttre; der 
Commis rührte sich nicht. Darauf wurde, nachdem das Polizei- 
kommissariat der Kleinseite verständigt worden war, über Auftrag 
des Bezirksleiters Herrn Polizeioberkommissäre Stelzig, die Thun? 
aufgesprengt. Joseph Rak war tot Auf dem Nachttische standen 
zwei halbgeleerte Sodawasserflaschen und zwei Gläser, zur Hälfte 
mit Sodawasser gefüllt; weiter lag auf dem Nachttische ein Stück 
Papier mit Resten von Zuckerwerk. Auf dem Tische des zweiten 
Zimmers, in dem der Kaufmann zu schlafen pflegte, stand unberührt 
ein Mittagessen. Das Bett des Kaufmannes war ebenfalls unberührt» 
der Kaufmann befand sich nicht in der Wohnung. Johann Hugo 
Rak hatte offenbar beim Fortgehen die Wohnung von Aussen ab- 
gesperrt. Der Bezirksarzt Herr Dr. Schwarz untersuchte die Leiche 
des Commis und fand gar keine Merkmale irgend einer Gewaltthat 
Er ordnete die üeberf Uhrung der Leiche in das deutsche patholog- 
ische Institut zur Sicherstellung der Todesursache an. Inzwischen 
wurde der Kaufmann Uberall gesucht, doch nicht gefunden. Erst 
um halb 12 Uhr Mittags fand man ihn erhängt im Keller desselben 
Hauses, in dem er sein Warenlager hatte. Er hing hoch oben an 
der Decke des Kellers, seine Rechte hielt krampfhaft einen Leuchter. 
Unter seinen Füssen lax ein umgekipptes Liqueurfass. Er war offen- 



— 455 — 



bar auf das aufgestellte Fass gestiegen, hatte an dem in der Decke 
des Kellers befindlichen Haken die Schlinge befestigt, seinen Kopf 
in die Sohlinge gesteckt und dann mit dem Fusse das Fass umge- 
stossen, so dass er frei hängen blieb und so den Tod fand. All- 
gemein wird erzählt, dass der Kaufmann mit seinem 
Commis ein sträfliches Verhältnis nach § 129 des Str.-G. 
unterhalten habe. Thatsäohlich fand der Bezirksarzt bei der 
Beschau beider Leichen solche Merkmale, welche diese Anschauung 
begründet erscheinen lassen. Weiter glaubt man, Johann Hugo Rak 
habe seinen Commis vergiftet, um den Mitwisser seines Verbrechens 
zu beseitigen, und dann, von Gewissensbissen gepeinigt, selbst 
Hand an sich gelegt Auch die Leiche des Kaufmannes wurde in 
das deutsche pathologische Institut ttbergefürt. Durch die Obduktion 
der beiden Leichen dürfte wohl etwas Licht in die geheimnisvolle 
Affaire gebracht werden. Das Sodawasser und die Reste des Zucker- 
werks werden chemisch untersucht werden. Liegt auf Seite des 
Selbstmörders ein Verbrechen gegen das Leben des Commis vor, 
so dürfte dieses Verbrechen vorgestern nach der Mittagsstunde ver- 
übt worden sein, nachdem der Laden — vorgestern war ein Feier- 
tag — gesperrt worden war. Auf diese Zeitannahme lässt das un- 
berührte Mittagessen des Kaufmannes schliessen. Joseph Rak hatte 
seit Mittwoch Mittags über heftige Leibschmerzen geklagt. Das 
Verhältnis zwischen ihm und seinem Chef war nichts weniger als' 
freundlich; der Kaufmann, ein roher Mann, hatte ihn wiederholt 
blutig misshandelt. Dreimal war der Commis davongelaufen, immer 
aber wieder zurückgekehrt Joseph Rak soll ein ruhiger Mensch 
gewesen sein. Johann Hugo Rak hatte früher sein Geschäft in der 
Tischlergasse und seit etwa einem Jahre auf dem Augezd; es ging 
sehr gut Bekannt war von ihm, dass er ein Feind des 
weiblichen Geschlechtes war. Wohnung und Laden wurden 
behördlich gesperrt. Vor dem Hause fanden gestern den ganzen 
Tag kleinere Ansammlungen statt 



Ein böses Abenteuer begegnete am Abend des 11. März 
in Berlin dem chinesischen Gesandtschaftsattachä Guang, als der- 
selbe durch die Karlstrasse ging. Es begegnete ihm ein Mann, der 
ihn fragte, wie spät es sei. In entgegenkommender Weise zog der 
Chinese die Uhr und gab dem Fragenden Bescheid. Plötzlich riss 
der Letztere ihm mit einem schnellen Griff die Uhr aus der Hand 
und rannte mit der Beute davon. Der Bestohlene verfolgte ihn 
und erwischte ihn auf dem Flur eines Hauses. Der Dieb erklärte 
hier, dass er die Uhr herausgeben wolle, wenn er 30 Mk. erhalte. 



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Der Gesandtechaftsattache" ging zum Schein auf dies Anerbieten ein, 
erklärte aber, dass er nur eine ganz geringe Barschaft bei sich 
führe. Er sei bereit, am folgenden Morgen die Uhr einzulösen, 
wenn er die Adresse des Diebes erfahre. Dieser gab Wohnung 
und Name richtig an, es war der ans Ungarn stammende Artist 
Jakob Laskowitz. Allerdings stellte sich der Chinese am folgenden 
Morgen bei ihm ein, aber in Begleitung eines Kriminalschatzmannes, 
der den Laskowitz verhaftete. Dieser verschlimmerte seine Lage 
im Termine vor der 3. Strafkammer des Berliner Landgerichts I 
am Mittwoch noch dadaroh, dass er den Bestohlenen in unsittlicher 
Weise zu verdächtigen suchte. Das Urteil lautete auf 2 Jahre 
Gefängnis und 5jährigen Ehrverlust 

Mysteriöser Doppelselbstmord. Der Heuberg bei Dorn- 
bach war gestern der Schauplatz einer Blutthat, die bisher nicht 
völlig aufgeklärt ist Zwei junge Leute wurden mit Schusswunden 
tot aufgefunden. Die Beiden sind gemeinsam freiwillig in den Tod 
gegangen. Die That" .wurde ungefähr um 3 Uhr Nachmittags von 
einem Spaziergänger entdeckt Die Leichen lagen an einer beinahe 
unbewaldeten Stelle des Heuberges. Einer der Toten dürfte un- 
gefähr 28 Jahre, der zweite 35 Jahre alt gewesen sein. Beide 
hatten Schusswunden an der linken Brustseite. Der Revolver, mit 
welchem die grauenvolle That begangen wurde, lag zu den Füssen 
des jüngeren Mannes. Daraus schliesst man, dass dieser zuerst 
seinen Genossen tötete und dann sich mit derselben Waffe den 
Tod gab. Bei dem jüngeren Mann fand man ein Arbeitsbuch, das 
auf den Namen Karl Koller, Schlossergehilfe, 28 Jahre alt, lautete. 
Bei dem älteren Mann wurde eine Visitkarte, auf den Namen, Adolf 
Baier lautend, gefunden. Im Besitze des Letzteren befanden sich 
überdies die Photographie einer jungen hübschen Dame und ein 
Zettel, auf dem der Name Slaviczek steht Heute Vormittags wurde 
ein Leichnam thatsächlich als der Karl Kollers von einem in der 
Piaristengasse Nr. 4 wohnhaften Bruder des Selbstmörders agnosziert 
Karl Koller war Schlossergehilfe und stand zuletzt in der Fabrik 
von Gratzl's Nachfolger in der Brigittenau in Arbeit Er war ver- 
heiratet und Vater von mehreren Kindern, lebte jedoch von seiner 
Frau geschieden. Der Mann, der mit dem Schlossergehilfen gemein- 
sam aus dem Leben schied, soll nach einer zweiten Annahme 
Slaviczek heissen und der Neffe eines Tischlermeisters in Margarethen 
sein. Die weiteren Erhebungen über ihn sind im Zuge. 

Eine sonderbare Ehe. In Riga ist ein Fall passiert, der in 
den Annalen des Ehelebens wohl einzig dasteht. Die Witwe eines 



— 457 — 



achtbaren Mannes reichte bei der Behörde ein Gesuch ein, wieder 
ihren Mädchennamen führen zn dürfen, da ihr verstorbener Gatte, 
mit dem ste zwanzig Jahre vermählt war, eine Frau gewesen sei. 
Auf die Frage warum sie den Fall nicht früher zur Anzeige ge- 
bracht habe, erklärte die Witwe, dass sie sich geschämt habe, die 
ganze Angelegenheit bekannt zu geben. 



Eine dunkle Affaire. Das „Kleine Journal" hat die Ver- 
haftung zweier Unteroffiziere des Gardekürassierregiments zu Berlin 
gemeldet und dieselbe mit der Ermordung der Louise Günther in 
der Hasenhaide in Verbindung gebracht Das letztere ist inzwischen 
dementiert worden. Heute ergänzt das genannte Blatt seinen Be- 
richt durch folgende Mitteilung: Die beiden Unteroffiziere begaben 
sich am Abend des 14. April in die Privatwohnung einer sehr 
hochstehenden Persönlichkeit und beschuldigten dieselbe eines Ver- 
gehens gegen § 175 des St.-G.-B. und verlangten als Schweigegeld 
mehrere hundert Mark. Der geängstigte Herr sah sich veranlasst, 
die Unteroffiziere zu ersuchen, so lange in seiner Wohnung zu 
bleiben, bis er die verlangte Summe geholt, da er augenblicklich 
nicht soviel Baargeld bei sich hätte. Als er wieder zurückkehrte, 
bot sich ihm ein widerliches Bild. Die Unteroffiziere hatten seine 
Cognaoflasche geleert und unter der Macht des Alkohols wie die 
Vandalen in seiner Wohnung gehaust, Läden und Spiegel zertrümmert, 
Glas und Porzellan zerschlagen. Nachdem er den Burschen das 
Geld eingehändigt, entfernten sie sich. Einige Wochen später forderten 
die Unteroffiziere in einem Briefe einen höheren Betrag als Schweige- 
geld. Sollte sich Adressat weigern, die verlangte Summe zu be- 
willigen, so würden sie keinen Stuhl in seiner Wohnung ganz lassen. 
Mit diesem Brief begab sich dann der Adressat zu der Kriminal- 
polizei. Der betreffende Kommissar, dem das merkwürdige Zu- 
sammentreffen der verübten Erpressung mit dem Datum des 
Günther'sohen Mordes auffiel, stellte die notorischen Beziehungen 
des einen der beiden Erpresser zu Luise Günther fest und tibergab 
das gesamte Material dem Gardektirrassierregiment, worauf die Ver- 
haftung der beiden Unteroffiziere erfolgte. Thatsache ist, dass die 
beiden Unteroffiziere an jenem Abend sinnlos betrunken in die 
Kaserne zurückgekehrt sind und zwar zu einer Zeit, zu der nach 
Aussage der Mord bereits vollbracht sein konnte. Die Kaserne 
liegt unweit des Fundortes der Leiche. — Von anderer Seite wird 
über den Fall geschrieben: Wie jetzt bekannt wird, ist die Ver- 
haftung zweier Unteroffiziere des Gardekürassierregiments in der 
That erfolgt, steht aber in keinem Zusammenhange zu der Ermord- 



— 458 — 



ung der Luise Günther. Vielmehr ist der Grund in Vergehen gegen 
§ 175 des Reiohsstrafgesetzbuches und damit zusammenhängenden 
Erpressungen gegen einen ehemaligen Offizier zu sehen* Daas 
gleichzeitig mit der Verhaftung der beiden Unteroffiziere, Ebert und 
Rother, der Verdacht entstand, dass sie auch den Mord an der 
Günther verübt haben könnten, ist darauf zurückzuführen, dass die 
Beiden die Luise Günther am Abend vor ihrer Ermordung bei sich 
in der Kaserne hatten. Erwiesen ist aber, dass die Unteroffiziere 
die Günther gegen Vill Uhr wieder zum Kasernenthor hinaus- 
gelassen haben, worauf das Mädchen nach der Haide fortging. Aus 
diesem Grunde ist dem Umstände, dass bei einem der Unteroffiziere 
ein Taschentuch der Günther gefunden wurde, keinerlei Bedeutung 
beizumessen. Die Posten, welche die Unteroffiziere und das Mädchen 
einliessen, wurden mit Arrest bestraft 



Telegramm aus Brescia (Italien) 14. Nov. Ein seltsamer 
Fall von Hermaphroditismus. Samstag morgen wurde im hiesigen 
Hospital ein junger Herr operiert, welcher an einem doppelten 
Leistenbruch litt (doppia ernia inguinale). Der operierende Chirurg 
entdeckte in der Tiefe der rechten Leiste eine vollkommen ent- 
wickelte Gebärmutter (otero) mit den zwei Muttertrompeten und 
dem Eierstock. Der Operierte ist ein wohl konstituierter junger 
Mann, Ehemann und glücklicher Familienvater. Die Aerzte sagen, 
dass es sich um einen ausserordentlichen Fall hande, der vielleicht 
einzigartig in der Geschichte der Medizin dastehe. 



Selbstmord eines Offiziers. Aus Gran wird berichtet: 
Oberleutnant Friedrich Neumann (vom Graner Regiment Grossfürst 
Michael Nr. 26) begab sich am Vormittag des verflossenen Sonntags 
in die Franciskanerkirohe und dann in seine Wohnung, wo er sich 
vor seinen Schreibtisch setzte und aus einem Armee-Revolver zwei 
Schüsse gegen seine Brust abfeuerte. Vorher hatte er seinen Diener 
mit einem Auftrage aus dem Hause geschickt, und als der Diener 
wieder zurückkehrte, fand er seinen Herrn bereits tot. Oberleutnant 
Neumann war ein in sich gekehrter, von der Welt abgeschlossener 
junger Mann. Er mied jedwede Unterhaltung, ging regelmässig ganz 
allein spazieren und lebte nur seinem Berufe und der militärischen 
Literatur. Abends begab er sich stets zeitich nach Hause und 
studierte. Damengesellschaften mied er in dem Masse, dass man 
ihn einen Damenfeind nannte. 



— 459 — 



Ein Sittenbild aus einer Grossstadt Jüngst wurde 
durch die Berliner Polizei ein junger reicher Amerikaner Adalbert 
Bussel Withney verhaftet. Ueber den Grund dieser viel Aufsehen 
erregenden Inhaftnahme berichtet man aus Berlin: Mitte Dezember 
v. J. erschienen drei elegant gekleidete Herren in einem bekannten 
Lokale Moabits mit der Anfrage, ob der Wirt für den 20. desselben 
Monats seine Säle zu einer Hochzeitsfeier hergeben könne. Sie er- 
hielten einen zusagenden Bescheid, und ein Saal wurde bereits am 
18. Dezember in eine Capelle umgewandelt. Das bezügliche Inven- 
tar hatte die Möbelhandlung von M. in der Friedrichstrasse geliefert 
Tapezierer hatten einen Altar errichtet, Gärtner reichen Blumen- 
flor herbeigeschafft, und als der Tag gekommen war, an dem der 
Wirt seine vornehmen Gäste erwartete, trafen zunächst Kriminal- 
beamte mit dem Kommissarius M. an der Spitze ein, welche dem 
erschrockenen Wirte mitteilten, dass die zu trauende Braut der 
Amerikaner Withney sei, dass man aber der Gesellschaft vorläufig 
freies Spiel lassen möge. Alsbald rollte denn auch Equipage auf 
Equipage vor, deren Insassen zum grossen Teile in hocheleganter 
Damenkleidung erschienen, sich aber später^als lauter Männer 
herausstellten. Ein Wagen brachte den „Geistlichen", wie sich 
später ergab, einen Dr. Saal, ein anderer zuletzt den „Bräutigam". 
Der „Bräutigam", ein früherer Ulane, Daniel Lindenberg, trug grosse 
preussisohe Generalsuniform, die „Braut" — Withney — rauschte 
in weissem Atlas mit Myrthenkranz und Schleier in den Saal, ehr- 
furchtsvoll von den Anwesenden begrüsst Die Kriminalpolizei 
hatte zugleich mit der Festgesellschaft die „Capelle" betreten, und 
als man ihrer ansichtig wurde, überging man den beabsichtigten 
„Trauakt" und schritt sofort zur Tafel, welche für 45 Personen ge- * 
deckt war. Bei dem prachtvollen Festessen floss der Champagner 
in des Wortes wahrer Bedeutung in Strömen. Nach Aufhebung 
der Tafel ging man, wie gewöhnlich bei Hochzeiten, zum Tanze 
über. Das „weibliche" Element überwog bei der „Hochzeitsfeier" 
bedeutend. Die Kosten trug Withney, welcher ein dickes Paket 
von Hundertmarkscheinen zu diesem Zwecke mit sich führte. Wie 
der Wirt einem Berichterstatter versicherte, soll die Anzeige an 
die Kriminalpolizei durch einen besonders hochstehenden Geistlichen 
über den Vorfall erstattet worden sein; diesem war durch einen 
der „Trauzeugen" eine bezügliche Mitteilung zugegangen. Wir 
wollen noch bemerken, dass die „Braut" Withney, die sonst ein 
kräftiger Bart zierte, diesen der Feier zum Opfer gebracht hatte. 



— 460 — 



Ein dreister Erpressungsv ersuch wurde gegen den 
Kaufmann G. in der Kommandantenstrasse verübt In seinen Laden 
kam ein junger Mensch und tibergab ihm einen Brief^ durch dessen 
Inhalt er nicht wenig empört wurde. Der Schreiber, der sich nur 
mit „N. N. M unterzeichnete, teilte dem G. mit, dass dessen Schwieger- 
vater ein Sittlichkeitsverbrechen begangen habe. Iiesse G. sich 
nicht herbei, dem Ueberbringer des Briefes sofort 300 Mark aus- 
zuhändigen, so würde der Verfasser sich sofort zu einer Zeitung 
begeben, um die That seines Schwiegervaters mit vollem Namen 
und mit allen Einzelheiten in die Oeffentlichkeit zu bringen. G. fiel 
auf den plumpen Erpressungsversuch nicht hinein. Da der Ueber- 
bringer des Briefes erklärte, dass sein Auftraggeber vor der Thür 
warte, begab sich G. mit dem jungen Burschen auf die Strasse. 
Der Absender war aber nicht zu erblicken. Am folgenden Tage 
wiederholte sich der Erpressungsversuch in verschärfter Form mit 
demselben Ueberbringer. Diesmal gelang es, den Erpresser auf 
der Strasse zu entdecken und seine Festnahme zu bewirken. Es 
war ein vielfach vorbestrafter Mensch, der Maschinenbauer Emil 
Werchau, der sich gestern vor der neunten Strafkammer des Land- 
gerichts 1 zu verantworten hatte. Es stellte sich heraus, dass der 
von ihm benutzte Bote von dem Inhalt der Briefe keine Kenntnis 
hatte. Werchau wurde zu einer Gefängnisstrafe von sechs Monaten 
und zweijährigem Ehrverlust verurteilt 



Selbstmord eines Handels ak ademike rs. Aus Graz 
wird uns vom 23. d. telegraphiert: Der sechzehnjährige Handels- 
akademiker Georg Lindner hat sich heute Nacht hier auf offener 
Strasse erschossen; in einem Briefe, den man bei dem unglücklichen 
jungen Manne fand, gab der Lebensüberdrüssige an, der Grund 
des Selbstmordes sei sein Geheimnis; er wolle dieses in das Grab 
mitnehmen. Lindner, der aus Budapest gebürtig ist, war ein intimer 
Freund des Handelsakademikers, der sich vor Kurzem in einer 
hiesigen Badeanstalt erschossen hat. 

Wienotwendig es ist, dass ein gewisser Sittlichkeitsparagraph 
im Strafgesetzbuche beseitigt werde, zeigt ein Vorfall, über den 
uns folgender Gerichtsbericht zugeht: Dem Sumpfe der Grossstadt 
entsprossen war eine aus acht Köpfen bestehende Bande jugend- 
licher Erpresser, deren Thaten gestern der Prüfung der 3. Straf- 
kammer unterlagen. In Berlin giebt es eine Unzahl von höchst 
gefährlichen Burschen, die sich in freundlicher Weise Fremden, die 
ohne Begleitung durch die Strassen Berlins ziehen, oder anderen 



— 461 — 



einzelnen Herren nähern, mit ihnen Bekanntschaft anknüpfen und 
dann unter allerlei versteckten und offenen Drohungen Gelder von 
ihnen zu erpressen wissen. Die gestern auf der Anklagebank er- 
schienenen Verbrecher dieser Art, die schliesslich allesamt von 
dem Kriminalkommissar v. Tresckow festgenommen worden sind, 
haben die Erpresserschraube gegenüber einem Offizier und einem 
Professor einer auswärtigen Universität in unerhörtem Masse an- 
gezogen. Zu dem letzteren reisten die Mitglieder der Bande 
wiederholt hinüber, erpressten von ihm wiederholt Gelder und 
lockten ihm schliesslich 1000 Mark aus der Tasche, angeblich um 
damit nach Amerika auszuwandern. Die Verhandlung, welche bei 
geschlossenen Thtiren geführt wurde, endete mit der Verurteilung 
des Kellners Georg Kubicki zu einem Jahr Gefängnis, des Schreiber- 
lehrlings Gebers zu 9 Monaten, des Buchbinders Oskar Gleisberg 
zu 1 Jahr 6 Monaten, des Goldarbeiters Staupe zu 2 Jahren, des 
Kellners Hans Hauck zu 2 Jahren, des Kutschers Otto Schuckardt 
zu 3 Monaten, des Kellners Herrn. Krahl zu 2 Monaten und des 
Kellners Max Paul zu 9 Monaten Gefängnis. Ein neunter Ange- 
klagter wurde freigesprochen. 



Mord und Selbstmord. In der Neubadgasse wurde heute 
Nachts der Mitbesitzer des dort befindlichen Hotels „Garni", Rudolph 
Wieser, von seinem Freunde, dem Goldarbeitergehilfen Lorentz 
Kötzer, durch einen Revolverschuss getötet. Unmittelbar darauf 
feuerte der Mörder den Revolver gegen sich ab. Das Projektil 
drang ihm in die Mitte der Schläfe und verletzte ihn so schwer, 
dass er bald nach seiner Ankunft im Spital der Barmherzigen 
Brüder verschied. Ein krasses Sittenbild der Grossstadt entrollt 
sich, wenn man den Motiven dieses Verbrechens nachgeht. Vor 
der Ausführung der entsetzlichen That legte er das Geständnis 
seiner Beziehungen zu dem Hotelier nieder, so dass das geheimnis- 
volle Dunkel, welches bei Entdeckung des Mordes über die den- 
selben begleitenden Umstände herrschte, völlig gelichtet ist. Nach- 
stehend die Einzelheiten des in seiner Art in der Wiener Lokal- 
chronik einzig dastehenden Falles : Heute Nachts um 1 I 4) 12 Uhr 
wurde Rudolph Wieser, der, wie schon erwähnt, Miteigentümer des 
„Hotel Garni" in der Neubadgasse Nr. 4, einem Seitengässchen in 
der inneren Stadt ist, in einem im ersten Stockwerke gelegenen 
Zimmer tot aufgefunden. Neben der Leiche lag ein junger Mann 
mit einer Schusswunde in der rechten Schläfengegend im sterbenden 
Zustande. Zwischen Beiden lag ein sechsläufiger Revolver, aus 
welchem zwei Projektile abgefeuert waren. Nach der Situation 



— 462 — 



konnte man nichts anderes annehmen, als dass Wieeer das Opfer 
eines Verbrechens geworden sei. Die bald erschienene polizeiliche 
Kommission hatte alsbald die Identität des junges Hannes, mit dem 
Goldarbeitergehilfen Lorenz Rötzer sichergestellt, von dem dann 
später mehrere Bedienstete des Hotels angaben, dass er zu Wieser 
seit Jahren in freundschaftlichen Beziehungen stand. Gegen halb 
11 Uhr kam Rötzer in das Hotel. Er wusste, dass sein Freund 
Wieser, der abwechselnd mit dessen Bruder Otto Wieser, ebenfalls 
Mitbesitzer des Hotels, zur Nachtzeit die Portiersdienste im Hotel 
selbst versah, gerade gestern die Diensttour hatte. Er traf diesen 
in Gesellschaft des Privaten Ferdinand Böbs, Ottakring, Geblergasse 
Nr. 8 wohnhaft, in der Portierloge an. Rötzer erklärte, Wieser 
dringend sprechen zu wollen und Beide begaben sich nun in das 
Zimmer Nr. 1 im ersten Stockwerk. Wieser ersuchte indes Herrn 
Büss, er möge ihn in der Portierloge vertreten. Eine geraume Zeit 
nach der Entfernung der Beiden fielen Schüsse. Herr Böbs ahnte r 
dass zwischen Wieser und Rötzer, den er nur dem Namen nach 
kannte, etwas Ausserordentliches vorgefallen sein müsse. Er eilte 
mit mehreren anderen Bediensteten in das bezeichnete Gemach und 
fand dort die Beiden in der oben geschilderten Situation vor. Die 
polizeiliche Kommission konnte mit Rücksicht auf die Briefe, die in 
der Hosentasche des Mörders gefunden wurden, nichts Anderes an- 
nehmen, als dass Rache der Beweggrund für das fürchterliche Ver- 
brechen war. Die Zeilen Rötzers behaupten, Wieser habe ihn elend 
gemacht. Nunmehr habe ihn der Hotelier schroff zurückgestossen. 
Zum gemeinen Erpresser wolle er nicht werden, und, um nicht noch 
tiefer zu sinken, habe er die That ausgeführt Einen der Briefe, 
die den Mord und Selbstmord erklären, hat Rötzer an einen Freund, 
einen zweiten an ein Wiener Tagesjournal und einen dritten an die 
Polizeidirektion gerichtet. An seine Mutter hat der Mörder schon 
gestern einen mehrere Seiten langen Brief geschrieben, in dem er 
gleichfalls das Motiv der schrecklichen That zu erklären sueht und 
sie um Verzeihung bittet. Die Leichen wurden ins Allgemeine 
Krankenhaus gebracht Der ermordete Hotelier Wieser war ledig 
und in sehr guten Vermögensverhältnissen. 



In einem Aufsatze über: „Die Corporationen der Uled Ssidi 
Hammedu-Muesa und der Orma im südlichen Marokko" (Zeitschrift 
für Ethnologie XXI. Jahrgang 1899 pg. 573 ff.) berichtet M. Gueden- 
feldt Folgendes: „Die ünsittlichkeit unter den „Uled tf (arabischen 
Artisten, meistens Berber) ist eine grosse. Vielfach ersetzen, da 
Frauen und Mädchen (bei den Truppen) ja gänzlich fehlen, die 



— 463 — 



jüngeren Mitglieder die Stelle derselben, was bei der in Marokko 
auch im Allgemeinen sehr verbreiteten Männerliebe auch nicht zu 
verwundern ist." Die „Uled" nennen einen Mann, welcher den 
sexuellen Verkehr mit Knaben, dem mit dem weiblichen Geschlecht 
vorzieht „aderräb". Von den Arabern in Marokko wird ein solches 
Individuum „lünat" genannt oder auch einfach „kähab-ed-dräni tf , 
d. h. Jugendfreund. Der Jüngling, welcher, sei es für Geld, sei es 
aus Zuneigung, geschlechtlich mit einem Mann verkehrt, wird 
„sämel u oder auch „attäi" d. h. „Geber* (= Einer, der sich hin- 
giebt) genannt Ein bärtiger Jüngling oder Mann, der sich zu einer 
passiven Rolle hergiebt, wird „kassas" genannt. 



Eine schmutzige Geschichte. Wegen eines Vergehens 
wider die Sittlichkeit wie einen der Erpressung wurde gestern gegen 
den 37 Jahre alten Kaufmann August F. von Weilheim und den 
22 Jahre alten Bäcker Johann Erhard von Bayreuth und den 20 Jahre 
alten Konditor Albert Schneider von Nürnberg hinter verschlossenen 
Thüren verhandelt. Nach der Anklage hatte sich der Angeklagte 
F. im Hofbräuhaus mit dem Angeklagten Erhard unsittliche Hand- 
lungen zu Schulden kommen lassen und hat ihn dann zum Näch- 
tigen in seine Wohnung genommen. Erhard erzählte dieses seinem 
Freunde Albert Schneider und beauftragte ihn, an F. zu schreiben, 
dass, falls er nicht umgehend 60 Mk. senden werde, Anzeige gegen 
ihn wegen Vergehens wider die Sittlichkeit erstattet werde. Da 
Erhard nicht erschienen, wurde die Verhandlung gegen ihn und F. 
ausgesetzt, dagegen wurde Schneider wegen eines Erpressungs- 
versuches zu 5 Monaten Gefängnis verurteilt. 



Karlsruhe, 9. Aug. Sitzung der Ferienstrafkammer II. In 
geheimer Sitzung gelangte die Anklage gegen den 28 Jahre alten 
Silberwaarenfabrikanten Dr. Hermann B. aus Mannheim, wohnhaft 
in Pforzheim, den 18 Jahre alten Tapezier Friedrich Albert Julius 
Sägert aus Pforzheim, hier wohnhaft, und den 24 Jahre alten Diener 
Josef Liebert aus Namslau, wohnhaft in Pforzheim, wegen Vergehens 
gegen § 175 S.-St.-G.-B. (widernatürliche Unzucht) zur Verhandlung. 
Dr. B. wurde zu 9 Wochen Gefängnis, abzüglich 4 Wochen Unter- 
suchungshaft, Liebert zu 6 Wochen Gefängnis, ebenfalls unter An- 
rechnung von 4 Wochen Untersuchungshaft, und Sägert zu 1 Woche 
Gefängnis, verbüsst durch die Untersuchungshaft, verurteilt. 



Frankfurter Zeitung, 29. September 1899, Abendblatt Nr 270. 
Heidelberg: 28. Sept. Kaum ist der Fall des jetzt emeritierten 



— 464 — 



Gymnasialdirektors Dr. U. ein wenig in den Hintergrund getreten, 
so verlautet als ein sicher verbürgtes Faktuni, dass gegen den 
Lehrer am hiesigen Gymnasium und zugleich Privatdozenten an der 
Universität Dr. B. die Beschuldigung erhoben worden ist, wieder- 
holt einem Bäckerburschen bei dessen Bundgang in der Morgen- 
frühe aufgelauert und ihm unzüchtige Handlungen angesonnen zu 
haben. Dr. B. hat bereits, nachdem sein Benehmen Gegenstand 
der polizeilichen Untersuchung war, Heidelberg verlassen. 



Oldenburg, 21. Juli. Eine weitgehende Erpressung, die seit 
längerer Zeit von mehreren Personen systematisch betrieben wurde, 
beschäftigt jetzt das hiesige Gericht. Die Erpressungen (dieselben 
sollen die Höhe von 28000 Mk. erreicht haben) sind an einem sehr 
wohlhabenden, etwa 70 Jahre alten Privatmann verübt, der an seine 
Bedränger, die ihn eines Sittlichkeitsvergehens beschuldigten, mehrere 
tausend Mark bezahlt haben soll. Zwei der Erpresser, Schornstein- 
fegergesellen in Oldenburg, sind bereits verhaftet worden. Der 
Hauptlibelthäter jedoch, der frühere Schornsteinfeger E. Kohlboff, 
der vor einigen Jahren wegen Doppelehe verurteilt wurde, wird 
leider nicht leicht zu fassen sein; er lebt in England und richtete 
von dort aus Briefe an sein Opfer, worin er die Personen namhaft 
machte, an welche die Zwangszahlungen zu leisten seien. 



Oldenburg, 7. Febr. Die schon im Juli v. J. in d. Bl. er- 
wähnte Erpressungsgeschichte von Kohlhoff und Konsorten fand 
heute vor der Strafkammer des Landgerichtes ein vorläufiges Ende, 
da möglicherweise gegen eine beteiligte Person noch weitere Er- 
hebungen stattfinden können, doch dies ist Sache des Staatsanwaltes. 
Die Anklage lautete auf Erpressung, begangen gegen den Land- 
mann, jetzt Rentner von Seggern und zwar ad 1 gegen den Schorn- 
steinfeger Georg Möhlinann, 19 Jahre alt, wegen mindestens 7000 
Mark; ad 2 gegen den Schornsteinfeger Emil Kohlhoff, 21 Jahre 
alt, wegen mindestens 2380 Mk. ; ad 3 gegen den Wirt Wilh. Kohl- 
hoff, 40 Jahre alt, wegen 800 Mk.; ad. 4 gegen den Tanzlehrer 
Schröder, 57 Jahre alt, wegen 500 Mk.; ferner noch der Schorn- 
steinfeger Fr. W. Förster, 20 Jahre alt, und der Schuhmacher Fr. 
Schulte 20 Jahre alt, wegen je mindestens 40 Mk. Die Angeklagten 
sollen die bei deren Namen bezeichneten Beträge durch Drohungen, 
den v. Seggern der widernatürlichen Unzucht etc. event. anzuzeigen, 
erpresst zu haben, der ad 3 bez. Wilh. Kohlhoff hat die bez. 800 
Mark als Darlehen erhalten und später in gleicher Weise einen 
Empfangsschein über Rückzahlung des Betrages sich verschafft 



— 465 - 



Die Verhandlungen fanden bei verschlossenen Thtiren statt nnd 
wurde erst um ca. 4 Uhr die Oeffentliohkeit wieder hergestellt, als 
die Urteile verkündet werden sollten. Selbiges lautete, wie schon 
tel. mitgeteilt, gegen Mühlmann auf 1 Jahr 6 Monate Gefängnis, 
abzttgl. 8 Monat Untersuchungshaft, gegen Emil Kohlhoff auf 1 Jahr 
6 Monate Gefängnis, abziigl. 4 Monate Untersuchungshaft (welche 
seit dem 19. Juli v. J. dauerte), gegen Wilh. Kohlhoff auf 6 Monate 
Gefängnis, abziigl. einer Untersuchungshaft seit dem 3. Sept. v. J., 
gegen Sch rüder gleichfalls 6 Monat Gefängnis unter gleicher Ver- 
günstigung. Förster und Schulte wurden freigesprochen. Ein Mit- 
schuldiger, angeblich der Hauptattenthäter (Kohlhoff), hat sich der 
irdischen Gerechtigkeit entzogen, indem er von einem Dampfer 
Uber Bord gesprungen ist, und ein Trompeter ist vom Militärgericht 
bereits zu Gefängnis und Degradierung verurteilt. 



Wegen E rpressung verfolgt wird der Kellner Karl Bartsch, 
der zuletzt in der Mittenwalder Strasse eine Schlafstelle inne hatte. 
Er hatte sich in Rixdorf eines Vergehens gegen den § 175 des 
Strafgesetzbuchs zu Schulden kommen lassen und dann sein Opfer 
mit Anzeige bedroht, falls dieses nicht Schweigegeld zahle. Bisher 
fehlt jede Spur des Flüchtlings. 



Das plötzliche Verschwinden des Gärtnereibesitzers 
B., der in Pankow mehrere Ehrenämter bekleidete, erregt grosses 
Aufsehen. Gegen B. ist wegen Verbrechens gegen die Sittlichkeit 
<§ 175 St.-G.-B.) Strafanzeige erstattet worden. 

Wegen Erpressungen verhaftet ist auf telegraphisohes 
Ersuchen des hiesigen Polizeipräsidiums der Friseurgehilfe Gustav 
Gl. in KUstrin. Gl. war zuletzt bei einem Friseur in der Komman- 
dantenstrasse in Stellung. Er ist der Sohn eines Hotelbesitzers und 
hat eine sehr gute Erziehung erhalten. Umgang mit leichtsinnigen 
jungen Leuten hat ihn jedoch verdorben, und als sein Einkommen 
für seine noblen Extravaganzen nicht mehr zulangte, hat er sich 
durch Erpressungen Geld zu verschaffen gesucht. Sein Komplize, 
der sich noch in Berlin befand, ist ebenfalls verhaftet worden. 

Düren, 5. Mai. Gestern ist der hiesige Fabrikant Clemens 
August Hoffsümmer wegen fortgesetzten Vergehens gegen § 175 
des Strafgesetzbuches in das Untersuchungsgefängnis nach Aachen 
abgeführt worden. Die Verhaftimg erregt hier um so grösseres 
Aufsehen und kann auch nicht der Oeffentlichkeit vorenthalten. 

Jahrbuch LT 30 



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werden, weil H. eine in gewisser Beziehung hervorragende Stellung- 
einnahm: er war Stadtverordneter, Kreisausschussmitglied, Vor- 
sitzender der Volksbank, Mitglied des Kirchenvorstandes, Vorstands- 
mitglied der Aktiengesellschaft des katholischen Volksblattes 
Dtirener Anzeiger und seit langen Jahren der Führer der hiesigen 
Zentrumspartei. Ein Mitbeschuldigter und ein Mitwisser, der seine 
Kenntnis der Vergehen zu Erpressungen benutzt hat, sind ebenfalls 
verhaftet. Wie es heisst, stehen noch weitere Verhaftungen wegen 
erpresserischer Ausbeutung bevor. 

Düren, 12. Mai. Die Inhaftierung des Fabrikanten Clemens 
Aug. Hoffstimmer wegen Vergehens gegen § 175 zieht immer weitere 
Kreise. In den letzten Tagen nahm die Polizeibehörde wieder 
mehrere Personen in Haft, welche der Beihilfe bezw. Erpressung- 
angeschuldigt sind. 

(Anmerkimg. Hoffsümraer wurde in der Hauptverhandlung zu 
6 Monaten Gefängnis verurteilt. Die Freilassimg gegen 20000 Mk. 
Kaution war wegen Fluchtverdacht abgelehnt worden. Eine längere 
Beobachtung in einer Irrenanstalt hatte keinen Ausschluss der freien 
Willensbestimmung ergeben. Ein Mitschuldiger, weil er von H. 
Geld genommen habe und vorbestraft war, erhielt 18 Monate. 



„Monseigneur" Sarah. Wir haben von der Begeisterung- 
erzählt, mit der Sarah Bernhardt ihre Rolle in Rostands neuem 
Werk „Dejun 'o Adler* 1 probiert. Diese Begeisterung nimmt nach 
dem Bericht französischer Blätter ganz eigentümliche und sehr 
amüsante Formen an. Sarah spielt, wie schon erwähnt, in dem 
Werk die Rolle des Herzogs von Reichstadt Sie hat für diese Aut- 
gabe bei ihrem letzten Gastspiel in Wien sehr eingehende historische 
Studien gemacht und sogar wie damals Wiener Zeitungen erzälten, 
Exerzierunterricht genommen. Das war aber der strebsamen Künst- 
lerin noch nicht genug. Seit einiger Zeit trägt sie in ihrer Wohnung 
überhaupt nur noch die Uniform: weissen Waffenrock, Beinkleid, 
seidene Strümpfe, Schärpe und Degen. So empfängt sie ihre In- 
timen zum Dejeuner, und es ist strenge Vorschrift für alle Freunde 
des Hauses, die geniale Wirtin mit der ehrfurchtsvollen Anrede 
„Monseigneur" oder „Hoheit" zu begrüssen. Wer sich ganz be- 
sonders beliebt machen will, der treibt selbst Kostümstudien und 
macht die „Göttliche" respektvoll darauf aufmerksam, wenn noch 
irgend was an Tracht und Benehmen unmilitärisch und unseitgemäss 
ist Das künstlerische Hofzeremoniell, mit dem sich Sarah nmgiebt, 
hat natürlich schon manche erheiternde Episode veranlasst. So liess 
sich kürzlich einer der bekanntesten Schöngeister der Pariser Ge- 



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Seilschaft bei der Künstlerin melden. „Hat Hoheit Ihnen eine 
Audienz bewilligt V" fragte man ihn. „Hoheit?!" „Haben Sie eine 
Karte bei sich?" „Freilich!" antwortete der Besucher erstaunt; 
sonst wurde er nämlich auch ohne Karte eingelassen! Nach einer 
kurzen Wartezeit erhält er den Bescheid, dass „Monseigneur geruhen 
wolle, ihn zu empfangen", folgt völlig verwirrt und gespannt dem 
führenden Diener und steht plötzlich vor einem zierlichen Jüngling 
in Uniform, der ihm lachend die Hand entgegenstreckt und ihn 
nach Neuigkeiten aus Nizza fragt. Es ist „Monseigneur" Sarah, der 
weibliche Herzog von Reichstädt. . . 

Die Zofe in Hosen. Es ist ein Zug der Zeit, den man in 
aller Herren Länder beobachten kann, dass das weibliche Geschlecht 
(üe Männer aus vielen ihrer Stellungen verdrängt. Da ist es denn 
eine wahre „Erquickung", auch einmal das Gegenteil zu hören, z. 
B. dass die also um ihren Dienst Gebrachten ihrerseits manche 
Domäne der Frauen, z. B. die des — Kammerkätzchens an sich 
reissen. Wo anders aber als bei den fashionablen Damen New- 
Yorks wäre so etwas möglich? Eine Modedame der nordameri- 
kanischen Weltstadt schreibt darüber einer Freundin: „Ich habe 
raeine Zofe entlassen und einen Kammerdiener angenommen. Und 
ich muss sagen, ich bin nie in meinem Leben besser bedient worden. 
Meine Kleider werden vorzüglich in Stand gehalten, meine Stiefel, 
Schuhe und Pantoffeln sind stets wie neu; meine Frisur ist nie 
reizender gewesen. Auf der Reise ist mein Diener unersetzlich. 
Nichts vergisst er, und packen kann er wie ein Engel! Meine 
Schwester wollte sich tot lachen, als sie meinen Jean meine Koffer 
auspacken und meine Dinertoilette zurechtlegen sah. Ja, warum 
denn nicht? Wenn Männer Damenschneider und „Modistinnen" 
sind, so sehe ich nicht ein, warum sie nicht auch vorzügliche per- 
sönliche Aufwärter sein sollten! Mein Jean kann einen Hut gar- 
nieren oder ein Kleid umändern besser als irgend eine Zofe, die ich 
je gehabt!" — (Wir bringen demnächst eine Abhandlung, die das 
Vorstehende des Weiteren beleuchtet. D. R.) 

Der Zeichenprofessor an der Währinger Realschule, Anton 
Schimatschek, wurde heute in geheimer Verhandlung wegen Ver- 
brechens des § 129 St.-G., begangen an Schülern, zu einem Jahre 
schweren Kerkers verurteilt. Die Gerichtsärzte, welche den Ange- 
klagten einer längeren Untersuchung unterzogen hatten, gaben das 
Gutachten ab, dass er nicht normal veranlagt, aber doch als zu- 
rechnungsfähig anzusehen sei. 



30* 



— 468 — 



Versuchter Mord und Selbstmord. Eine Fainilien- 
tragödie eigener Art hat sich am Sonnabend in früher Morgenstunde 
auf dem Gesundbrunnen abgespielt. Die Schaffherfrau Therese 
Heuer stürzte sich, nachdem sie ihren Mann mit einem Beile am 
Hinterkopfe schwer verletzt hatte, aus dem Fenster ihrer, im vierten 
Stock des Hauses Koloniestrasse 42 gelegenen Wohnung auf den 
Hof hinab und fand auf der Stelle den Tod, Ueber das traurige 
Ereignis haben wir folgende Einzelheiten ermittelt. In dem genannten 
Hause wohnte seit dem 1. Oktober d. J. der am 9. November 1879 
geborene Pferdebahnschaffher Ernst Heuer mit seiner im Jahre 1869 
geborenen Ehefrau Therese, geb. Neumann. Heuer hatte sich erst 
vor Kurzem vom Strassenbahnhof in der Müllerstraase nach dem 
Bahnhof auf dem Gesundbrunnen versetzen lassen. Die seit faat 
vier Jahren bestehende Ehe des Paares war glücklich, obwohl der 
Mann noch in einem sehr jungen Alter stand und seine Frau zehn 
Jahre mehr zählte als er. Vor einem Vierteljahre machte Heuer die 
Bekanntschaft eines jungen Mannes, zu dem er infolge ge- 
schlechtlicher Verirrungen in nähere Beziehungen 
trat. Nun war es mit dem Eheglück vorbei. Zank und Streit ent- 
zweiten die Eheleute immer mehr. Schliesslich machte der Mann 
Anstalten, seine Frau zu verlassen, weil er seinen Bekannten ihr 
vorzog. Die Frau, die ihm sehr zugethan war, wollte nicht von ihm 
lassen. Als sie endlich einsah, dass kein Auskommen mehr mit ihm 
war, beschloss sie, ihn umzubringen und ihm dann in den Tod zu 
folgen. Zur Ausführung dieses Planes wurde sie veranlasst, ab* 
Heuer am Freitag verschiedene Wirtschaftssachen und die Trauringe 
wegschaffte. Aus ihrer Absicht hatte sie schon früher auch ihrem 
Manne gegenüber kein Hehl gemacht. Dass der Plan feststand, 
geht auch aus Briefen hervor, in denen sie die Straasenbahn-Direktion 
und ihren Bruder über die Verhältnisse aufklärte. Heuer rechnete 
also damit, dass seine Frau etwas gegen ihn unternehmen könnte. 
Als er daher Freitag Abend spät nach Hause kam und abermals 
eine Auseinandersetzung mit seiner Frau hatte, nahm er heimlich 
das Küchenbeil an sich und legte es unter sein Kopfkissen. Frau 
Heuer wartete die Zeit ab, bis um 4 Uhr Sonnabend Morgen ihr 
Mann im tiefsten Schlafe lag. Dann schlich *ie sich an sein Bett 
heran, nahm leise das Beil, das sie dort gleich vermutete, als sie es 
in der Küche nicht fand, unter dem Kissen hervor und versetzte 
damit ihrem Manne mehrere Hiebe über den Kopf. In der Meinung, 
dass sie ihn getötet habe, ergriff sie dann ein scharfgeschliffenea 
Kttchenmesser und eine Scheere tmd machte sich daran, sich die 
Pulsadern zu öffnen. Heuer war jedoch nicht tot. Er sah das Be- 



— m — 



ginnen seiner Frau, raffte sich auf und sprang aus dem Bette, um 
sie vom Selbtmord abzuhalten. Die Frau warf sich ihm entgegen, 
brachte ihm mit der Scheere einen Stich in den rechten Unterarm 
bei und lief dann weg zu einer Frau Schulz, die mit ihrem Manne 
eine Treppe höher wohnt. Während ihr Mann sich zur nächsten 
Unfallstation schleppte und von dort nach der Charitee gebracht 
wurde, klagte Frau Heuer der Nachbarin ihr Leid. Nim müsse sie 
erst recht aus dem Leben scheiden, da ihr die Verhaftung und das 
Zuchthaus drohe. Frau Schulz suchte sie zu beruhigen und glaubte, 
damit nach einigen Stunden auch Erfolg zu haben. Als sie dann 
aber gegen 6'/t Uhr auf einen Augenblick das Wohnzimmer ver- 
Hess, stürmte Frau Heuer ans der Küche dorthin, riss ein Fenster 
auf und stürzte sich aus dem vierten Stock auf den Hof hinab, wo 
sie mit zerschmetterten Gliedmassen tot liegen blieb. In der neunten 
Stunde wurde die Leiche nach dem Schauhause abgeholt. 

Meiningen. Ungeheures Aufsehen erregt die Entdeckung, 
dass der bekannte Geologe Dr. P., Lehrer am hiesigen Realgymnasium, 
jahrelang an Zöglingen Vergehen begangen hat, die unter die 
§§ 174 und 175 des Strafgesetzbuches fallen. P. ist geflüchtet und 
wird steckbrieflich verfolgt. 

New -York. Jacob Beresheim, ein Junge von 15 Jahren, ist 
der geständige Mörder des Restanrateurs Kraner, der, wie schon 
gemeldet, mit eingeschlagenem Schädel und abgeschnittener Kehle 
in seinem Lokale tot aufgefunden wurde. Der Knabe Beresheim 
— Krauer liebte es, junge Burschen als Gehilfen zu engagieren — 
war ziüetzt bei ihm gesehen worden und wurde leicht ermittelt. 
Zuerst leugnete er hartnackig. Da ihm aber bewiesen wurde, dass 
er schon früher einen Mordanfall auf Krauer gemacht,? legte er ein 
Geständnis ab. Es ist festgestellt, dass der Knabe, der von den 
eigenen Eltern als zum Auswurf der schlimmsten Sorte gehörig ge- 
schildert wird, auf Grund geheimer Beziehungen zu Krauer fort- 
während Geld von ihm erpresste und sich zu einem Mordanfall auf 
ihn verstieg, als Kraner schliesslich kein Geld mehr herausrücken 
wollte. Wenn kein Komplize ermittelt werden kann, wird die 
Affäre mit Ueberweisung des Knaben an eine Besserungsanstalt 
enden, die hier als Hochschulen des Verbrechens gelten. — ,Es muss 
gesagt werden, dass ganze Banden von Früchtchen dieser Sorte die 
Stadt durchstreifen. 



— 470 — 



Wegen Päderastie angeklagt waren der wegen Sittlichkeits- 
verbrechen vorbestrafte Kellner Bernhard Sendker und der Kellner 
Heinrich Kippner von hier. Letzterer ist flüchtig. Das Gericht ver- 
urteilte den Sendker zu 1 Jahr Gefängnis und 5 Jahren Ehrverlust. 

Die beiden Freunde. Wie bereits bekannt, suchten gestern 
Abend zwei Freunde durch einen Sprung in die Donau ihrem Leben 
gewaltsam ein Ende zu bereiten. Der Eine fand den Tod, der 
Andere, Rudolph Gottlieb, wurde von zwei Matrosen gerettet und 
in das Spital der Barmherzigen Brüder überführt Nach einer etwa« 
unruhig verbrachten Nacht hat sich Gottlieb bereits soweit erholt, 
dass er heute Mittag das Krankenhaus verlassen konnte. Im Laufe 
des Vormittags liess er auch seine Behauptung, dem Freunde nach- 
gesprungen zu sein, um ihn zu retten, fallen, und gestand, daas er 
mit tyJwy gemeinsam zu sterben beabsichtigt habe. Er gab an» 
dass die drückende materielle Lage sie zu dem verzweifelten Schritte 
getrieben habe, dass er nicht länger mit ansehen konnte, wie es 
seinem Freunde von Tag zu Tag schlechter ging, so dass er schliess- 
lich hungern musste. Als er sah, dass Löwy gegen das Schicksal 
vergeblich ankämpfe, gab auch er seine Stellung auf. Gemeinsam 
verzehrten die Beiden die kleinen Ersparnisse Gottliebs und als sie 
damit zu Ende waren — mit den letzten Kreuzern wurde gestern 
Abend noch das Abschiedsmahl beglichen — stürzten sie sich ins 
Wasser. Gottlieb zeigte keine Freude über seine Rettung. Er 
äusserte, dass ihm das Leben ohne den Freund ohnedies 
nicht mehr freue. 



Hannover, 29. Dezember. (Landgericht, Strafkammer Ia.) 
Unter Ausschluss der Oeffentlichkeit wird gegen den Restanratenr 
Martin «Janssen und den Kellnerlehrling Louis Funke von hier wegrn 
widernatürlicher Unzucht verhandelt. Während Funke mit einem 
Verweise davonkommt, wird Janssen mit 4 Monaten Gefängnis 
bestraft. 



„Berüner Morgenpost - vom 17. Oktober 1899 schreibt: Auf 
dem Herrenball. Vor uns liegt ein kleines, weisses Billet, das 
die Worte trägt: „ Einlasskarte zu dem am Freitag, den 13. Oktober 
stattfindenden Kostümfest". Ein liebenswürdiger Freund unsere* 
Blattes hat uns das Billet verschafft, mit dem Bemerken: „doch ja 
teilzunehmen an diesem Kostümfest, auf dem man sich ohne Damen 
amüsiert. 11 So betraten wir denn Freitag Nacht um 11 Uhr den 
großen Festsaal des Hotels r König von Portugal 14 in der Burg- 



— 471 — 



Strasse, um unserer Pflicht als Ball-Berichterstatter Genüge zu leisten. 
Die Lokalitäten sind fast überfüllt. Mehrere hundert Herren im 
eleganten Frackanzug oder im Leibrook stehen oder sitzen in 
•Gruppen umher, vertraulich miteinander plaudernd. Es scheint, als 
ob Alle mit einander intim befreundet sind. Soeben tritt ein neuer 
Ballbesucher ein, der ohne Weiteres von den Anwesenden begrüsst 
wird. Man schüttelt ihm die Hände, einzelne der älteren Herren 
umarmen sogar den hübschen jungen Mann, der mit der Bescheiden- 
heit eines Backfisches die Liebkosungen Jener duldet. Jetzt tritt 
ein anscheinend den oberen Zehntausend angehöriger Herr auf den 
Neuangekommenen hinzu, reicht ihm den Arm und führt ihn zum 
Platz, in genau derselben artigen, saloninässigen Weise, wie der 
betreifende Herr sich in der Gesellschaft einer Dame gegenüber 
benommen haben würde. Jetzt spielt die Musik einen lustigen 
Walzer. Im Nu wirbeln fünfzehn bis zwanzig Paare, natürlich nur 
Herren, durch den Saal. Die Herren, die die Damen markieren, 
sind meistenteils junge Männer im Alter von 20—25 Jahren. Sie 
wiegen sich graziös in den Hüften, spenden nach rechts und links 
kokette Blicke und fächern sich, vom Tanze ermüdet, mit dem 
Spitzentaschentuch Luft zu. Eine Stunde später hat die Gesellschaft 
eine andere Physiognomie angenommen, denn die „Damen" sind er- 
schienen. Wenn wir „Damen" schreiben, meinen wir natürlich 
Herren, die im Damenkostüm, begleitet von Freunden im Frack 
und Chapeau-Claque, den Saal betreten haben. Die betreffenden 
„Damen" benehmen sich genau so, wie ihre Kolleginnen weiblichen 
Geschlechts, artig, dezent und gefallsüchtig. Das „Baby", ein blut- 
junger Bursche, bleibt zaghaft an der Thür des Saales stehen, trotz 
Zuredens ihres Begleiters, eines älteren, vornehm aussehenden Herrn, 
dem man unschwer den gewesenen Militär anmerkt. Trippelnd, die 
Augen niederschlagend, ganz wie ein junges Mädchen, das zum 
ersten Mal einen Ball besucht, schreitet die „Schöne" endlich durch 
den Saal, sofort umringt von einer Anzahl Kavaliere, die ihr ob 
ihres Aussehens die schmeichelhaftesten Komplimente sagen. Viel 
selbstbewusster ist jene elegante, fast königliche Erscheinung, die 
in schwarzseidenem, bis auf den Busen ausgeschnittenen, hoch- 
eleganten Strasse nkleide, auf der blonden Lookenperrücke den 
Reinbrandhut mit wallenden Federn, im Saal erscheint. „Das ist 
die Baronin", flüstert mir ein an demselben TiBch sitzender Herr 
zu. Unter diesem Spitznamen verbirgt sich ein in den Kreisen der 
Männerbälle sehr bekannter Schauspieler, der allabendlich in einem 
Vorstadttheater als jugendlicher Liebhaber die Herzen der Theater- 
besucherinnen entzückt. Einfach „chic" gekleidet sind zwei 



— 472 — 



„Damen", die in Pariser Balltoillete erscheinen. Sie verstehen es, 
sich ihre Bewunderer eine Meile weit vom Halse zu halten. Die 
Konversation mit ihren Anbetern erinnert lebhaft an eine solche, 
wie man sie auf dem Subskriptionsball oder ähnlichen vornehmen 
Vergnügungen zu führen pflegt Jetzt kommt Leben in die Bude. 
Eine Pariser Kokette, von der Grösse eines Garde-Kürassier«, betritt 
den Saal unter allgemeinem Hailoh der Ballbesucher. Die „schöne 
Emilie" — im bürgerlichen Leben der Friseur Emil F. — wirft sich 
lachend einem schneidigen, jungen Kavalier in die Arme und rast, 
während die Musik einen Galopp spielt, mit ihrem Partner mänaden- 
haft durch den Saal. Gegen Mitternacht hat das „schönere männ- 
liche Geschlecht" fast die Majorität erreicht. „Engagieren zum 
Contre", ruft der Tanzmaitre und im Nu haben sich die Paare ge- 
ordnet Im wilden Durcheinander werden die Touren getanzt. 
Während sich die Paare in den Nebensälen verlieren, um zu flirten, 
wird die Kaffeetafel gedeckt. Jetzt beginnt ein „Symposion der 
Freunde", pikante Toaste auf die „Damen" steigen, und noch 
pikantere Vorträge werden gehalten. Dann aber drängt Alles wieder 
stürmisch zum Tanz, eine schneidige Polonaise folgt mit allerhand 
Ueberraschungen. Es ist 2 Uhr morgens geworden, und es wird 
immer voller im Saal. Jetzt ein allgemeines „Hailoh". Die erste, 
wirkliche Tochter Evas ist erschienen. Ihr folgen andere Kolleginnen 
der feineren Demimonde, und nun beginnt ein merkwürdiger Kampf 
zwischen „Damen" und Damen um die Gunst des stärkeren Ge- 
schlechts. Wir müssen gestehen, dass der Sieg auf Seiten der 
„ Herrendamen u verblieb, und dass es zn recht interessanten Rede- 
Duellen zwischen den Nebenbuhlerinnen kam. Erst gegen Morgen 
endete dieser Herrenball, der übrigens im Januar oder Februar 
wiederholt wird. Auch in einem Lokale der Weberstrasse finden 
ähnliche Vergnügungen statt, auf die natürlich die Kriminalpolizei 
ein recht scharfes und wachsames Auge hat. 



Ein Fest ohne Männer. „Ein Fest ohne uns, so was giebt's 
ja garnicht!" rufen die Herren der Schöpfung erstaunt, missbilligend, 
vor allem ungläubig ihren Schnurrbart streichend. Ja, das giebt 
es, meine Herren, aber beruhigen Sie sich, nur alle zwei Jahre ein- 
mal in der Berliner Philharmonie. Zu diesem Abend jedoch rüsten 
sich die Damen mit einem Eifer, einer Leidensehaft, als gälte ea 
eine heilige Sache, die Ehre ihres ganzen Geschlechtes. J)a wird 
gesonnen, gezeichnet, geschneidert und das alles — zum Besten der 
Pensions- und UnterstUtzungskasse des Vereins Berliner Künstler- 
innen, für das Kostümfest der Berliner Künstlerinnen. Da der An- 



— 478 — 



drang zu diesen ebenso originellen wie lustigen Festen stets ein 
ganz ungeheurer ist — man spricht diesmal von 2500 Teilnehmer- 
innen — so hat die Festleitung alle Räume der Philharmonie ge- 
mietet, selbst den Beethovensaal und den grossen, weissen Ober- 
lichtsaal. Der Beethovensaal ist sonst nur der Schauplatz gediegener 
Konzerte, gestern aber produzierte sich in den feierlichen Hallen 
das Spezialitäten-Theater, finden Übermütige, komische Aufführungen 
statt, ja es tanzen hier drei Primaballerinen der Königlichen Hot- 
oper, die dem Festkomitee in liebenswürdigster Weise ihre Mit- 
wirkimg angeboten hatten. Um 8 Uhr beginnt das Fest, aber schon 
lange vorher stehen Hunderte ungeduldiger Füsschen frierend vor 
dem verschlossenen Portale, es ist ein Lachen, Kichern, Zurufen; 
man kann es nicht erwarten, bis unser Fest, das Fest der Damen 
allein, anfängt. Sonst ist es den besorgten und neugierigen Vätern, 
Brüdern, Gatten etc. gestattet gewesen, ihre Angehörigen bis in 
die Garderobe zu begleiten, dort ein wenig von den Herrlichkeiten 
und Schönheiten zu erlugen, zu denen sie als berechtigte Zuschauer 
nicht zugelassen werden, indessen gestern ist auch dies unschuldige 
,,Zaunvergnügen" den Herren verboten worden, und so waren sie 
ganz auf das beschränkt, was sie auf der Strasse zu erhaschen ver- 
mögen. Dort sieht man, wenn die Damen ihren Wagen verlassen, 
eine Menge phantastischer Gestalten, Männlein und Weiblein, denn 
die Hälfte, die starke Hälfte der Damen erscheint in 
Herrentracht. Es reizt sie gerade, sich als Mann zu 
zeigen und zu fühlen, den Hof zu machen, den Schwerenöther 
zu spielen, und die hübschen Fräulein lassen sich das gerade so 
gern gefallen, als wenn der Courmacher ein „wirklicher" Mann 
wäre. Stolz schreiten wir an dem gedrängten, eifrig spähenden 
Aussenpublikum vorbei — wir gehören ja „dazu" — und treten 
ein. Welch' ein Gesumm, welch' ein Lachen und Scherzen! Ich 
behaupte keck, alle zwei Jahre wird einmal die Lustigkeit der 
Berlinerin lebendig, dann aber auch gründlich. Hannlos kamerad- 
schaftlich verkehrt Arm und Reich, die hohe Aristokratin mit der 
einfachen, beim Knnathandwerk beschäftigten Arbeiterin. Und 
darin, in dem Beweise, dass ein solcher vertraulich lustiger Verkehr 
möglich ist, besteht, neben dem klingenden Ertrage, der Wert dieser 
Feste. Es ist noch sehr früh, doch ist der grosse Saal der Phil- 
harmonie schon ganz mit sich begrüssenden Gästen angefüllt. „Ge- 
stalten aus Bildern!" lautete gestern die Parole. Nun, da giebt es 
ein weites Feld, jede konnte genau das Kostüm wählen, das ihr 
steht und zu dem sie sich hingezogen fühlt. Da viele Damen, wie 
erwähnt, in Männertracht erschienen, bietet der Saal kaum ein an- 



— 474 — 



deres Bild als sonst, nur sind die Hände und Fiisse der „Herren* 4 
so klein und zierlich, die Schnurrbarte (wenn sie da sind) so schön 
und regelmässig, weil künstlich, und die Stimmen — ja (pardon 
meine Damen) man kann von Anfang an nicht sein eigenes Wort 
verstehen, in Stimmen also sind die Festgenossinnen sehr gross. 
Um 9 Uhr ordnet sich das Gewirr, der grosse historische Festzug 
beginnt. Voran schreiten Herolde in Renaissancetracht, dann folgen 
£gypter, Apoll und die Musen stellen die griechische Kunst dar, 
Mittelalter und Gothik bilden die Vorläufer der Florentiner und der 
Renaissance. Die Zeit Reinbrandts zieht vorbei, repräsentiert durch 
die Hauptgestalten aus Reinbrandts Bildern, man sieht Saskia mit 
dem nickenden Federhute, den Meister selbst und alle die uns ver- 
trauten energischen Charakterköpfe aus der grossen Kunstepoche 
der Niederlande, tanzende Bauern aus holländischen Kinnesbildern 
sorgen für den Humor im Festzuge. Nun erscheinen in feierlich 
graziösem Schreiten Rococofigürchen, denen das Empire folgt. 
Nicht zu vergessen ist eine Gruppe aus Deutschlands klassischer 
Zeit der Literatur, Goethe, Schiller mit Frau Rath, Lessing und die 
Anderen alle. Sehr anmutig ist der Festzug der Japaner, bei dem 
reizende kleine Geisha-Mädchen Apfelblütenzweige schwingen. Das 
neue Jahrhundert schliest den interessanten, wechselvollen Zug, er 
bringt der Kunstrichtungen viele: Mystizismus, Symbolismus und 
noch mehr der „lsmus u . Als der Zug die Bühne passiert hat, folgen 
historische Tänze. Apoll lässt sich von seinen Musen umgaukeln, 
die Florentiner schreiten einen Reigen, die holländischen Bauern 
tollen und hopsen ganz naturalistisch umher, das Rococo wiegt sich 
im Menuett, Japanerinnen neigen sich im Takte, ihre Blütenzweige 
grüssend schwingend. Alle diese Aufführungen werden mit einer 
Hingebung und einem Eifer aufgeführt, der etwas Elektrisierendes 
hat und die Zuschauerinnen wieder und wieder zu lautem Beifall 
hinreiset. Bald mischen sich die „historischen" Herrschaften von 
der Bühne unter das Publikum, allgemeine Verbrüderung tritt ein. 
es wird umarmt, geküsst, gelacht. In den Nebensälen steht 
das Souper bereit, und als wir uns zum Schreiben zurückziehen, 
sitzt sehon manches Pärchen beim perlenden Sekt Im Beet- 
hovensaale finden, wie oben erwähnt, die Vorstellungen des 
Spezialitäten-Theaters statt. Da wird ein Traum, frei nach Ibsen, 
aufgeführt, ehr impressionistischer Clown produziert sich, und end- 
lich, um 1 Uhr, wird eine Balletszene „Schäfer und Schäferin 14 von 
Königlichen Ballettänzerinnen dargestellt. Ueberall Lustigkeit, 
Grazie, Schönheit — wer hätte so viel Zauber unserem nüchternen 
Berlin zugetraut? 



— 475 — 



Aus dem Sprechsaal des General- Anzeigers. 

Back fisch- Phantasien. 
Es reden und träumen die Menschen gar viel, 
Die Liebe, die sei das schönste Ziel; 
Doch das ist nicht wahr, und folglich erlogen, 
Denn Liebe hat sicher am meisten betrogen. 
Ach, wie ists möglich dann, 
Dass einen Mann ich lieben kann? 
Wir finden 1 » spleenig und verdickt, 
Dass man ihn mit Liebe beglückt. 
Denn er kennt nicht ihren Wert, 
Schätzet nicht den eigenen Herd. 
Täglich er ins Wirtshaus geht, 
Doch die Frau ihn bittet, fleht:* 
Er möchte doch zu Hause bleiben, 
Sie müsse sich die Zeit vertreiben 
Mit Strümpfe stopfen, Wäscheflicken, 
Und so was solle die Frau beglücken V 
Such' nicht beim Mann die wahre Lieb', 
Sie ist der Frauen Herzenstrieb. 
Warum muss es ein Mann denn sein, 
Genügen wir uns nicht allein? 
Auch wir haben einst gedacht, 
Es gab' Liebe, die uns glücklich macht, — 
Vorbei ist alle Schwärmerei, 
Und uns're Herzen sind alle frei. 
Wenn einstmals kommt ein falscher Mann, 
Und lügt mit Schmeichelei uns an, 
Und sagt, er liebe uns gar sehr, 
So glauben wir ihm nimmermehr 
Es war* viel schöner auf der Welt, 
Gäbs keine Männer und kein Geld. 

Lustige Backfische. 



Ein weiblicher Hamlet, Mdme. Derigny, debütierte, wie 
uns aus Paris berichtet wird, am gestrigen Tage in den Bouffes du 
Nord. Die Künstlerin, die ähnlich wie Felicitas Vestvali und später 
Madame Judith in Männerrollen exzelliert, begann ihre Tournee in 
die Provinzen mit der gestrigen Matinee, die mit Beifall seitens der 
zahlreichen Zuhörerschaft aufgenommen wurde. 



— 476 — 



Aus der Blütezeit der Beziehungen Richard Wagners zu 
Ludwig II. stammt ein Schreiben des Königs an den Meister, das 
die „Wage" mitteilt. Das enthusiastische Schreiben des Königs 
lautet: 

„Mein Inniggeliebter! 

Eben erfuhr ich durch Pfistermeister, dass Sie wieder völlig 
hergestellt sind. 0, mit welchem Freudenjubel begrüsste ich diese 
Kunde. Wie brenne ich vor Sehnsucht nach ruhigen, weihevollen 
Stunden, die es mir vergönnen werden, das langentbehrte Antlitz 
des Teuersten der Erde wiederzusehen. Also Semper entwirft 
den Plan zu unserem Heiligtume. Die Darsteller für das Drama 
werden herangebildet. Brünnhilde wird bald errettet werden, 
durch den furchtlosen Helden. 0, alles, alles ist im Gange. Was 
ich geträumt, gehofft und ersehnt, wird nun bald in das Leben 
treten, der Himmel steigt für uns auf die Erde hinab. 0 Heiliger, 
ich bete dich an! 

Also Tristan, hoffentlich im Mai! 

0 sel'ger Tag, wenn der ersehnte Bau vor uns sich erheben 
wird, sel'ge Stunden, wenn dort Ihre Werke vollkommen zur 
That werden. „Wir werden siegen," riefen Sie mir zu in Ihrem 
letzten teuren Schreiben. „Ja, wir werden!" rufe ich froh- 
lockend zurück. Nicht umsonst werden wir gelebt haben. Ihnen 
Dank, Heil! 

Ihr bis in den Tod getreuer Ludwig. 
5. Jänner 1865. 



Die Kölnische Zeitung schreibt: Eine Erpressungsquelle müssen 
wir auch in der recht unglücklichen Fassung erblicken, welche die 
Strafvorechrift über die wissentliche Verbreitung gewisser Krank- 
heiten erhalten hat; sie wird in der Praxis vorzugsweise von Dirnen 
zu schamlosen Erpressimgsversuchen benutzt werden. Wenn man 
sich daran erinnert, in welchem Umfange ein anderer Paragraph 
des Stragesetzbuohs, § 175, der Ausnutzung für die niederträchtigste 
Erpressung dient — an Hand der strafstatistischen Ergebnisse lässt 
sich dies allerdings nicht nachweisen, weil die Opfer dieser Er- 
pressungen meist nicht den Mut haben, sich an die Staatsanwalt- 
schaft und damit an die Oeffentlichkeit zu wenden — , so kann man 
nur mit Schrecken an die Wirkungen denken, welche diese Vor- 
schrift haben wird. Der Staat muss über manche Unsittlichkeit 
hinwegsehen, weil die Nachteile, die aus ihrer Beachtung hervor- 
gehen würden, bei weitem grösser wären, als die mit ihrer gericht- 
lichen Ahndung verbundenen rechtlichen und ethischen Vorteile. 



— 477 — 



Diese Grandwahrheit scheint man in der Kommission ans einem an 
sich sehr löblichen Eifer nicht genügend beachtet zu haben; sonst 
hätte man gewiss von der Aufnahme dieser Vorschrift abgesehen, 
die Strafprozesse in Aussicht stellt, wie sie unangenehmer nicht 
gedacht werden können. Es ist bedauerlich, dass die Kommission 
sich nicht auf das beschränkt hat, was zur Zeit jedenfalls als das 
Notwendigste und Wichtigste auf diesem Gebiete zu bezeichnen 
ist, nämlich auf die Verschärfung der Strafbestimmungen über die 
Kuppelei und den Zuhälterparagraphen; hierdurch wäre wohl auch 
den verbündeten Regierungen die Zustimmung wesentlich erleichtert 
worden. 




Erster ^nhang. 

In seiner ordentlichen Sitzung vom 1. Januar 1900 
beschlose das unterzeichnete Komitee folgenden: 

Aufruf. 

Sehr geehrter Herr! 
Im Jahre 1897 bildete sich das „Wissenschaftlich- 
humanitäre Komitee*, welches es sich [zur Aufgabe setzte, 
auf Grund der Selbsterfahrung von Tausenden und sicher 
gestellter Forschungsergebnisse Klarheit darüber zu 
schallen, dass es sich bei der Liebe zu Personen gleichen 
Geschlechts, der Homosexualität, um eine Naturerscheinung* 
handelt, und dafür zu arbeiten, dass der § 175 E.-Str.- 
G.-B., dessen blosser Bestand für jeden conträrsexuell 
Empfindenden, auch wenn er sich tadellos fuhrt, eine 
fortgesetzte Beschimpfung und Beschuldigung bildet, ab- 
geschafft wird. Dieses Gesetz hat zwar noch keinen 
Konträrsexualen von seinem Triebe befreit, wohl aber 
sehr viele brave und nützliche Menschen, die von der 
Natur mehr als genug benachteiligt sind, ungerecht in 
Schande, Verzweiflung, ja Irrsinn und Tod gejagt, selbst 
wenn nur ein Tag Getängnis — in Deutschland das 
niedrigste Strafmaass für diese Handlung — festgesetzt 
oder selbst wenn nur eine Voruntersuchung eingeleitet 
wurde. 

Das unterzeichnete Komitee hat zur Erreichung seines 
Zweckes eine umfassende Thätigkeit entfaltet. Es hat eine 



— 479 — 



Petition an die gesetzgebenden Körperschaften in Umlauf 
gesetzt, welche die Beseitigung jener verhängnissvollen 
Strafbestimmungen, die ein in seiner Art einzig da- 
stehendes Erpressertum züchteten, bezweckte. Diese von 
nahezu 1000 unserer ausgezeichnetsten Gelehrten und 
Künstler unterzeichnete Eingabe hat sowohl in pleno 
als auch in den Commissionen des Reichstags wiederholt 
zu lebhaften Erörterungen Anlass gegeben. Nachdem 
man im ersten Jahre Uebergang zur Tagesordnung be- 
schlossen, hat man nach einer weiteren lebhaften Auf- 
klärung bei der vorjährigen Beratung entschieden, die 
Petition in Gemeinschaft mit einer auf den bisherigen 
Vorurteilen beruhenden Gegeneingabe, welche übrigens 
nur sehr wenige bedeutende Namen aufwies, der Regierung 
als Material zu überweisen. Das Komitee hat sich 
mit einer Anzahl von Abgeordneten persönlich und 
schriftlich in Beziehungen gesetzt, es hat die Eingabe 
zum Teil nebst Schriftenmaterial an sämtliche deutschen 
Bundestürsten, Justizministerien, Anwaltskammern, Staats- 
anwälte, Medizinalräte, wie an tausende von Professoren, 
Richtern, Aerzten und Geistlichen gesandt. 

Es hat die öffentliche Meinung weiter aufzuklären 
gesucht, indem es fast allen grösseren Zeitungen Material 
über das Wesen der gleichgeschlechtlichen Liebe zugehen 
liess, und wenn auch nur wenige darauf direct eingingen, 
so bewirkte es doch, dass man bei aus § 175 vorkommenden 
Verhaftungen und Verhandlungen eine bedeutend mildere 
Sprache fahrte, wie früher. 

Das Komitee hat ferner ein „Jahrbuch für sexuelle 
Zwischenstufen*' herausgegeben, welches sich die all- 
seitige Erforschung der Homosexualität zur Aufgabe setzte, 
und hat für dieses Werk die Mitarbeiterschaft namhafter 
Autoren und das Interesse ausgedehnter Kreise gewonnen. 

In jedem Falle, wo wir von gerichtlichen Verwicke- 



— 480 — 

lungen Homosexueller erfuhren, haben wir sämtlichen be- 
teiligten Richtern, Staatsanwälten Verteidigern und Sach- 
verständigen aufklärendes Material übersandt, wir haben 
mehrfach Urninge, die sich an uns wandten, aus den 
Händen ihrer Erpresser befreit, indem wir letztere den 
Gerichten übergaben, ohne dass den unglücklichen Opfern 
Unannehmlichkeiten erwuchsen, wir haben auch wieder- 
holt auf Wunsch von Urningen deren Angehörige auf- 
geklärt 

Unser Hauptziel rauss es bleiben, dass der ver- 
hängnisvolle § 175 nicht wieder in das Strafgesetzbuch 
aufgenommen wird, dessen Revision für die nächsten 
Jahre in sicherer Aussicht steht Um das zu erreichen, 
bedarf es noch eines rastlosen Kampfes gegenüber er- 
erbten Vorurteilen und mangelnder Sachkenntnis. Wie 
jeder Kampf, erfordert auch dieser Mittel. Die bis- 
herigen, von einigen wenigen hochherzigen Männern ge- 
spendeten, sind erschöpft. Eine weitere erspriessliche 
Thätigkeit in dem geschilderten Sinne kann nur entfaltet 
werden, wenn Geldmittel in grösserem Umfange als bis- 
her zur Verfügung gestellt werden. 

Mit diesem Aufruf treten wir an jeden, der will, 
dass ein nicht mehr erträgliches Unrecht aufhört, mit der 
dringenden Bitte heran, durch feste Jahresbeiträge einen 
Fonds zur Befreiung der Homosexuellen zu schaffen, 
mit dem wir rechnen und arbeiten können. Einige 
Herren haben damit begonnen, ein Herr aus Köln, der 
pro Jahr 300 Mk., einige andere, die Beträge zwischen 
20 und 100 Mk. zeichneten. Jeder Zeichner wird das 
Jahrbuch gratis erhalten, in welchem dem Geber unter 
discreter Bezeichnung Quittung geleistet sowie über die 
Verwendung der Gelder Nachweiss geführt werden wird. 
Unterstützen Sie, helfen sie bei dieser Kulturthat, wie 
sie einer unserer ersten Schriftsteller nannte, damit diese 



— 461 — 



Verfolgungen und Verkennungen, diese Untersuchungen 
und „ Selbstmorde aus unbekannten Gründen" aufhören, 
welche die Nachwelt einst in das traurigste Kapitel der 
Menschheitsgeschichte einreihen wird. Die Beiträge nimmt 
der Unterzeichnete entgegen. 

Mit grösster Hochachtung 

Das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee. 

I. A. Dr. med. M. Hirschfeld, 

Arzt in Charlottenburg, Berlineretrasse 104. 



Zweiter Anhang. 

III. Abrechnung/) 



Für den Fonds zur Befreiung der Homosexuellen 

gingen bei dem wissenschaftlich-humanitären Comite" ein: 



1899 








Mk. 


April 12. Cassa-Bestand 


4.45 


„ 19. Spende 


von 


Dr. B. in L. . . . . 


. 20.— 


Mai 3. 


ff 




K. H. in E 


. 10.— 


, 17- 


» 


» 


C. W. in D 


2.80 


, 26. 


* 




Anonym aus V. . . . 


5.— 


Juni 27. 


* 


» 


E. W. H. in L. . . . 


5.— 


Juli 1. 


ff 


» 


G. R in L 


. 3.— 


» 2. 


n 


* 


G. R. in L 


2.65 


. 7. 


ff 




C. W. in D 


. 5.— 


, 8. 


* 


« 


C. M. in N 


8.40 


, 20. 


* 


n 


P. F. 0 


. 15.— 


» 24. 


ff 


9 


M. G. in G 


3.— 


. 31. 


* 


ff 


F. R. in D 


. 50.— 


. 31. 


* 


W 


Anonym aus V. . . 


5.— 


August 19. 


n 


» 


K. H. in E 


. 20.— 


, 19. 


* 


11 


G. F. in W 


1.45 


, 28. 


n 


9 


E. R. in K . 


. 20.— 


, 29. 


n 


ff 


Numa Praetorius . . 


. 100.— 


• 29. 


n 


ff 


B. R. in M 


. 14.70 


, 29. 


» 


ff 


W. S. in M 


. 20.— 


, 29. 


n 


ff 


Dr. M. M. in Köln . . 


. 15.— 



Transport 330.45 



*) Die letzte Abrechnung befindet sieh im I. Jahrgange des 
„ Jahrbuchs für sexuelle Zwischenstufen". Diese Abrechnung 
sohliesst mit dem 31. Dezember 1899 ab, einige Betrüge bu ganz 
speziellen Zwecken sind nicht aufgeführt. 



— 483 - 



Transport 330.45 

Septbr. 7. Spende von sub. ,25 A. P." . . . 10.— 

„ 13. - , „Dr. M. M. in Rom . . 10.— 

„ 14. „ ., sub. „R, S. 123" in Köln 300.— 

, 22. , „ G. H. in G 9.50 

, 26. , , Dr. F. in C 20.- 

, 29. , „ G. H. in G 10.— 

Oktober 2. , , B. L. in München . . 1.30 

2. , „ O. in H 25.— 

4. „ , C. W. in D 5.— 

„ 11. , „ H. H. d. Numa Praetorius 5. — 

, l.u.fr. , „ Soh. in B. • 40.— 

Novemb. 2. „ , C. C. S. in H 10.90 

6. , , F. B. in B 20.80 

6. , , P. S. in M 10.— 

„ 20. , » F. J. in Florenz . . . 45.— 

, 28. „ „ D. in S. 25.— 

Dezemb. 1. , „ P. O. in Berlin . . . 25.— 

„ 7. „ „ S. R. in K 5. — 

, 12. , „ E. W. H. in L. ... 5.— 

„ 23. , , K. in Dortmund . . . 15. — 

Einnahmen Sa. Mk. 927.95 
13./4. 1899 bis 5./3. 1900 Ausgaben der Geschäfts- 
stelle in Leipzig für Druckarbeiten, 
Schreiberlohn , Litteraturbeschafiung, 
Porti, Papier, Reisespesen 466.95 
13./4.1899bi8 5.,3.1900 Ausgaben der Geschäfts- 
in Berlin für Fertigstellung und Ver- 
sandt von 7500 Fragebogen an Geist- 
liche, Porti, Schreibgebühren, Propa- 
ganda etc. 461. — 

Ausgaben Sa. Mk. 927.95 



Verlag von Max Spohr in Leipzig. 



Aurelius, Rubi. Novelle M. 3.— 

Carpenter, Eduard. Die homogene Liebe und deren 

Bedeutung in der freien Gesellschaft. M. 1.20 

Ein Weib? Psychologisch-biographische Studie über eine 

Konträrsexuelle. M. 4. — 

Ellis und Simonds, Das konträre Geschlechtsgefühl. 

M. 6.— 

Ellis, Havelock, Mann und Weib. Anthropologische und 
psychologische Untersuchung der sekundären Ge- 
schlechtsunterschiede. M. 7. — 

Eros vor dem Reichsgericht. Ein Wort an Juristen, 
Mediziner und gebildete Laien zur Aufklärung über 
die „griechische Liebe". Von einem Richter. M. 1. — 

Frey, Ludwig. Der Eros und die Kunst. Ethische 
Studien. M. 6.— 

— Die Männer des Rätsels und der Paragraph 175 des 

deutschen Reichsstrafgesetzbuches. Ein Beitrag zur 
Lösung einer brennenden Frage. M. 4. — 

Grabowsky, Dr. med. Norbert, Die verkehrte Geschlechts- 
empflndung oder die mannmännliohe und weibweib- 
liche Liebe. Dritte Aufl. M. 1.20 

— Die mannweibliche Natur des Menschen mit Be- 

rücksichtigung des psychosexuellen Hermaphroditis- 
mus. M. 1. — 

Grobe, Dr. Melchior. Der Urning vor Gericht. Ein 
forensischer Dialog. M. — .50 

Halm, M. Die Liebe des Uebermenschen. Ein neues 
Lebensgesetz. M. 1. — 

Hartmann, O. O. Das Problem der Homosexualität im 
Lichte der Schopenhauer'schen Philosophie. M. 1. — 

Hermann, Hans. Die Schuld der Väter oder Ist die 
gleichgeschlechtliche Liebe eine Sünde? M. 2. — 

Hirschfeld, Dr. med. M. Die homosexuelle Frage im 
Urteile der Zeitgenossen und der Paragraph 175 des 
Reichsstrafgesetzbuchs. M. 1.50 

Ist -freie Liebe" Sittenlosigkeit? Vom Verfasser des 
Buches »Der Konträrsexualismus inbezug auf Ehe 
und Frauenfrage 14 . M. 2. — 

Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen unter besonderer 
Berücksichtigung der Homosexualität. Herausgegeben 
unter Mitwirkung namhafter Autoren vom wissen- 
schaftl.-humanitären Komitee. I. Jahrg. M. 5.— 



Verlag von Mnx Spohr in Leipzig- 



Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen. II. Jahrg. M. 7. — 
de Joux, Otto. Die Enterbten des Liebesglückes oder 
Das dritte Geschlecht. IL Aufl. M 4.— 

— Die hellenische Liebe in der Gegenwart. Psycho- 

logische Studien. Mit dem Portrait des Verfassers. 

M. 4.— 

Karsch, Privatdozent Dr. F., Tribadie und Päderastie 
bei den Tieren. M. 1. — 

Der Konträrsexualismus inbezug auf Ehe und Frauen- 
frage. M. —.80 

Laster oder Unglück? Oder besteht der § 175 des 
deutschen Reichstrafsgesetzbuches zu Recht? Eine 
Gewissensfrage an das deutsche Volk von einem 
Freunde der Wahrheit. M. 1.20 

Laurent Dr. Emil, früher Arzt im Hauptkrankenhauee der 

Pariser Getängnisse. Die krankhalte Liebe. Eine 
psycho-pathologische Studie. M. 4. — 

— Die Zwitterbildungen. Gynäkomastie, Feminismus, 
Hermaphroditismus. M. 5. — 

Petition an die gesetzgebenden Körperschaften des 
deutschen Reichs mit nahezu 1000 Unterschriften 
bekannter Persönlichkeiten. M. — .25 

Ramien, Dr. med. Th. Sappho und Sokrates oder Wie 
erklärt sich die Liebe der Männer und Frauen zu 
Personen des eigenen Geschlechts? M. 1. — 

Sero, Os. Der Fall Wilde und das Problem der Homo- 
sexualität. Ein Prozess und ein Interview. M. 1.50 

Der Roman eines Konträr-Sexuellen. Mit einer Ein- 
leitung: Der Uranismus von Maro- Andr^-Raffalo witsch. 
Autorisierte Ausgabe von Wilhelm Thal. M. 1.80 

Ulrichs, Karl Heinrich, (Numa Numantius). Vindex. 
Sozial-juristische Studien über mannmännliche Ge- 
schlechtsliebe. M. 1. — 

— Inclusa. Anthropologische Studien über mannmänn- 

liche Geschlechtsliebe. M. 1.50 

— Vindicta. Kampf für Freiheit von Verfolgung. 

— Formatrix. Antropologische Studien über urnische 

Liebe. M. 1.50 

— Ära spei. Moralphilosophische und sozialphilosophische 

Studien über urnische Liebe. M. 2. — 



Verlag von Max Spohr in Leipzig. 



Ulrichs, Karl Heinrichs, Gladlus furens. Das Natur- 
rätsel der Urningsliebe und der Irrtum als Gesetz- 
geher. M. 1. — 

— Memnon. Die Geschlechtsnatur des mannliebenden 

Urnings. Körperlich-seelischer Hermaphroditismua. 

— Incubus. Urningsliebe und Blutgier. M. 1.50 

— Argonauticus. Zastrow und die Urninge des pietist- 

ischen, ultramontanen und freidenkenden Laders. 

— Prometheus. Beiträge zur Erforschung des Natur- 

rätsels des Uranismus und zur Erörterung der sitt- 
lichen und gesellschaftlichen Interessen des Urning- 
tums. M. 1.50 

— Araxes. Ruf nach Befreiung der Urningsnatur vom 

Strafgesetz. M. 1. — 

— Kritische Pfeile. Denkschrift über die Bestrafung 

der Urningsliebe. M. 2. — 

Ton Wächter, Theodor, Ein Problem der Ethik. Die 
Liebe als körperlich-seelische Kraftübertragung. 

M. 2.40 

Wilpert, James, Das Recht des dritten Geschlechts. 

M. 1.— 

Ferner empfohlen: 

Erkelenz, Dr., Strafgesetz und widernatürliche Unzucht 

M. 1.— 

Guttzeit, Joh., Naturrecht oder Verbrechen? M. 1.20 
Knifft-Ebing, Professor Dr., Psychopathia sexualls. 
10. Aufl. M. 9.— 

— Neue Forschungen auf dem Gebiete der Psycho- 

pathia sexualls. 2. Aufl. M. 3.60 

— Der Konträrsexuale vor dem Strafrichter. M. 3.— 
Moll, Dr. Albert, Die konträre Sexualempfindung. 

3. Aufl. M. 10.— 

— Libidio sexualls. 2 Bände. M. 18.— 
Raffalorlch, Marc Andr6, Die Entwlckelung der Homo- 
sexualität M. 1.20 



Im Verlage von Max Spohr in Leipzig erschien: 



Bibliothek 

für 

Sozial'Wissenschaften 

mit besonderer Rücksicht auf 

Soziale Anthopologie und Pathologie. 

In Gemeinschaft mit 

Havelock Ellls, Enrico Ferri, Cesare Lomhroso, Gast. H. Schmidt, 
Galseppe Sergl a. Werner Sombardt. 

Herausgegeben von 

Dp. HANS KURELLA. 



fid 1. Die Vererbung« Psychologische Untersuchung ihrer Go- 
setzu, Ethischen and Sozialen Konseqnenzen von Th. Bibot. 

Preis 10 Mk., geb. 11 Mk. 25 Pfg. 

ßd. 2. Natürliche Auslese und Rassenverbesserung 
von John B. Haycraf t. Preis 6 Mk., geb. 6 Mk 25 Pfg. 

Bd. 3 Mann undWeib 9 anthropologischen, psychologische Unter- 
suchung der sekundären Geschlechtsunterschiede von Havelock 
Ellis. PreiB 7 Mk., geb. 8 Mk. 25 Pfg. 

Bd. 4. Verbrecher und Verbrechen von Havelock Ellis. 

Preis 5 Mk., geb. 6 Mk. 25 Pfg. 

Bd. 5. Sozialismus und moderne Wissenschaft von 
Enrico Ferri. Preis 1 Mk 50 Pfg., geb. 2 Mk 75 Pfg. 

Bd. 6. Die Zwitterbildungen 9 Gynftkomastie, Feminismus, Herma- 
phrodismus von ÜSmile Laurent. Preis 6 Mk., geb. 6 Mk. 25 Pfg. 

Bd. 7. Das konträre Geschlechtsgefuhl von Havelotfk 
Ellie und J. A. Symonds. Preis 6 Mk., geb. 7 Mk. 25 Pfg. 

Bd. 8. Das Verbrechen als soziale Erscheinung. Grund- 
züge der Kriminal-Soziologie von Enrico Ferri. Preis 7.50 Mk., 

geb. 8 Mk. 75 Pfg. 

Bd. 9. Die Marxistische Sozialdemokratie von Max 

Lorenz. Preis 3 Mk. 50 Pfg, geb. 4 Mk. 75 Pfg. 

Bd. 10. Demokratie und Sozialismus von Julius Platter. 

Preis 4 Mk. 50 Pfg., geb. 5 Mk. 75 Pfg. 
Bd. 11. Englische Sozial-Reformer. Herausgegeben von 
M. Orunwald. Preis 3 Mk , geb 4 Mk. 25 Pfg. 

Bd. 12. Allgemeine Epidemiologie von Adolf Gottstein. 

Preis 6 Mk. 50 Pfg., geb. 7 Mk. 76 Pfg. 
Bd. 13. Dor Alkoholismus nach Wesen, Wirkung und Verbreitung. 
Von Alfred Grotjahn. Preis 6 Mk., geb. 7 Mk. 25 Pfg. 



Verlag von Max SpOhr in Leipzig. 



Jahrbuch 

für sexuelle Zwischenstufen 

unier 

besonderer Berücksichtigung der Homosexualität, 

herausgegeben 
unter Mitwirkung 
namhafter Autoren vom wissenschaftlich humanitären 
Comitöa in Leipzig und Berlin. 
I. Jahrgang. 
Preis broschiert 5 Mk., ele^. geb. 6.50 Mk. 
Das Werk enthält : 

Die objektive Diagnose der Homosexualität mit wertvollen Urnings- 
Photographien und einem Enquetbogen von Dr. med. Hirschfeld- 
Charlottenburg. 

Vier Originalbriefe von Karl H- Ulrichs an seine Verwandten, 
die hier zum ersten Male veröffentlicht werden. 

Einen Artikel von Ludwig Frey über das Erpressertum. 

Eine Abhandlung über die Gesetzesbestimmung gegen Urninge 
vom Attertum bis zur Neuzeit aus der Feder eines hervorragenden 
Juristen. 

Auazuge aus den Tagebüchern des Grafen August von Platen» 
Von philologischer Seite eine mehrere hundert Buchtitel um- 
fassende Bibliographie der Homosexualität. 

Ferner die Petition an die gesetzgebenden Körperschaften des 
deutschen Reichs mit nahezu 1000 Unterschriften bekannter Per- 
sönlichkeiten, sowie die bisher sich daran anschliessenden Reiche- 
ltagsverhandlungen laut stenographischen Berichten. 

Endlich die Abrechnung des Fonds zur Befreiung der Homosexuel I en. 
Dieser vielseitig Inhalt z*i#t wohl zur UenlijEre, wie bochhedeut- 
sam und hochinteressant dieses Werk ist. Es wendet «ich nieht nur 
an die akademischen Kreist, sondern an alle, denen das Goethe»*? hü 
Wort: „Das hoch Ate Wtudiuni der Menschhait ist der Mensch" ein 
Wahrwort ist, vor allen aueh an die konträrsexuellen Männer und 
Kranen selbst. 

Das Jahrbuch erscheint auf Veranlassung des Wissenschaft lich- 
hu man itareu (Komitees, das sich im Mai 1897 zu Berlin und Leipzig 
konstituierte, und im Sinne der fortgeschrittenen wissenschaftlichen Er- 
kenntnis für die Abschaffung des Ummgsparagraijhcn thatig zu sein- 



Druck von CK Reichardt, Groitzsch,